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Visionen über die Postmoderne

Was kommt nach dem Ende des Sozialstaats? Dieser Frage geht Adrienne Goehler, Kuratorin des Hauptstadtkulturfonds, in ihrem Buch "Verflüssigungen" nach. Künstler und Wissenschaftler sind bei Goehler die neuen Hoffnungsträger. Sie verlangt Leistungsbereitschaft und Eigenverantwortung. Barbara Eisenmann stellt ihre Ideen vor.

17.07.2006
    Eine Deckungslücke von sieben Millionen Euro im aktuellen Etat der Goethe-Institute hat deren Generalsekretär Hans-Georg Knapp kürzlich veranlasst, ein Strategiepapier zu veröffentlichen. Er schlägt vor, Prioritäten zu setzen, und das heißt, unter anderem die Präsenz der Institute in Indien und China zu verstärken, in Westeuropa dagegen verschlankende Maßnahmen einzuleiten. Das immer schon schwierige Verhältnis der Kultur zu Wirtschaft und Politik erfährt in Zeiten einer allumfassenden Ökonomisierung eine besondere instrumentelle Zurichtung. Im Fall der angekündigten Goethe-Institutspolitik ließe sich fragen, wo Kulturförderung aufhört und wirtschaftliche Standortpolitik eigentlich anfängt.

    Auch Adrienne Goehler, ehemals Präsidentin der Hamburger Hochschule für Bildende Künste und später kurzzeitig Senatorin für Wissenschaft, Forschung und Kultur in Berlin, setzt sich in ihrem Buch "Verflüssigungen" mit den Verhältnissen von Politik und Kultur auseinander. Ihr geht es um die unausgeschöpften gesellschaftlichen und auch wirtschaftlichen Potenziale von wissenschaftlichen und künstlerischen Herangehensweisen an die große gegenwärtige Frage, wie mit dem wachsenden Rückzug des Staates aus seiner sozialen Verantwortung umgegangen werden kann. Dass der Sozialstaat in seiner herkömmlichen Form nicht mehr existieren kann, das setzt die Autorin als gegeben voraus, denn die historische Konfiguration von Industriekapitalismus und Nationalstaat gebe es so nicht mehr, und auch die gute alte Lohnarbeit als finanzielle Grundlage des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements sei historisch am Ende. Den Ausgangsbefund von der schrumpfenden klassischen Erwerbsarbeit, dem die Politik, jahrzehntelangem Anschein zum Trotz, immer noch nicht ins Auge schauen will, hat Goehler mit allem, was es ebenfalls seit Jahrzehnten an Literatur dazu gibt, belegt: von Hannah Arendt, einer ihrer Hauptstichwortgeberinnen, bis zu Ralf Dahrendorf, Ulrich Beck, André Gorz, Jeremy Rifkin, Wolfgang Engler und vielen anderen. An Stelle des Sozialstaats, den man allerdings nicht grundsätzlich schon auf den Müllhaufen der Geschichte werfen, sondern eher fragen sollte, wie er sich denn zukünftig finanzieren ließe, visioniert Goehler eine Kulturgesellschaft.

    Ihr Entwurf dazu liest sich in weiten Teilen abstrakt und angesichts der zunehmend prekären Lebens- und Arbeitsverhältnisse, gerade in der Kulturbranche und im Wissenschaftsbetrieb, wie ein melancholisch-nostalgisches Echo postmoderner Theorien.

    "Die Kulturgesellschaft ist ein Entwurf ins Offene, der auf die Gestaltung einer
    gesellschaftlichen Wirklichkeit zielt, in der die Vielfalt von Suchbewegungen (...) integriert werden, der also gerade nicht auf die Reduktion von Komplexität und Differenz gerichtet ist. Offene Denk- und Handlungsräume brauchen Umgangsformen, die das Plurale sozialer und ethnischer Zugehörigkeiten, die Heterogenität von Generationen und das Erschließen verschiedener gesellschaftlich und ökonomisch wirksamer Arbeitsfelder ermöglichen, die nicht nach dem Muster üblicher politischer Großlösungen erstellt werden können."

