Dienstag, 19. März 2024

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Vokalzyklen von György Kurtág
Verborgen in Gesten

György Kurtág gilt in der Nachfolge von Anton Webern als Meister der wenigen Töne. Zu seinem relativ kleinem Werkkatalog gehören auch diverse Vokalzyklen. Die Sopranistin Susan Narucki präsentiert auf ihrer aktuellen CD "The Edge of Silence" einige von ihnen in einer beeindruckenden Interpretation.

Am Mikrophon: Yvonne Petitpierre | 13.10.2019
    Susan Narucki im Porträt
    Auf Kurtág spezialisiert: Die Sopranistin Susan Narucki (Lisa-Marie Mazzucco)
    Musik: György Kurtág - Szenen aus einem Roman, op.19
    "Manchmal gelingt es ganz zufällig, aus dem Nichts etwas Gutes zu schaffen. Aber sehr oft gelingt das eben nicht" - so György Kurtág über seine persönliche Haltung zum Komponieren, die immer wieder auch von schweren Schaffenskrisen gezeichnet ist. Von einem breiteren internationalen Publikum wird er erst ab den 1980er Jahren wahrgenommen. Sein kompositorisches Schaffen ist überschaubar und konzentriert sich auf weitgehend kammermusikalische Besetzungen. Einer nationalen Schule kann er nicht zugerechnet werden, auch wenn er selbst Béla Bartòk als seine "musikalische Muttersprache" bezeichnet.
    1926 wird György Kurtág im rumänischen Lugos geboren - er besucht die Schule in Temesvàr, erhält Klavier-und Theorieunterricht und komponiert bereits eine kurze Suite für Klavier zu vier Händen, die er aber erst in den 60er Jahren zum Druck freigibt. Ab 1946 studiert er am Budapester Konservatorium Klavier und Kammermusik und gemeinsam mit seinem Kollegen György Ligeti Komposition bei Sándor Veress, später bei Ferenc Farkas. 1948 wird er ungarischer Staatsbürger und beendet 1955 sein Studium mit einem Diplom für Komposition.
    Inspiration durch Webern
    Im Rahmen eines Studienaufenthaltes in Paris 1957/58 wird Kurtág u.a. mit Musik des Schönberg-Schülers Anton von Webern vertraut, in dessen Nachfolge sein Werk oft rezipiert und analysiert wird. Diese Begegnung wird für Kurtág zu einem künstlerischen Wendepunkt. Es sind Weberns musikalische Gesten konzentrierter klanglicher Knappheit, die ihn faszinieren und auf das eigene Komponieren starken Einfluss nehmen.
    Poesie und Musik verbinden sich in zahlreichen Vokalwerken Kurtágs mit einer spezifischen Gefühlspalette, wenn es um die Ausleuchtung der Texte geht. Seine Vokalzyklen leben kompositorisch aus Komprimierung und einem äußerst transparent gestalteten musikalischem Satz. Mit Hilfe einer eigenwilligen Notenschrift mit ungewöhnlichen Symbolen kreiert er außerordentlich feine Abstufungen hinsichtlich Dauer und Phrasierung.
    Instrumentalklang und Gesangsartikulation gehorchen klaren Angaben. Trotz dieser differenzierten Vorgaben birgt die musikalisch kraftvolle und lebendige Sprache auch intuitiven Charakter.
    Auf der kürzlich erschienenen CD unter dem programmatischen Titel "The Edge of Silence" hat die Sopranistin Susan Narucki diverse Vokalzyklen von Kurtág aufgenommen, die dessen charakteristischen Kompositionsstil der kleinen Gesten eindrucksvoll belegen.
    Dem Schicksal ergeben
    Auf Texte der russischen Dichterin Rimma Dalos greift Kurtág 1981/82 in seinem hoch expressiven 15-teiligen Liedzyklus für Sopran, Violine, Kontrabass und dem traditionsreichen ungarischen Nationalinstrument Zymbal Szenen aus einem Roman op.19 zurück. Ganze Instrumentengruppen werden hier durch solistische Partien repräsentiert.
    In sehr intimen Klangwelten folgt Kurtág der Erzählung einer schicksalhaften Liebe, als Zweifel und Enttäuschung nach und nach subtil Platz greifen, die Protagonistin sich aber ihrem Schicksal widerstandslos überlässt. Die Vertonung ist abgestimmt auf die Originalsprache Russisch, ebenso auf die kurzen Sätze der Textvorlage. Oft kontrapunktieren nur wenige Töne wie punktuelle Einsprengsel eine kurze Gesangslinie und unterstreichen dramaturgisch. Damit erzeugt Kurtág emotionale Spannungsverhältnisse, die tiefe Abgründe ausloten sollen. Auch wenn die Einspielung der Originalsprache folgt, wird die Intensität der Ereignisse dennoch klanglich spürbar. Neben Susan Narucki hören Sie Curtis Macomber (Violine), Kathryn Schulmeister (Kontrabass) und Nicholas Tolle (Zymbal).
    Musik: György Kurtág - Szenen aus einem Roman, op.19
    Die amerikanische Sopranistin Susan Narucki, Jahrgang 1957, hat sich auf zeitgenössische klassische Musik spezialisiert. Sie hat an mehreren Uraufführungen der Niederländischen Nationaloper mitgewirkt, darunter bei Louis Andriessens und Peter Greenaways "Writing for Vermeer" oder Elliott Carters "What Next?".
