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Völkerverständigung auf Papier

Ein deutsch-französisches Geschichtsbuch für den Unterricht gibt es schon. Nun soll ein deutsch-polnisches Schulbuch hinzukommen, das nicht nur die gemeinsame geschichtliche Vergangenheit beleuchtet. Der erste Band der insgesamt vierbändigen Reihe ist für 2015 geplant.

Von Michael Castritius | 11.12.2012
    Die Konflikte der Nachbarländer werden bei der gemeinsamen Aufarbeitung von Geschichte offen zutage treten. Denn ob beispielsweise die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg aus Polen vertrieben oder ausgesiedelt wurden, das sind Formulierungsvarianten, hinter denen sich eine politische Auseinandersetzung verbirgt, die bis in die jüngste Vergangenheit hinein die Beziehung beider Länder belastet.

    Und solche Konflikte sollen auch gar nicht unter den Teppich gekehrt werden, verspricht Thomas Strobel vom Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung - obwohl dem Werk von den Regierungen beider Länder ein wichtiger politischer Stellenwert beigemessen wird.

    "Das Projekt hat in der Tat eine gewisse politische Symbolik, aber es ist nicht politisiert. Es sollen durchaus auch die Unterschiede offengelegt werden, dass es eben auch im Vokabular diese Unterschiede gibt, dass diese nicht verkleistert werden. Und dass Begriffe wie Vertreibung und Aussiedlung problematisiert werden."

    Noch arbeiten die Experten an Teil 1 der vierbändigen Reihe, da geht es relativ unverfänglich um die Zeit von der Frühgeschichte bis ins Mittelalter. Brisant wird es erst mit Band 4, wenn das 20. Jahrhundert dargestellt wird. Michael Jäger, Geschäftsführer des Universum-Verlages, sieht der Arbeit gespannt, aber auch entspannt entgegen:

    "Wir haben keinen Bammel grundsätzlich, weil wir den polnischen Partner und alle Experten bisher kennengelernt haben als ausgesprochen konstruktive und angenehme Arbeitspartner. Wir stellen fest, wo die Empfindlichkeiten sind, lernen, darauf Rücksicht zu nehmen. Wir haben eine Rubrik vorgesehen, die "Blickpunkt" heißt, wo wir es zulassen, dass Autoren aus Polen und aus Deutschland sich nicht auf einen Standpunkt einigen, sondern die jeweils nationale Sicht wiedergeben, was wir dann für die Schüler auch ganz spannend finden."

    Und das Werk wird keinesfalls beschränkt auf die deutsch-polnische Geschichte, es soll ein komplettes Schulbuch sein, das im regulären Unterricht als Standardmaterial benutzt wird. Damit erklärt sich die lange Vorlaufzeit: Fast ein Jahrzehnt wird vergehen von der anregenden Idee des damaligen Bundesaußenministers Steinmeier bis zum Erscheinen von Band 1 2015. Denn für die Zulassung als Schulbuch ist eine "16 plus Eins-Koordination" notwendig: Die Curricula von 16 Bundesländern und Polens sind zu berücksichtigen, betont Ties Rabe, Präsident der deutschen Kultusministerkonferenz. Der Hamburger Schulsenator ist überzeugt, dass das Geschichtsbuch nicht nur in Bundesländern an der polnischen Grenze wie Sachsen oder Brandenburg Erfolg haben wird.

    "Es gibt so viele Berührungspunkte: in der Musik mit Chopin, der deutsche Ritterorden, die preußische Teilung Polens und andere, manchmal unsägliche Flecken. Das sind Themen, die überall auf den Lehrplänen stehen, sodass hier doch ein besonderes Verhältnis vorliegt, das alle Bundesländer berührt, wenn auch nicht in gleichem Maße."

    Denn letztlich muss sich das ambitionierte, politisch gewollte und finanziell unterstützte Projekt auch am Markt durchsetzen. Es konkurriert mit klassischen Schulbüchern und mit dem deutsch-französischen Geschichtsbuch, das bereits erschienen ist. Brandenburgs Bildungsministerin Martina Münch verbindet mit dem Werk eine große Aufgabe:

    "Ich glaube, es ist ein ganz wichtiges Zeichen, dass man gemeinsam über seine eigene Geschichte nachdenkt, sie aufbereitet für die junge Generation. Und ich glaube, es ist für beide Seiten reizvoll, zu sehen, wie hat die andere Seite Geschichte erlebt, wie wird das aufgeschrieben
    und wie entwickeln wir diese gemeinsame europäische Geschichte, die ja auch gleiche Wurzeln hat. Insofern ist es ein großes Zeichen von alltäglich gelebter Normalität auf beiden Seiten der Grenze."

    Bei all der fast staatstragenden Unterstützung wird es umso wichtiger sein, nicht in den Ruch eines reinen Prestige-Objektes zweier Regierungen zu kommen. Politiker-Lob, wie von Ministerin Münch, reicht nicht.