    Künstler und Wissenschaftler sind bei Goehler die neuen Hoffnungsträger der postindustriellen Ökonomie. Allerdings wird dieser so genannten kreativen Klasse inzwischen auch Einiges aufgebürdet, und auch Goehler betreibt eine gewisse Verklärung der Kulturarbeiter, die heute allseits gerne als Avantgarde hochgehalten werden. Man verspricht sich inzwischen von den "kreativen Industrien" ein neues Wirtschaftswachstum und in den Verwaltungen deindustrialisierter Städte wird die Kulturwirtschaft längst zur Zukunftsbranche hochgejubelt. Aber auch weil hier neue Formen von Arbeit jenseits der klassischen Erwerbsarbeit erprobt werden, wird der Blick neuerdings emphatisch auf die Kreativen gerichtet. Die Kehrseite dieser oft als Alternative zur Arbeitslosigkeit gewählten Lebens- und Arbeitsweise heißt aber maßlose Selbstausbeutung bei miserabler Vergütung und nicht vorhandener Absicherung, und wollte man das wirklich zum neuen Paradigma für alle machen?

    Auch Goehler appelliert an Leistungsbereitschaft und Eigenverantwortung der Einzelnen, zitiert affirmativ den neoliberalen Topos von der German Angst, also die Rede von den Deutschen als diejenigen, die am wenigsten mit den neuen Unsicherheiten umgehen können. Allerdings hat in ihrem Buch, das sich wie ein alternatives, gelegentlich nicht ganz widerspruchsfreies Sammelsurium liest, vieles Platz, was gegenwärtig an Vorschlägen kursiert. So macht sich die Autorin auch zur Befürworterin eines bedingungslosen Grundeinkommens für alle. Das wäre immerhin ein Schritt, der materielle Rahmenbedingungen schaffen könnte für ein grundlegendes Umdenken hin zu einer Gesellschaft, die nicht mehr primär auf Lohnarbeit fußt.

    Anhand von allerlei Beispielen will Adrienne Goehler die Kulturgesellschaft den Lesern auf 276 Seiten wenigstens partiell schon einmal zur Anschauung bringen. Das Großbeispiel für die kulturgesellschaftliche Transformation des Wohlfahrtsstaates, also in Goehlers euphemisierender Sprache, für "experimentelle Selbstverhältnisse", für "kultivierte Durchlässigkeiten", für "Verflüssigungen" ist Berlin, eine Stadt, in der in den letzten Jahren hunderttausende feste Stellen abgebaut wurden.

    "In Berlin, der Hauptstadt, der armen, der schönen, die so tief in der Schuldenfalle sitzt und reich nur an kreativen Potenzialen ist, bricht sich die Bundesrepublik am radikalsten. Nirgends ist der Zerfall der bisherigen sozialen Sicherungs- und Finanzsysteme auf allen Ebenen sichtbarer als dort, nirgends die Abwesenheit von traditioneller Industrie deutlicher. Gleichzeitig gibt es wohl nirgendwo in der Bundesrepublik mehr junge, neugierige Menschen aus aller Welt, die wegen der oft diffus empfundenen Besonderheit in die Stadt drängen, offenkundig auf der Suche nach Lösungen, nach gesellschaftsrelevanter Ausweitung des eigenen Handelns, und dies, nachdem die große Abschreibungseuphorie der Nachwendezeit verklungen ist, oder eben deshalb."

    Auf dem Weg zur Bestimmung dessen, wie die Kulturgesellschaft denn beschaffen sein könnte, bewegt sich die Autorin zwischen abstrakter Beschwörung und sympathischem Wunschdenken. Allerdings bleibt auch ein gewisses Unbehagen, und das hat schon mit der Begrifflichkeit selbst etwas zu tun: "Wege und Umwege vom Sozialstaat zur Kulturgesellschaft" heißt es da im Untertitel. Doch ganz so schnell möchte man dem Sozialstaat den Laufpass nicht geben. Und wenn schon den Einzelnen jetzt individuelle Dauerhöchstleistungen abverlangt werden, dann sollte auch vom Staat etwas mehr verlangt werden, als bloß verfestigtes Ressortdenken zu verflüssigen.

    Adrienne Goehler: Verflüssigungen. Wege und Umwege vom Sozialstaat zur Kulturgesellschaft
    Campus Verlag, Frankfurt, 2006
    250 Seiten
    24,90 Euro