    György Kurtág lernt sie 1986 kennen, als sie dessen Zyklus "Botschaften des verstorbenen Fräuleins R.V. Troussova" singen sollte. Für die Sängerin war es die erste Auseinandersetzung mit Musik von Kurtág, der damals erstmals nach Amerika reiste. Am Ende dieser Zusammenarbeit überreicht ihr Kurtág einen Partiturstapel mit Vokalwerken. Dieser Moment wird für Narucki zu einem Schlüsselerlebnis, denn seine Musik habe "ihr musikalisches Verständnis entscheidend geprägt und sei das Herzstück ihres Wirkens als Musikerin", so die Sängerin.
    Intensität en miniature
    Auf den beliebtesten ungarischen Dichter des 20. Jahrhunderts Attila József greifen die Gedichtschnipsel der gleichnamigen "Fragmente" für Sopran ohne Begleitung, op. 20 zurück. Die miniaturartigen, teilweise nur Sekunden dauernden Lieder spiegeln eine vielfältige wie expressive Bandbreite - einzig über die Stimme wiedergegeben. Kurtág selbst bat die Interpretin Susan Narucki, dass die Fragmente so vorgetragen werden müssten, als würde man zwischen zwei Radiosendern hin und herschalten. Allerdings sei zu bedenken, dass die Musik auf beiden Kanälen immer weiter spiele.
    Musik: György Kurtág - "Attila József Fragmente" op. 20 für Sopran solo
    Susan Narucki, betont, dass seine Musik "immer wieder große Liebe zum Detail" fordere. Ihre Interpretation überzeugt mit einer sehr warmen Stimme und gleichzeitig differenziert intensiver Klanggebung, die nichts dem Zufall überlässt.
    Eine Vertonung kurzer Gedichte der Lyrikerin und Übersetzerin Amy Károlyi nimmt Kurtág in den "Sieben Liedern" op. 22 vor, die er 1981 für Stimme und Zymbal komponiert. Kurtág nimmt die kleinen Textmomente in den Blick, um musikalisch pointiert und feinnervig zu gestalten. In den Fokus rückt alles, was sich nicht in Worte fassen lässt - das nicht Sagbare zwischen den Zeilen. Somit birgt seine Musik stark rhetorische Qualitäten. Immer wieder sind es kleine eindringliche Gesten, die Kurtágs musikalisches Denken abbilden.
    Ergänzt werden die sechs Texte der ungarischen Vorlage durch einen weiteren Text mit dem Titel "Ars Poetica" aus der Feder des japanischen Haiku-Meisters Issa Kobayashi. Kurtàg interessiert auch hier die Reduktion des Wortes auf das Wesentliche.
    Musik: György Kurtág - "Seven Songs" op. 22 für Sopran und Zymbal
    Beschränkung auf Weniges
    Kurtágs Kompositionssprache sucht nach existenziellen Spannungsfeldern und Widerständen, als würde sie sich immer auf die Suche nach dem Unbequemen machen. Davon zeugen auch zwei kurze Zyklen für Gesang und Klavier, die auf dieser Einspielung ebenfalls vertreten sind. Das "Requiem für einen Freund" op.26, das vom Ende einer Liebesbeziehung und deren schicksalhaften Wegen erzählt - sowie "Drei alte Inschriften" op. 25 für Sopran und Klavier aus dem Jahr 1986.
    Hierbei handelt es sich um drei kurze verschlüsselte Botschaften, die anhand weniger Symbole einen Abschied, einen verhängnisvollen Entschluss und ein friedliches Ende skizzieren. Kurtág vertont nicht im traditionellen Sinn, sondern kommentiert über seine musikalische Gestaltung. Die Texte gewinnen erst durch seinen Zugriff fragmentarischen Charakter. Alles, was sich bei ihm nicht über das Wort mitteilt, wird über den musikalischen Verlauf als Subtext vermittelt.
    Musik: György Kurtág - "Drei alte Inschriften" op.25 für Sopran und Klavier
    Am Ende dieser Einspielung steht ein vierteiliger Zyklus aus dem Jahre 1969, ein Frühwerk des Komponisten. Die "Erinnerung an einen Winterabend" op.8 nach Texten des bedeutenden ungarischen Lyrikers Pál Gulyás. Der Zyklus mit eher romantischem Grundton und spirituell anmutenden Texten ist geprägt vom Dialog zwischen Stimme und Zymbal, wobei das Instrument nie begleitet, sondern immer nur das Wort reflektiert.
    Die Sopranstimme konfrontiert Kurtág gelegentlich durch den Einsatz der Violine und so entstehen sehr atmosphärische Momente. Im Mittelpunkt steht aber nicht die Vertonung der Sprache, sondern deutlich hörbar das erneute Gestalten in kleinen klingenden Gesten.
    Musik: György Kurtag - "Erinnerung an einen Winterabend" op.8
    THE EDGE OF SILENCE
    Works for Voice by György Kurtág
    Susan Narucki, Sopran
    Donald Berman, Klavier
    Curtis Macomber, Violine
    Nicholas Tolle, Zymbal
    Kathryn Schulmeister, Kontrabass
    Avie CD AV 2408, LC 11982
    EAN: 8 22252 24082 5