Samstag, 04. Mai 2024

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Volksmusik in Neuer Musik

Im Folgenden geht es um musikalische Entdeckungsreisen in fremde Kulturen. Diese ereignen sich sowohl geographisch als auch ästhetisch. Bei jenen, die sie unternehmen, führen sie zu bemerkenswerten Rückkopplungen. Avantgarde-Komponisten und -Interpreten in der Begegnung mit traditioneller Musik aus Korea, dem Orient und der Balkanregion:

Von Frank Kämpfer | 04.01.2009
    " Reinhold Friedl, batuta
    Ensemble Zeitkratzer
    CD Zeitkratzer Records, zkr 0002, LC 18747 "

    Die Annäherung beansprucht die Zeitlupe, um in den charakteristischen Rhythmus zu kommen. Dann aber wird Stück um Stück das Tempo forciert und die ganze Truppe dreht auf. So macht es in der Tat wirklich Spaß! Bei allem dabei schwer präzis zu Benennenden wird etwas Grundsätzliches klar: es geht nicht um Treue zum Werk oder um die Reinheit des Stils - die Beschäftigung mit dem Fremdem und Faszinierenden geschieht musikantisch, unreglementiert, kreativ.

    In diesem Fall hat sich die in Berlin ansässige, in der Tat aus Individualisten zusammengesetzte Neue-Musik-Formation "Zeitkratzer" auf Volksmusik eingelassen, wie sie entlang der Donau erklingt. Auf bayerische Jodler zum Beispiel, bulgarische Hirtenflöten, rumänische Tänze, magyarische Hackbrettmusik, oder - wie soeben zu hören - die hoch virtuose Musik der Roma-Kapellen. "Zeitkratzer" veranstaltet keinen musikalischen Museumsausflug; Pianist und Bandleader Reinhold Friedl und seine Mannen - darunter Trompeter Franz Hautziger und Cellist Anton Lukoszevieze - kombinieren Nicht-Zusammengehöriges, steigern sich in geradezu überbordende Spiellust, werden nie klangschön und glatt,

    Entscheidend für die Arbeit an diesem erfrischend aufstörenden Volks-Liedprojekt waren Aufenthalte von Schlagzeuger Maurice de Martin in Rumänien und in Bulgarien. Als Bearbeiter und Co-Komponist hat de Martin differenzierte Kenntnisse von ungeraden und schroff wechselnden Rhythmen, Melodien und Instrumenten balkanischer Volkskulturen in das Projekt eingebracht und in die Ästhetik von "Zeitkratzer" übertragen. Das Ensemble präferiert einen rauen, ungefiltert wirkenden Sound. Trotz aller Eingriffe, Einschnitte, klanglichen Übermalungen bleibt man stets nah am Original. Eigenschöpferisches hält sich - konträr zum ersten klanglichen Eindruck - in Grenzen; das wird deutlich in Titeln wie "Hora", einem halb improvisierten rumänischen Reigen, oder in "Sirba", wo sich Jüdisches und Traditionen der Roma vermischen. Ähnlich ist es beim folgenden "Holzlerruf", der aus einem ost-bayerischen Archiv transkribiert worden ist, und doch realitätsnah erklingt.

    " - Reinhold Friedl / Maurice de Martin, holzlerruf
    Ensemble Zeitkratzer
    CD Zeitkratzer Records, zkr 0002, LC 18747 "

    "Volksmusik" - ein Projekt des Ensemble "Zeitkratzer" aus Berlin. Auf der vorliegenden, im vergangenen Jahr erschienenen CD in der Ensemble-eigenen Editionsreihe erklingt ein Mitschnitt vom Donaufestival in Krems vom April 2007.


    Eine gänzlich andere Art der Anverwandlung von musikethonologischem Material findet sich bei Thomas Beimel. Auch Beimel, Jahrgang 1967, ist ein musikalischer Individualist, der sich aktiv in Austauschprozesse mit anderen Kulturen begibt. Er begeistert sich für außereuropäische Klänge und Dramaturgien, er nahm Privatunterricht in Bukarest bei Myriam Marbé, und Komponieren beginnt für ihn beim Improvisieren. Solche Wegmarken finden sich auch auf seiner neuen CD. Ein spanisches Wort, "Tinieblas" (dt. Finsternis), betitelt ein homophones, sich ab und an reizvoll auffächerndes Akkordeontrio, das auf Material gregorianischer Choräle zurückgreift. Hasret (dt. Sehnsucht) heißt ein türkisches Lied, dessen Gesangspart variabel erscheint. Mezzosopranistin Elmira Sebat und Musiker aus dem Umfeld der Formation Partita radicale realisieren die insgesamt sechs Kompositionen auf der CD sehr adäquat.

