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Volksaufstand gegen Gesundheitsreform

Das Thema ist neu, aber der Tonfall der Empörung unverkennbar: Vor fast 15 Jahren sorgte Renate Hartwig für Aufsehen mit einem Buch über Scientology. Jetzt wendet sich Renate Hartwig anderen, neuen Themen zu und reitet eine fulminante Attacke gegen das deutsche Gesundheitswesen. Was von dieser Streitschrift zu halten ist, sagt ihnen Birgid Becker.

    Die Welt der Renate Hartwig ist übersichtlich. Sie teilt sich in Gute und Böse. Die Guten tragen weiße Kittel und arbeiten sich ab im Dienste der Mühseligen und Beladenen. Die Guten sind die Ärzte, präzise: die Hausärzte. Die Bösen, und jetzt braucht man einen langen Atem, die Bösen sind Krankenkassen, Kassenärztliche Vereinigungen, Gesundheitspolitiker, alle anderen Politiker, Krankenhausketten, Pharmakonzerne, Lobbyisten - kurz: Alle, die irgendwie mit dem Gesundheitswesen verbunden und eben keine Hausärzte sind. Das ist die Sicht der Renate Hartwig, die Sicht der "Mutter Courage des Sachbuches", wie sie von einem ihrer Verlage genannt wird.

    Eine Autorin, die sich verdient gemacht hat mit Aufklärungsarbeit über die Psycho-Sekte Scientology und die nun den "verkauften Patienten" im deutschen Gesundheitswesen betrauert. Nein, nicht nur betrauert, sie will ihn bewegen, ihren "verkauften Patienten", aufrütteln zu einer Art Volksaufstand - ganz im Ernst, nichts Geringeres soll es sein - zu einer Art Volksaufstand gegen einen gesundheitspolitischen Kurs, an dessen Zielpunkt Renate Hartwig die vollständige Übernahme der gesundheitlichen Versorgung der Bürger durch ominöse Kapitalgesellschaften, Investoren - kurz: den Markt - sieht.

    So wie es das Buch zum Film gibt, gibt es bei der umtriebigen Sachbuchschreiberin die zum Buch passende Patienteninitiative. Unter www.patient-informiert-sich.de ist die in ihren Sechzigern angekommene dreifache Mutter, von der ihre Verlage stets etwas ungenau sagen, sie komme "aus der Sozialarbeit", zu sehen und zu hören. Fast deckungsgleich zum Wortlaut ihres Buches beschreibt sie im Internet ein, so wörtlich, "Schlüsselerlebnis", das den Startschuss für ihren Marsch wider die herrschenden Mächte im Gesundheitswesen geliefert haben soll:

    "Sitz ich beim Hausarzt, der Hausarzt muss raus wegen einem Telefonat und auf diesem Bildschirm macht es auf einmal Klick. Und dann läuft da ein Band: Die Behandlungszeit für diesen Patienten ist abgelaufen. Und in dem Moment kommt der Arzt zurück und da sagt er: Ja, das sind die Folgen der Gesundheitsreform! Den möcht ich kennenlernen, der mir sagt, bei einem freien Arzt, wie lang ich mit dem rede darf und der mit mir!"
    Ist es Arglosigkeit, ist es Naivität, dass diese Videosequenz der von Renate Hartwig intonierten Patienten-Initiative mit dem Logo des Bayerischen Hausärzteverbandes startet? Der Verband ist die bayerische Sektion des so genannten Deutschen Hausärzteverbandes, einer von vielen Zusammenschlüssen im Gesundheitswesen. Die Ärzteschaft ist engmaschig segmentiert in diverse Interessenvertretungen, in Lobby-Gruppen. Neben dem Hausärzteverband gibt es allein für die niedergelassenen Mediziner noch mindestens zwei Konkurrenzverbände. Der Hausärzteverband ist also einer von vielen; man muss sich ihm nicht in der Weise anschließen, wie es Renate Hartwig tut.

    Das aber ist das Verblüffendste und Unverständlichste an der Sachbuchautorin Hartwig: Sie macht sich nahtlos die Standespolitik des Hausärzteverbandes zu Eigen - dessen Kritik am Abrechnungssystem, die Ablehnung all dessen, was als "integrierte Versorgung" die Gräben zwischen ambulanter und stationärer Versorgung im deutschen Gesundheitswesen überbrücken soll. Renate Hartwig repetiert die Abneigung der organisierten Hausärzteschaft gegenüber allem, was nach Einflussnahme der Krankenkassen aussieht, ja, sie ist sich nicht einmal zu schade, die Feindschaft zwischen dem Chef des Bayerischen Hausärzteverbandes und dem Chef der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns mit klarer Parteinahme zugunsten des ersteren seitenlang zu pflegen.

    Eine Fehde, die allenfalls für den kleinen Zirkel an Standespolitikern im Freistaat Bayern von Bedeutung ist, die aber nichts, wirklich gar nichts über den Zustand des deutschen Gesundheitswesens besagt. Um die Brücke zwischen ihrem ganz großen Anliegen, der Rettung des Patienten im maroden System, und dem standespolitischen Klein-Klein zu schlagen, versucht sich Renate Hartwig an einem eigentümlichen Manöver: Sie unterstellt, dass alles, was dem Hausarzt gut tut, sich auch segensreich für den Patienten auswirkt. Zu diesem Zweck malt sie ein Hausarzt-Idyll, das uns weit, weit zurückführt in Zeiten, als der Begriff Beitragsstabiltät noch nicht erfunden war.

