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Visionen statt Horrorszenarien im Klimaschutz

Dem Gefühl der Resignation angesichts eines nur mühsam vorankommenden Klimaschutzes wollen Harald Welzer und Klaus Wiegandt "Perspektiven einer nachhaltigen Entwicklung" entgegen setzen. Ein Buch, das den Leser mit Fakten erschreckt, aber auch die Kraft für Veränderungen zu erwecken vermag.

Von Rainer Kühn | 15.08.2011
    Wie sieht die Welt im Jahr 2050 aus?" Damit beschäftigen sich Harald Welzer und Klaus Wiegandt in ihrem Buch "Perspektiven einer nachhaltigen Entwicklung". Mit dieser Frage haben die beiden Herausgeber sich wahrlich viel vorgenommen:

    Um die Zivilgesellschaften wach zu rütteln, müssen wir einerseits ein realistisches Bild vom schier unersättlichen Ressourcen- und Energieverbrauch zeichnen. Andererseits müssen wir gleichzeitig die gute Botschaft vermitteln, dass eine nachhaltigere Welt von morgen mehr und neue Lebensqualität bringen kann.

    Für ihr Buch versammeln die beiden Herausgeber 13 Aufsätze, die sie als "konkrete Utopien" bezeichnen. Ein vom Philosophen Ernst Bloch ohne Verweis entliehener Begriff. Er zielt darauf ab, Fantastereien zu trennen von dem, was zukünftig auf Grundlage heutiger Daten erwartet werden kann. In diesem Sinne haben Welzer/Wiegandt

    …renommierte Wissenschaftler gebeten, konkrete Utopien zu entwerfen, wie eine nachhaltige Nahrungsmittelversorgung, eine nachhaltige Mobilität, eine nachhaltige Governance etc. im Jahr 2050 tatsächlich aussehen können.

    Natürlich ist es Unsinn, wissenschaftlich vorhersagen zu wollen, wie die Welt in knapp 40 Jahren "tatsächlich" aussieht. Aber es geht den Herausgebern eigentlich auch um etwas anderes. Wir bräuchten nämlich, so Welzer und Wiegandt:

    …Bilder und Geschichten über die Attraktivität einer nachhaltigen Welt, um Menschen für eine Änderung ihres Lebens und ihrer kulturellen Praktiken zu begeistern.

    Mitreißende Visionen statt demotivierender Horrorszenarien! Das ist mit Blick auf den Herausgeber Harald Welzer erstaunlich. Denn der Kulturwissenschaftler und Sozialpsychologe posierte zuletzt oft mit erhobenem Zeigefinger: Die Fakten zur Lage des Globus sprechen für sich! Wer jetzt noch immer nicht mitmacht beim Klimaschutz, dem ist nicht mehr zu helfen - so sein Credo. Jetzt heißt es in der Einführung: Frühere Vorstellungen seien davon ausgegangen,

    …dass die Einsicht in falsches Verhalten schon den Keim für ein anderes, besseres Handeln in sich trage. Aber diese Annahme ist falsch.

    Vielleicht hat ja der zweite Herausgeber, Klaus Wiegandt, auf dieser Ausrichtung des Bandes beharrt. Mit 60 Jahren verließ er die ökonomischen Top-Etagen Deutschlands und gründete die Stiftung Forum für Verantwortlichkeit. Seitdem veranstalten er und seine Stiftung jährlich einmal hochkarätige Kolloquien. Das Buch gibt die Veranstaltung vom März 2010 wieder. Thema: Was bewegt Menschen dazu, statt auf Konsum auf Lebensqualität zu setzen? Und der Ex-Führungskraft Wiegandt wird klar gewesen sein, dass Fakten allein niemanden motivieren:

    "Lebensqualität braucht Anschaulichkeit, Bilder und Geschichten ohne solche durchaus auch utopische Zielbestimmung bleiben Aufbruchs- und Veränderungsaufforderungen immer an etwas Negatives gebunden und bewirken daher nicht mehr als eben Appelle.

