Dienstag, 30. April 2024

Völkerball in Brasilien
Spielen gegen das Stigma

Wie in Deutschland war Völkerball auch in Brasilien lange ein Spiel für Kinder. Mittlerweile ist dort aber ein Hype entstanden, vor allem in der LGBTQI-Community. In fast jeder Stadt gibt es queere Teams.

Von Niklas Franzen | 11.02.2024
Ein Junge wirft in Brasilien in einem Völkerball-Spiel einen Ball.
Völkerball wird in Brasilien immer beliebter - wie hier in Belo Horizonte. (imago / Fotoarena / imago stock&people)
Camila geht einen Schritt zurück. Sie lässt den Ball dreimal tippen. Dann rennt sie zur Linie und schleudert den Ball mit voller Wucht nach vorne. Er prallt an die Schulter eines jungen Mannes. Volltreffer! Er muss hinter die Linie auf der anderen Seite. Denn durch Camilas Treffer ist er „verbrannt“, wie sie es hier nennen.
Der Steinplatz liegt in Campo Grande, ganz im Osten von Rio de Janeiro. Eigentlich war er mal als Fußballplatz konstruiert. Aber seit einigen Jahren wird hier nur noch Völkerball gespielt. Auf dem Platz trainieren die „Queimados do Campinho“. In dem Völkerball-Team spielen ausschließlich LGBTQI. Camila ist eine der besten Spielerinnen. Sie ist 20 Jahre alt, die blondgefärbten Haare hat sie - zu kleinen Zöpfen geflochten - nach oben gebunden. Sie ist eine trans*Frau: „Ich habe schon viele Vorurteile erlebt. In vielen Sportarten gibt es keinen Platz für uns, hier beim Völkerball ist das anders.“

LGBTQI in vielen anderen Sportarten nicht willkommen

Immer mehr LGBTQI spielen Völkerball, vor allem weil sie in vielen anderen Sportarten nicht willkommen sind. Das Spiel ist gerade in den Vorstädten beliebt, wo die finanziell Benachteiligten leben. Campo Grande liegt 40 Kilometer vom Zentrum Rios entfernt. Es ist eine der gewalttätigsten Regionen der Stadt und wird von paramilitärischen Milizen kontrolliert. An diesem Sonntag wirkt aber alles friedlich. Der Platz ist mit lila Bändchen geschmückt. An einem Zaun hängt eine Regenbogenfahne, eine Wand ist frisch bemalt. Camila erklärt warum: "Heute findet hier ein Turnier statt. Es kommen einige Teams von außerhalb. Aus ganz verschiedenen Orten. Das Gewinnerteam erhält 500 Reais."

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Das sind umgerechnet rund 100 Euro. Eigentlich sollten mehr als zehn Teams antreten. Doch am Tag zuvor gab es heftige Regenfälle in der Stadt. Zwölf Menschen kamen ums Leben. Deshalb konnten viele Mannschaften nicht anreisen. Es wird improvisiert, spontan finden sich neue Teams zusammen. Nur Camilas Team ist fast vollständig, denn alle Spielerinnen und Spieler wohnen in der Nachbarschaft.
Vor dem Spiel ruft der Schiedsrichter die Mannschaften zusammen. Er erklärt die Regeln: "Ball ins Gesicht ist verboten. Wenn das passiert und wir entscheiden, dass es Absicht war, gibt es einen Platzverweis."
Auf beiden Seiten stehen zehn Spielerinnen und Spieler. Das Ziel ist es, die gegnerischen Spielerinnen und Spieler abzuwerfen. Danach muss der Ball auf den Boden prallen. Die Abgeworfenen sind „verbrannt“ und müssen hinter eine Linie auf die andere Seite des Feldes. Sie können aber wieder freikommen, wenn sie jemanden aus dem gegnerischen Team abwerfen. Wenn ein Team ohne Spielerinnen und Spieler in der Mitte ist, ist die Runde verloren. Wer zwei Runden für sich entscheidet, hat das Spiel gewonnen.