    O-Ton Ewald Balser im Film "Sauerbruch - das war mein Leben":

    "Na, Morald, alter Junge ... sieht doch nicht schlecht aus!

    Hallo, das ist doch das Mariannle!

    Du musst dem Doktor schon antworten.

    Muttchen, etwas Geduld, ich will mir das Kind gleich ansehen. "

    Ewald Balser in seiner Rolle als Arztlegende Ferdinand Sauerbruch, von 1954 stammt der Film. Auf Leinwandgröße gestreckte Sehnsucht nach Autorität, Güte, nach dem Erlöser im weißen Kittel:

    O-Ton Ewald Balser in "Sauerbruch":

    "Die kranke Drüse muss weg!

    Aber das kann ich doch gar nicht bezahlen, Herr Professor, und die Krankenkasse zahlt schon längst nicht mehr.

    Aber ich rede doch gar nicht vom Bezahlen, ich rede von der einzigen Möglichkeit, Deine Frau zu retten! Das Geld hole ich mir schon von einem anderen, der es hat."

    Beiseite gelassen, dass es sich beim Film-Sauerbruch um einen Chirurgen handelt und mitnichten um einen Hausarzt: Renate Hartwig ist genau dieser erlöserhaften Arzt-Romantik verhaftet, die vom Idyll aus den Fünfzigern bis zur Schwarzwaldklinik in den Achtzigern und sogar in die Serienwelt unserer Tage reicht. Und genau das macht Renate Hartwigs Argumentation so zweifelhaft. Nein, den Problemen des Gesundheitswesens ist eben nicht beizukommen, wenn man nur den Mythos vom niedergelassenen, dem "freien" Hausarzt pflegt, der unbeschwert von materiellen Zwängen und bürokratischen Lasten nur dem Wohl seines Patienten verpflichtet ist.

    Und überhaupt, gab es denn je solche paradiesischen Zustände? Es gab sie nie! Es sei denn, man sehnte sich zurück nach Zeiten, in denen der Hausarzt mit Rezeptblock und den Zetteln für die Krankmeldungen am Stammtisch erschien. Na, Leute, wer braucht noch was? Diese, bis in die siebziger, achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts durchaus nicht seltene Praxis zu verklären, heißt, das Vertrauensverhältnis zum Arzt mit Kumpanei zu verwechseln. Das kann es ja wohl nicht sein.

    Die seltsame Parteilichkeit der Sachbuchautorin für die Sache der organisierten Hausärzteschaft bringt es mit sich, dass andere, durchaus ernst zu nehmende Warnungen, untergehen - im Gestrüpp der Standespolitik, der Politikerschelte, der Verschwörungstheorien, die bei Renate Hartwig üppig ins Kraut schießen. In diesem Dickicht jedoch dämmern durchaus auch nachvollziehbare Befürchtungen auf - etwa wenn die Autorin vor den Folgen einer zunehmenden Kommerzialisierung der Gesundheitsversorgung warnt:

    "Wir sind nämlich inzwischen ein Markt, ein Gesundheitsmarkt. Und da geht's um jährlich 240 Milliarden. Wenn ich recherchier' und sehe, wer zum Beispiel in diesem Gesundheitsmarkt auf einmal mit absahnen will, dann kriege ich nicht nur einen dicken Hals, sondern dann kriege ich hier die Panik! Meine größte Befürchtung ist, dass die Zielsetzung von so genannten Investoren über Medizinische Versorgungszentren den milliardenschweren Gesundheitsmarkt an sich zu ziehen, funktioniert. Und der Gesunde wird umworben und der Kranke und Alte muss sich echte Probleme machen, das des eintrifft."

    Bedenklich muss auch stimmen, dass Renate Hartwig in ihrem allzu anklägerischen, zuweilen strapaziös populistischen Ton dennoch die Stimmungslage der Kranken in diesem Gesundheitswesen trifft. Ihren Beifall findet sie bei den Verbitterten, den Enttäuschten, den Leidenden in und an diesem System. Schon das ist eine handfeste Anklage gegen das deutsche Gesundheitswesen. Traurig nur, dass die Klageführerin bei allem Engagement, bei allem Aufschimmern berechtigter Warnungen doch ziemlich ins Straucheln gerät. "Verkaufte Patienten"? Verirrte Autorin!

    Die Filmsequenzen entstammen dem Film "Sauerbruch - das war mein Leben", Erstausstrahlung 1954, aus der Reihe "Deutsche Filmklassiker" im Verleih von Warner Home Video, alle Rechte Black Hill Pictures GmbH.

    Misslungene Anklageschrift: Das war Birgid Becker über: Renate Hartwig: Der verkaufte Patient. Wie Ärzte und Patienten von der Gesundheitspolitik betrogen werden. Pattloch Verlag, 283 Seiten, Euro 16,95.