    Intellektuelle halten sich natürlich nicht an ein vorgegebenes Thema, so auch hier. Manche der Autoren beziehen sich in ihren Aufsätzen zwar durchaus auf die Welt des Jahres 2050. Andere hingegen bleiben im Hier und Jetzt. Aber so erhält der Leser einen stets interessanten Überblick über ganz unterschiedliche Facetten der Klima-Diskussion.

    Wenn die Erderwärmung aufgehalten werden soll: Was bedeutet das für Bereiche wie Politik, Wirtschaft, Städtebau, Ethik und andere? 13 unterschiedliche Felder werden beackert: Von Energie über Demokratie bis hin zu Gerechtigkeit und Philosophie.

    Beiträge wie der des Experten für Transport und gesellschaftliche Transformation, Stephan Rammler, zur Mobilität anno 2050 sind leicht lesbar und teilweise lustig. Einige Artikel sind überbordend optimistisch, wie etwa der Beitrag "Szenario Energie. Vision und Wirklichkeit" von der Energieökonomin vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, Claudia Kemfert. Sie geht davon aus:

    … die Energie der Zukunft wird CO2-frei, sicher und bezahlbar sein. Die Mobilität wird nachhaltig sein. Die Häuser der Zukunft werden mehr Energie produzieren, als sie verbrauchen Auch auf das Fliegen wird man nicht verzichten müssen, sondern mittels alternativer Antriebsstoffe die global vernetzte Welt aufrechterhalten können.

    Schöne neue Welt! Nicht alle Autoren sehen das so. Einige sprechen deutlich das Thema Verzicht an. Fernreisen, Fleischkonsum, Individualverkehr, Energieverbrauch – ganz unterschiedliche Dinge, die uns heute als selbstverständlich erscheinen, werden in mehreren Beiträgen daraufhin diskutiert, ob wir sie uns anhand der Lage des Globus noch leisten können. Das ist gut so, denn in der Nachhaltigkeitsdebatte wird von Verzicht nicht gerne geredet.

    Die Anordnung der Beiträge ist unbefriedigend. So widmet sich der Volkswirt Hans Diefenbacher in seinem Artikel "Szenario Arbeitswelt" als einziger der Unterscheidung von Prognose, Projektion, Szenario und Utopie – er hätte selbstverständlich an den Anfang des Werks gehört, um den Leser einzustimmen und über qualitativ unterschiedliche Zugangsweisen zu informieren.

    Auch bleibt offen, warum die Herausgeber nicht selbst diese Unterscheidungen aufgegriffen haben. Das letzte Wort wird dem sozialtheoretischen Altmeister Amitai Etzioni eingeräumt, der sozusagen den Sammelband abrundet. In seinem Beitrag: "Eine neue Charakterisierung des guten Lebens" geht er der philosophischen Frage nach dem Sinn des Seins nach. Und im Gegensatz zum allgegenwärtigen Apokalypse-Geschrei verkündet er altersweise so etwas, wie die von Welzer und Wiegandt geforderte "gute Botschaft".

    "Man kann nicht erwarten, dass sich die meisten Menschen von einem Tag auf den anderen von einer konsumorientierten Einstellung verabschieden werden. Alles, was nötig ist, ist dass mehr und mehr Menschen den ökonomischen Niedergang in eine Befreiung umwandeln, eine Befreiung von der Obsession durch Konsumgüter und, Schritt für Schritt lernen was ein gutes Leben ausmacht."

    Insgesamt betrachtet haben Welzer und Wiegandt ein schönes, äußerst vielseitiges Buch vorgelegt. Ein Buch, das manchmal wirklich den Lesern mit Fakten erschreckt. Aber eben auch die Kraft für Veränderungen zu erwecken vermag. Lesenswert.

    Harald Welzer und Klaus Wiegandt: "Perspektiven einer nachhaltigen Entwicklung. Wie sieht die Welt von morgen aus?"
    Fischer Verlag, 352 Seiten, 12,99 Euro, ISBN: 987-3-596-18794-2.