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Völkermord an den Armeniern ist in der Türkei noch Tabuthema

Der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk hat mit seinem Buch "Schnee" an den Völkermord an den Armeniern erinnert. Er habe damit gegen eines der Tabuthemen in der Türkei verstoßen, sagt der in Berlin lebende Schriftsteller Zafer Senocak. Momentan gebe es erstmals eine Debatte, wie mit den gegenteiligen Meinungen umgegangen werden könne. Dies sei neu, betonte Senocak.

    Fischer: Orhan Pamuks Roman "Schnee" ist mit einer surrealen Landschaft verglichen worden. Obwohl oder vielleicht gerade weil dort so viel von poltitischer Zugehörigkeit die Rede ist. Das Buch versammelt allerdings bizarre Figuren, die auch unsere gewohnten Schablonen von Gut und Böse durcheinander wirbeln können. Sympathische Islamisten, selbstbewusste Kopftuchträgerinnen und folternde Kemalisten. Und es erwähnt beiläufig, welche Häuser vor 90 Jahren noch armenischen Bewohnern gehörten. Der Roman ist in der Türkei veröffentlicht worden; aber seit Pamuk in einem Interview an den Völkermord an den Armeniern erinnerte, ist er dort "persona non grata". Er hat in den letzten Wochen Morddrohungen erhalten und deshalb eine Lesereise nach Deutschland abgesagt. In einem südanatolischen Dorf hätte man auf Anordnung eines Landrates Orhan Pamuks Bücher fast sogar verbrannt – wenn die örtlichen Bibliotheken seine Werke im Bestand gehabt hätten. Jetzt am Wochenende soll auf einer Gewerkschaftsversammlung demonstrativ ein Foto des Schriftstellers zerrissen worden sein. Frage an den in Berlin lebenden Schriftsteller und Publizisten Zafer Senocak: Welches Motiv steht hinter diesen Anfeindungen?

    Senocak: Ich denke mal, dass der Nationalismus in der Türkei gerade wegen der Annäherung an die EU Auftrieb bekommen hat. Das ist eine Gegenreaktion. Es gibt natürlich auch Stimmen in der Türkei, die gegen einen Beitritt der Türkei in die EU sind, die das System so wie es ist erhalten wollen als bürokratisches halb-militärisches, halb-demokratisches System und die natürlich jetzt jede Gelegenheit nutzen, um Stimmung zu machen, denn eine Mehrheit stellt diese Gruppe ja nicht dar.

    Fischer: Welche Rolle spielt dabei dieses Tabuthema Völkermord an der Armeniern?

    Senocak: Eine große, überhaupt alle Tabuthemen. Das nächste Tabuthema, das man angreifen wird, wird mit Sicherheit der Kemalismus selbst sein, da auch unter dem Regime Kemal Atatürks in der Türkei ja Verbrechen geschehen sind, über die man heute überhaupt nicht spricht, zum Beispiel gegen die Kurden. Und diese Themen, die dunklen Kapitel der türkischen Geschichte, werden sicherlich nach und nach zur Sprache kommen und wenn Sie sich vorstellen, dass die Türkei bisher ja immer von einer offiziellen Geschichtsschreibung mehr oder weniger gelenkt worden ist, also auch mental gelenkt, dann steht dem Land schon ein großer Umbruch bevor.

    Fischer: Wie beurteilen Sie denn diese Anfeindungen gegen Orhan Pamuk in der Türkei selbst, sind das Dinge, die durch unsere Medien sozusagen auch ein bisschen aufgebauscht wurden oder gibt es eine Radikalisierung auch gegen Intellektuelle in der Türkei?

    Senocak: Sicherlich gibt es da eine Medialisierung, das ist ja in unserer Welt überhaupt nicht mehr zu vermeiden. Es gibt aber auch eine Stimmung, die man schwer benennen kann, wie stark sie ist, weil sie ja auch von Zeit zu Zeit stark zunimmt, sie hat übrigens zum Beispiel auch durch den Irakkrieg zugenommen, weil das Gefühl besteht, es gibt einen Angriff auf die Region. Der US-Krieg im Irak wird in der Türkei sehr kritisch betrachtet und hat eigentlich jenen Kräften Auftrieb gegeben, die eher dem nationalistischen Lager zuzurechnen sind: die Türkei muss stark werden, sie darf nicht in solche internationalen Systeme wie die EU reingehen, sie muss ein starker, homogener Nationalstaat bleiben - das ist grob umrissen die Linie der Nationalisten. Und die gehen ja durch alle Parteien, das ist interessant. Also auch unter den Sozialdemokraten in der Opposition.

    Fischer: Es gibt in der Türkei ja immer noch jene Artikel im Strafgesetzbuch, die eine Beleidigung der Türkei und ihrer Staatsorgane unter Strafe stellen und die leider auch oft angewandt werden, um die freie Meinungsäußerung von Intellektuellen oder Kritikern einzuschränken. Türkische Nationalisten haben diese Artikel in der Kurdenfrage sehr gerne hinter sich. Droht Pamuk denn auch von dieser juristischen Seite Gefahr?

    Senocak: Im Moment ja, aber ich glaube, das wird kein Thema mehr sein, weil dieses Gesetz ja zurückgenommen worden ist, denn mit diesem Paragraphen kann man ja auch mit der EU nicht weitermachen.

    Fischer: Im April vor genau 90 Jahren begann der Massenmord an den türkischen Armeniern. Wird in der Türkei derzeit öffentlich darüber debattiert, wie man mit diesem Datum umgehen wird?

    Senocak: Ja, Sie finden sogar jetzt in der doch nationalliberal orientierten Zeitung Hürriyet eine Debatte darüber und zwar wirklich mit gegenteiligen Meinungen und das ist neu, dass verschiedenen Stimmen und Perspektiven zur Sprache kommen. Eine Diskussion, die geführt wird, war diese Vertreibung und die Massaker, Völkermord. Diese Frage wird diskutiert, das heißt, war eine geplante Vernichtung im Hintergrund, eine geplante Vernichtung eines ganzen Volkes. Die Türkei negiert diese Frage und hat die Position, dass diese Ereignisse zwar tragisch sind, aber mehr oder weniger kriegsbedingt waren. Das Ganze ist im ersten Weltkrieg passiert. Eine andere interessante Sache ist: natürlich wurde die ganze Region immer wieder von solchen Massakern begleitet durch den Nationalismus, der entstanden ist im 19. Jahrhundert. Das osmanische Reich war ja ein Vielvölkerstaat. Auf dem Balkan sind zum Beispiel auch sehr viele Gräueltaten passiert. Die Türkei hat bisher immer die These vertreten, wir schließen diese Kapitel, wir versuchen einen Neuanfang mit allen Völkern, die in dieser Region leben. Wenn wir die Kapitel öffnen, dann kommen alte Wunde hoch und Feindschaften auf und wir haben eine viel schlimmere Situation als wenn wir nicht darüber reden. Das war immer die türkische Position. Das heißt, das Ganze ist sehr komplex und wird Europa höchstwahrscheinlich mit in diese Diskussion einbeziehen, aber es führt nichts daran vorbei, dass die Türkei erst einmal anerkennen muss, dass Gräueltaten passiert sind und dass Unrecht geschehen ist. Das muss einfach die Ausgangsposition jeder Diskussion sein.