Team-Gründer von Wachstum überrascht

In der Pause läuft ein Mann mit Kappe und Zahnspange umher. Er verteilt Küsschen auf Wangen, gibt Anweisungen. Es ist Leonardo Alves, von allen Leozinho genannt. Er ist einer der Gründer des Teams: "Wir haben bei Null angefangen. Niemals hätten wir gedacht, dass es diese Dimension annehmen würde."
Die "Queimados do Campinho" haben es zu einiger Bekanntheit gebracht. Das liegt vor allem an den sozialen Medien: Auf TikTok folgen ihnen eine halbe Millionen Menschen, bei Instagram haben sie 155.000 Follower. Sie sind das bekannteste Völkerball-Team des Landes. Sie haben sogar einen Sponsor, einen lokalen Unternehmer.

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"Ich spiele Völkerball seit ich denken kann. Es macht Spaß, ist aber auch eine Ablenkung. Auf dem Platz vergessen wir unsere Probleme, unsere Schulden. Einigen hilft es gegen ihre Depression zu kämpfen." Das sagt Leozinho. Er ist 35 und damit deutlich älter als der Rest des Teams. "Die Familien einiger Mitspieler akzeptieren die Sexualität ihrer Kinder nicht. Wir setzen uns oft zusammen und reden im Team darüber. Es ist wie eine Gruppentherapie."

Völkerball als Gemeinschaft

Hier geht es mehr als um Sport, das wird schnell klar. Es ist eine Gemeinschaft. Leozinho ist in der Nachbarschaft aufgewachsen. Er kennt hier fast alle. Seine Mutter ist evangelikale Pastorin. Ihre Kirche liegt dem Völkerballplatz direkt gegenüber.
Michelle Trindade arbeitet eng mit der Pastorin zusammen, als Sekretärin der kleinen Gemeinde. Gerade steht die 38-Jährige am Eingang der kleinen Kirche gegenüber dem Völkerballplatz. Sie begrüßt die Familien, die eintreten. Viele haben Bibeln in der Hand und sind adrett gekleidet. Das ziemliche Gegenteil des bunten Spektakels auf der anderen Seite der Straße.

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"Früher war der Platz ausgestorben. Sie sorgen dafür, dass mehr Menschen in den Stadtteil kommen. Sie respektieren uns und wir respektieren sie", sagt Michelle Trindade. "Manchmal spielen unsere Jugendlichen mit ihnen. Ihr Team gegen ein Team aus der Kirche."

Nachbarn werfen Eier auf den Platz

Aber nicht alle Menschen denken so wie Trindade. Immer noch gibt es viele Vorurteile, schildert Camila: "Einmal haben sie Eier auf den Platz geworfen während wir hier spielten." Im Großen und Ganzen seien die meisten Nachbarinnen und Nachbarn aber tolerant. Viele von ihnen haben sich an diesem Sonntag rund um den Platz versammelt. Es gibt Bier, aus Boxen dröhnt ohrenbetäubend laute Baile-Funk-Musik.
Mittlerweile ist es Abend, Flutlichter erhellen den Platz. Für Camila und ihre "Queimados do Campinho" läuft es gut an diesem Tag. Sie ziehen in das Finale ein. Es ist ein hartes Endspiel. Erst liegen Camila und ihr Team 0:1 zurück. Doch dann erzielen sie den Ausgleich, 1:1. Aber am Ende reicht es nicht zum Sieg. Camilas Team verliert das Finale mit 1:2. Nach dem Spiel wirkt sie enttäuscht: "Ich bin traurig, ich habe sogar geweint. Es stand 1:1, und ich war die letzte auf der Linie."
Nach dem Spiel posiert das Siegerteam vor der Regenbogenfahne. Camila gratuliert der gegnerischen Mannschaft. Kurz schnauft sie durch, trinkt einen Schluck Wasser. Das Turnier ist vorbei. Aber Camilas Team geht wieder auf den Platz. Eine Runde wollen sie heute Abend noch spielen und Spaß haben.