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Volksverführer mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung

An Biografien über Reichspropagandaminister Joseph Goebbels war auf dem deutschen Buchmarkt wahrhaftig schon bisher kein Mangel – nun erscheint eine weitere. Der deutsche Historiker Peter Longerich legt eine besonders umfangreiche Biografie über einen der größten Volksverführer des 20. Jahrhunderts vor.

Von Henry Bernhard | 15.11.2010
    "Lügen, heißt es, haben kurze Beine – nun betrachten Sie seine!" So charakterisierte Bertolt Brecht in "Arturo Ui", seiner berühmten Parabel auf die nationalsozialistische Machtergreifung, Joseph Goebbels – in Anspielung auf seinen Klumpfuß. Doch trotz aller Karikierung – die Person des Reichspropagandaministers, seines Zeichens einer der größten Volksverführer des 20. Jahrhunderts, hat bis heute etwas unheimlich Diabolisches an sich. Wohl auch daraus resultiert das ungebrochene Interesse der Zeitgeschichtler an Joseph Goebbels.

    Heute kommt eine neue Biografie über Hitlers treuesten Helfer in den Handel – aus der Feder des in London lehrenden deutschen Historikers Peter Longerich, der sich bereits mit einer Himmler-Biografie und Studien zum Holocaust und seiner Rezeption durch die deutsche Bevölkerung einen Namen gemacht hat.

    "Meine Berliner Volksgenossen und Volksgenossinnen, am vergangenen Sonntag begannen die Bolschewisten ihre Großoffensive an der Oder-Front, Berlin ist ihr Ziel. Ich bleibe mit meinen Mitarbeitern selbstverständlich in Berlin, auch meine Frau und meine Kinder sind hier und bleiben hier. Mit allen Mitteln werde ich die Verteidigung der Reichshauptstadt aktivieren. Mein Denken und Handeln gilt eurem Wohl und der Abwehr unseres gemeinsamen Feindes. An den Mauern unserer Stadt wird und muss der Mongolensturm gebrochen werden."

    Immerhin: In seiner letzten Rundfunk-Rede hat er nicht gelogen. Der Reichspropagandaminister und Gauleiter Berlins, Joseph Goebbels, am 21. April 1945, zwei Wochen vor Kriegsende. Der russische Geschützdonner drang bis ins Rundfunkstudio. Ein Teil der NS-Führungsspitze hatte sich schon aus dem umkämpften Berlin abgesetzt, aber Goebbels blieb. Mit dem Mord an seinen sechs Kindern, seinem Selbstmord und dem seiner Frau konnte Goebbels beweisen, dass er dem Führer treu in den Tod folgte, dass er seinen Leib für ihn hingab, dass sein dem Führer geweihtes Leben ohne den keinen Sinn mehr hatte.

    Peter Longerichs Grundthese ist: Goebbels habe an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung gelitten, die seine Wahrnehmung verzerrt und seine "vollkommen misslungene Vita" in jedem Augenblick geprägt habe:

    Goebbels ging es als Autor und Chefpropagandist des "Dritten Reiches" vor allem darum, einen Spiegel aufzustellen, in dem er sich selbst überlebensgroß sah. Vor diesem Spiegel konnte er seine narzißtische Sucht ausleben. Da ihm inneres Gleichgewicht wie äußere Sicherheit fehlten und er seiner Wirkung auf andere zutiefst misstraute, bedurfte er der ständigen Bestätigung, dass das großartige Bild im Spiegel tatsächlich ihn selbst, Joseph Goebbels, darstellte. Diese Bestätigung lieferte ihm sein selbstgewählter Führer, ein Gottgesandter, wie er glaubte, dem er sich unterordnete. Das Urteil dieses Idols wog um so schwerer, je vollkommener die Unterordnung war.

    Longerich beschreibt die Jugend Goebbels’ knapp, aber anschaulich: Die Kindheit, überschattet durch eine Krankheit, die einen Fuß lähmen wird, die erfolgreiche Schulzeit, die eher verträumte Studienzeit. Politik lässt den jungen Goebbels recht kalt. Er liest viel, will Schriftsteller werden, sucht nach seiner Bestimmung, nach Gott, der richtigen Frau. Er hat auch Kontakt zu Juden, das stört ihn zunächst kaum. Beruflich kann er schwer Fuß fassen. Er schreibt Dramen, Gedichte, kulturkritische Aufsätze; nur gelegentlich kann er etwas veröffentlichen. Er ist isoliert.

