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Visionär und Realist zugleich

Eigentlich wollte Al Gore US-Präsident werden wollte. Aber als Dalai Lama des Klimaschutzes lebt es sich bestimmt auch nicht schlecht. Sein jüngstes Buch zeigt erneut: Al Gore ist ein begnadeter Erzähler.

Von Mirko Smiljanic |
    Al Gore ist ein begnadeter Erzähler: ein Politiker, der komplizierte Zusammenhänge einfach und trotzdem korrekt beschreibt; ein Visionär, der das in zwei Jahrzehnten abgenutzte Thema "Umwelt" emotional neu besetzt; ein Realist, der, gestählt im politischen Alltagsgeschäft, alle medialen Verführungskünste kennt und einsetzt. Sein Buch "Wir haben die Wahl – Ein Plan zur Lösung der Klimakrise" spiegelt alle Facetten wider, die des Erzählers ebenso wie die des Verführers. Auf den ersten Blick präsentiert Al Gore ein Bilderbuch mit prächtig gestaltetem, aufklappbarem Cover: außen die heile Erde aus der Weltraumperspektive; innen, retuschiert, wie sie bei gleichbleibender Klimaerwärmung demnächst aussieht: verwüstet. Die Texte werden von vielen Hundert Fotos und Grafiken illustriert, schon das Blättern durch die 416 Seiten ist ein ästhetischer Genuss. Mitten drin bringen farbig abgesetzte Zitate in Großbuchstaben wichtige Informationen auf den Punkt. Eindringlich. Der Leser merkt: Al Gore meint es ernst!

    Ich nehme Himmel und Erde heute über euch zu Zeugen: Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt; damit Du das Leben erwählst und am Leben bleibst, Du und Deine Nachkommen.
    5. Buch Mose, Kapitel 30, Vers 19 – auch religiöse Anspielungen nutzt Al Gore mit leichter Hand und treibt so den Konflikt auf die Spitze: Entweder wir treffen die richtige Wahl oder wir gehen zugrunde! Die Zeit der Kompromisse sei endgültig vorbei, zu gewaltig die Ausmaße des Problems.

    Die Bürger der Vereinigten Staaten warfen in nur zehn Jahren so viele Aluminiumdosen weg, dass man damit die gesamte zivile Luftflotte der Welt 25-mal nachbauen könnte.
    Bevor der Leser seine Wahl trifft, liefert Gore in 18 Kapiteln Informationen über alle wichtigen Aspekte des Umweltschutzes. Und die sind breit gestreut: Er schreibt über den Umfang der Krise und über Energiequellen, über lebende Systeme wie Wälder, Boden und Bevölkerung, über Luftverschmutzung und Biotreibstoff, über die demografische Entwicklung und den Kampf gegen Zigaretten, über Werbung und Aktienhandel – kaum ein Thema bleibt unberührt. Und als Vertreter der Hightech-Nation Nummer 1 zeigt er, dass die digitale und die ökologische Revolution Hand in Hand gehen.

    Eine besonders nützliche IT-Anwendung zur Reduzierung der Treibhausgase ist wahrscheinlich der zukünftige Einsatz günstiger Halbleiter und "eingebetteter Systeme" in Maschinen zur Optimierung der Energieeffizienz. Beispielsweise laufen Industriemotoren aller Größen oft mit einer konstanten Geschwindigkeit, obwohl die Arbeitslast schwankt; würde man die Drehzahl ständig und in Echtzeit an die tatsächliche Arbeitslast anpassen, könnte man große Energiemengen einsparen.
    Al Gore liefert eine Fülle von Beispielen, was im technischen Umweltschutz heute möglich ist. Vom Elektroauto bis zur klimaschonenden Landwirtschaft, von nachwachsenden Rohstoffen bis hin zur Kraft-Wärme-Kopplung. Es ist eine Bestandsaufnahme der aktuellen Forschung, wer das Buch gelesen hat, ist für fast alle Diskussionen rund um den Umweltschutz gewappnet. Und er lernt – das ist nicht neu, in der aktuellen Diskussion aber wichtig – dass im Umweltschutz Profite zu erwirtschaften sind.

    Wir waren angenehm überrascht, dass so viele Änderungen sich nicht nur als preisgünstig, sondern auch als profitabel erwiesen.
    Eigentlich ist alles ganz einfach: Es gibt umweltfreundliche Techniken und es gibt erneuerbare Energien. Sind sie erst einmal flächendeckend installiert – das heißt für Al Gore: weltweit! – entstehen nur noch Kosten für Betrieb und Unterhalt. Im Gegensatz zu den fossilen Energieträgern gebe es Wind, Sonne und Erdwärme umsonst – praktisch ohne Mengenbegrenzung. Leider ist es dann eben doch nicht so einfach: Schon der Versuch, Industrienationen und Schwellenländer wie Indien und China auf verbindliche Umweltstandards festzulegen, scheiterte bisher regelmäßig. Soll die Klimakrise gemeinsam – das heißt global – gemeistert werden, muss sich die Denkweise ändern.

    Mittlerweile wird immer deutlicher, dass die Probleme bei der Bewältigung der Klimakrise auch auf unser individuelles und kollektives Denken zurückzuführen sind. Warum schaffen wir es nicht, gegen diese tödliche Bedrohung anzugehen? Überall auf der Welt schieben wir das Problem vor uns her, anstatt es anzugehen. Liegt das an der Art, wie der Mensch Informationen verarbeitet und Entscheidungen trifft?
    Tatsächlich gibt es große Unterschiede zwischen der allgemein akzeptierten Vorstellung von unserer Entscheidungsfindung und der Art, wie wir wirklich Entscheidungen treffen. In sich logisch und vernünftig sind Entscheidungen eher selten. Auch dieses Problem müsse man lösen, sagt Gore, und zwar schnell. Viel Zeit habe die Menschheit nicht mehr.

    Unser wunderbarer Planet wirkt aus dem Weltraum wie der Garten Eden der ganzen Menschheit. Während unserer Lebenszeit erwarben wir, zunächst, ohne es zu bemerken, das Wissen und die Macht zu seiner Zerstörung. Die Frage war für uns damals und ist für uns heute, ob wir die nötige Klugheit und Selbstbeherrschung aufbringen, um eine solche Entwicklung zu vermeiden. Die Wahl ist Ehrfurcht gebietend und potenziell für die Ewigkeit. Sie liegt in den Händen der heutigen Generation. Es ist eine Entscheidung, um die wir uns nicht drücken können, um eine Wahl, die von allen noch kommenden Generationen betrauert oder gefeiert werden wird.

    Al Gore: Wir haben die Wahl. Ein Plan zur Lösung der Klimakrise. Erschienen bei Riemann, 416 Seiten kosten 21 Euro 95 (ISBN 978-3570501153). Unser Rezensent war Mirko Smiljanic.