    Inner- wie außerhalb des musikalischen Parts geht es dem Wuppertaler Komponisten um das Kommunizieren. Musikalischer Gleichklang ist für ihn etwas Kostbares, meist interagieren Instrumente und Stimmen nur flüchtig. Exemplarisch dafür ist das Titelstück der CD - "Tanâvar", ein usbekischer Liebesgesang. Im Verhältnis von Querflöte, Posaune und Mezzosopran fügt sich nur wenig, wiewohl das Klingende fasziniert. Liebe - das versteckte Sujet vielleicht auch anderer Titel der Platte - definiert Komponist Beimel musikalisch: als lebendige Dissonanz. In diesem Fall inspirierten türkische, griechische, arabische Klänge aus dem Wuppertaler Stadtambiente. Ihren Niederschlag finden sie in der 17minütigen Deklamation allerdings nicht in Gestalt von Folklore; Vibrati, Glissandi, mikrotonale Verläufe fügen sich zu einem beinah unendlichen Melos, das Distanz wahrt und doch Nähe verrät.

    " Thomas Beimel, Tanavar
    CD Valve ‚4087, LC 05122 "

    Tanâvar - Werke von Thomas Beimel, im vergangenen Jahr beim Label VALVE erschienen.

    Je weiter wir uns von Europa entfernen, um so stärker wird beim Reflektieren der Grad der Abstraktion. So scheint es zumindest angesichts einer dritten CD, die ich Ihnen heute anspielen will. Komponist Christian Utz ist mit Fragen der Interkulturalität lange und bestens vertraut. Sehr mehr als zehn Jahren beschäftigt er sich als Komponist wie als Musikwissenschaftler mit Musikwelten Asiens. Genauer gesagt, er versucht, europäisch-asiatische Austauschprozesse zu initiieren - von Begegnungskonzerten bis hin zur Einbeziehung fremder Instrumente, Strukturen und Konnotationen in das eigene Werk.

    Eine vor einigen Wochen erschiene Platte mit vier Ensemble-Kompositionen von Christian Utz belegt dies aktuell. Die vier Titel mischen zunächst jeweils Instrumente und Spieler verschiedener Herkunft - aber es geht nicht um beider Fusion, sondern vielmehr um das Bewahren, das Zum-Klingen-Bringen des sehr Verschiedenen. Bezugnahme, Anverwandlung soll immer deutlich sein. Das Stück "Glasakkord" ist ein geeignetes Beispiel dafür. Shakuhachi und Sho einerseits, Streichtrio und Bassklarinette andererseits verleugnen sich nicht, beziehen sich jedoch auf etwas Drittes - auf klingendes Glas, das ähnlich wie alte japanische Hofmusik für etwas ‚frei Schwebendes' steht. Im Verhältnis dazu fast konkret wirkt das Stück "Repercussion. Camouflage. Report", das den Instrumenten elektroakustische Klänge beigibt und diese mit akustischen Dokumenten auflädt: den Stimmen von Bin Laden und Bush, vom Platz des himmlischen Friedens in Peking und von der Kapitulation Japans 1945.

    Die Musik, die ich Ihnen von dieser CD anspielen will, bezieht traditionelle Instrumente aus Korea mit ein. "together / apart", entstanden 2001, zielt nicht auf Nationalkolorit, sondern auf eine musikalische Gesamtkonstellation, die Unvereinbarkeiten nicht leugnet, aber handhabbar macht. Instrumentalwelten treffen auf Naturklänge und Elektronik - Schichtung von sehr Verschiedenem wird dabei zum Modell einer Gleichzeitigkeit, die alles erhält und jedem Phänomen Präsenz garantiert.

    " Utz, together / apart
    Ensemble on_line
    CD SRL4-08028. LC15543 "

    Begegnungen europäischer und asiatischer Instrumente und Klänge in Werken von Christian Utz. Die vom Ensemble on_line und Instrumentalsolisten produzierte CD ist beim Regensburger Label Spektral-Records erschienen. Zuvor habe ich Ihnen bei Valve verlegte Kammermusik von Thomas Beimel sowie das Volksmusik-Album der Berliner Formation Zeitkratzer angespielt.


    Reinhold Friedl, batuta
    Ensemble Zeitkratzer
    CD Zeitkratzer Records, zkr 0002, LC 18747

    - Reinhold Friedl / Maurice de Martin, holzlerruf
    Ensemble Zeitkratzer
    CD Zeitkratzer Records, zkr 0002, LC 18747

    Thomas Beimel, Tanavar
    CD Valve ‚4087, LC 05122

    Utz, together / apart
    Ensemble on_line
    CD SRL4-08028. LC15543