Donnerstag, 25. April 2024

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Völkermord an Armeniern
"Das Deutsche Reich war einer der wichtigsten Zeugen"

Über eine Million Armenier wurden im Osmanischen Reich ab 1915 systematisch verfolgt und in den Tod getrieben. Das Deutsche Reich habe nicht alles unternommen, was es hätte tun können, um dem Völkermord Einhalt zu gebieten, sagte Rolf Hosfeld, wissenschaftlicher Leiter des Lepsius-Hauses in Potsdam, im DLF.

Rolf Hosfeld im Gespräch mit Doris Schäfer-Noske | 04.03.2015
    Doris Schäfer-Noske: Der Beginn des Völkermordes an den Armeniern jährt sich dieses Jahr zum 100. Mal. Über eine Million Menschen wurden im Osmanischen Reich ab 1915 systematisch verfolgt und in den Tod getrieben. Das Lepsius-Haus in Potsdam ist eine Institution, die sich speziell mit diesem Völkermord an den Armeniern befasst, denn der evangelische Theologe und Orientalist Johannes Lepsius hat sich sehr für die verfolgten Armenier eingesetzt. Er verschickte zum Beispiel seine Berichte über die Todesmärsche und Massaker auch an Abgeordnete des Deutschen Reichstages.
    Nun hatten das Lepsius-Haus und das Deutsche Historische Museum zu einer Tagung nach Berlin eingeladen, die sich mit der Rolle des Deutschen Reiches beim Völkermord an den Armeniern auseinandergesetzt hat. Frage an Rolf Hosfeld, den wissenschaftlichen Leiter des Lepsius-Hauses: Trägt denn das Deutsche Reich eine Mitschuld an diesem Völkermord?
    Rolf Hosfeld: Zunächst mal war es einer der wichtigsten Zeugen dieses Ereignisses. Es gab sehr viele Deutsche im Osmanischen Reich. Das war ja mit dem Deutschen Reich während des Ersten Weltkrieges verbündet. Es gab Militärs, es gab Geschäftsleute, es gab überall Konsulate und insofern ist Deutschland ein wichtiger Zeuge, auch was die Schlussfolgerungen anbetrifft. Bereits im Juli 1915 schrieb Hans von Wangenheim, der Botschafter in Istanbul, also im damaligen Konstantinopel, an Reichskanzler Bethmann-Hollweg, es ist die erklärte Absicht der Regierung in Konstantinopel, die armenische Rasse im türkischen Reich zu vernichten. Nun muss man sich natürlich klar machen: Das war keine leichtfertige Aussage. Das war aber eine sehr starke Aussage, weil es war ja ein Kriegsverbündeter und Wangenheim hatte eine Unmenge von Materialien vorliegen, bevor er sich zu dieser Aussage vorwagte.
    "Vertuschung dieses Verbrechens"
    Schäfer-Noske: Wäre es dann möglich gewesen, dass das Deutsche Reich als Verbündeter auf die Türkei einwirkt?
    Hosfeld: Wahrscheinlich in Grenzen. Es gibt bestimmte vorsichtige Versuche, aber ich glaube, insgesamt kann man dem Deutschen Reich den Vorwurf machen, sie haben bei Weitem nicht alles unternommen, was sie hätten unternehmen können, um dem Einhalt zu gebieten und ihr Missfallen über das, was da vor sich ging, auszudrücken. Sie haben genau gewusst, was vor sich ging, aber sie haben auch in der Öffentlichkeit in Deutschland die türkische Version der Ereignisse übernommen. Die Kriegszensur war da sehr, sehr effektiv und diese Verbreitung der türkischen Version der Ereignisse hat erheblich zur Vertuschung dieses Verbrechens auch beigetragen.
    "Viele Deutsche wussten auch genau, was dort vor sich ging"
    Schäfer-Noske: Das heißt, das Deutsche Reich hätte da wirklich etwas verhindern können. Ist das der neue Erkenntnisstand in der Wissenschaft?
    Hosfeld: Das ist natürlich immer eine Hypothese, was es wirklich hätte verhindern können. Aber mit Sicherheit kann man sagen, es hat nicht alles unternommen, was es hätte unternehmen können.
    Schäfer-Noske: Wie wurde denn mit den Berichten von Johannes Lepsius zum Beispiel umgegangen?
    Hosfeld: Zunächst mal: Der Bericht von Johannes Lepsius erschien 1916. Er beruhte auf einer sehr, sehr intensiven Studie von Materialien, die er hatte, die er teilweise von der deutschen Botschaft in Istanbul bekommen hatte, teilweise von der amerikanischen Botschaft in Istanbul, teilweise von armenischen Kreisen. Es ist das bestinformierte Buch geblieben bis in die späten 60er, Anfang der 70er-Jahre, und dieses Buch hat er in 20.000 Exemplaren in Privatinitiative gedruckt und über private Kanäle im ganzen Reich verbreitet, in erster Linie unter die Superintendenten der evangelischen Kirche mit der Maßgabe, das an die Pastoren zu verteilen, was nicht in allen Fällen passiert ist. Aber es hat natürlich schon erheblich dazu beigetragen, dass viele Deutsche auch genau wussten, was dort vor sich ging.
    Schäfer-Noske: Gab es denn andere Versuche, diesem Völkermord entgegenzuwirken?
    Hosfeld: Keine wirklich wirksamen Versuche. Matthias Erzberger war in der Türkei Anfang 1916, aber die wirklichen Konsequenzen hat er eigentlich erst nach dem Krieg gezogen. Es gab den Versuch von Karl Liebknecht, eine Debatte im Reichstag anzuzetteln über diese Frage. Die ist aber nicht zustande gekommen, weil es im Tumult unterging. Und es gab 1917 auch noch andere Versuche, insbesondere von Abgeordneten der USPD, das zum Thema zu machen, aber das führte alles zu keinen wirklich nennenswerten Ergebnissen.
    Historische Aufarbeitung des Völkermordes an den Armeniern in der Türkei
    Schäfer-Noske: Wie weit ist denn inzwischen eigentlich die historische Aufarbeitung des Völkermordes an den Armeniern in der Türkei vorangeschritten?
    Hosfeld: Man kann sagen, da hat sich in den letzten zehn Jahren enorm viel getan. Es gibt eine Menge von sehr guten türkischen Historikern, die teilweise in der Türkei selbst, teilweise in anderen Ländern wie beispielsweise den USA forschen und lehren, und viele Detailkenntnisse vor allen Dingen über die inneren Strukturen des Osmanischen Reiches zu dieser Zeit verdanken wir auch den Arbeiten dieser türkischen Historiker.
    Schäfer-Noske: Am 24. April wird weltweit der offizielle Gedenktag begangen. Was wird dazu denn in der Türkei stattfinden, oder wird da etwas stattfinden?
    Hosfeld: Es wird mit Sicherheit Veranstaltungen geben in Istanbul, aber auch an anderen Orten, mit Sicherheit auch in Diyarbakir beispielsweise. In Diyarbakir findet interessanterweise schon seit Jahren regelmäßig eine Gedenkveranstaltung am 24. April statt.
    Schäfer-Noske: Das war Rolf Hosfeld, wissenschaftlicher Leiter des Lepsius-Hauses, über eine Tagung in Berlin zum Völkermord an den Armeniern.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.