    Ich bin der Mittelpunkt und alles dreht sich um mich. ... Wie namenlos schwer ist die Qual der Seher! ... Hat Gott mich nach seinem Ebenbilde geschaffen, dann bin ich Gott wie er. ... Gibt mir der Himmel das Leben dazu, dann werde ich Erlöser sein.

    Allmachtsfantasien wechseln mit tiefen Depressionen. Ihm fehlt eine Richtung, ein Ziel. Mal tendiert er nach rechts, mal bezeichnet er sich als Kommunisten. Da entdeckt er 1924 die Nationalsozialisten und schließt sich an. Es sind zunächst weniger deren Ziele als das Charisma Adolf Hitlers, das ihn anzieht. Sein Leben hat endlich einen Sinn; er versteht sich als Kulturpolitiker. Sein anschwellender Antisemitismus bildet den negativen Fixpunkt einer immer noch verschwommenen Weltanschauung. Er positioniert sich am sozialrevolutionären Flügel der NSDAP, findet aber doch in Adolf Hitler seinen Messias.

    Goebbels, der mit seinem katholischen Glauben hadernd, so verzweifelt nach "Erlösung" verlangt hatte, war in seiner Phantasie zunächst selbst in die Rolle des "Erlösers" geschlüpft. Doch letztlich war er zu dem Schluss gekommen, dass dieser Führer-Erlöser ein anderer sein würde und er berufen war, unter dessen Jüngern der Erste zu sein. Er selbst konnte sich nur groß fühlen, wenn ein von ihm auserkorenes Idol ihn fortwährend bestätigte.

    Goebbels macht Karriere in der westdeutschen NSDAP, mit unklarer politischer Position, aber sicherem Instinkt für die Macht. Hitler schickt ihn 1926 als Gauleiter der Partei nach Berlin. Goebbels macht sich mit der kampfbereiten, sozialrevolutionären SA einen Namen und verbreitet Schrecken auf der Straße. Er schult sein enormes Redetalent und genießt es, mit seinen Artikeln in der Parteipresse pointiert und aggressiv aufzutreten. Mit antisemitischen Äußerungen provoziert er eine Flut von Klagen und Verurteilungen. Zwar hat die NSDAP in Berlin nicht die größten Erfolge im Reich, aber sie schlägt am meisten Lärm. Immer wieder bekennt er – öffentlich wie privat – seine "Liebe" zu Adolf Hitler, dessen Gunstbezeugungen er wie ein Süchtiger entgegennimmt. Wo immer Goebbels’ Anschauungen in Konflikt mit Hitlers geraten, passt er sich chamäleonartig an. Hitler weiß dies geschickt auszunutzen. Er macht ihn zum Reichspropagandaleiter, verspricht ihm immer wieder Ämter und Kompetenzen, die er nie erhalten sollte. Außerdem hält er ihn zeitlebens von zentralen machtpolitischen Entscheidungen, Gesprächen und Verhandlungen fern. Dann, nach den Reichstagswahlen am 4. März 1933, wähnt er sich endlich am Ziel: Sein Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda, wenn auch mit deutlich weniger Kompetenzen als erhofft.
    "Ich bin so glücklich. Welch ein Weg! Mit 35 Jahren Minister. Nicht auszudenken."

    "Die Menschen so lange zu hämmern und zu feilen zu meißeln, bis sie uns verfallen sind: Das ist eine der Hauptaufgaben des deutschen Rundfunks, eine der Hauptaufgaben der Sendegesellschaften, die sie zu betreuen haben."
    Im Amt eingeführt, macht er Presse, Film und Rundfunk schnell klar, worum es ihm geht: Indoktrination der Deutschen mit NS-Gedankengut, kritiklose Übernahme der Regierungswünsche, aber durchaus mit Unterhaltung und Zerstreuung verbunden. Innerhalb kurzer Zeit erreicht er eine fast totale Gleichschaltung, aber auch totale Langeweile, die er wiederum beklagt. Am wichtigsten ist ihm aber, die "Volksgemeinschaft" zu schaffen und zu präsentieren – die vollkommene Einheit von Führer, Partei und Volk –, mit Aufmärschen, Reden, Sonderaktionen, Eintopfsonntagen, der Winterhilfe ... Goebbels berauscht sich immer wieder an dem schönen Schein, den er selbst organisiert hat. Er glaubt seinen eigenen Lügen.

    Mit beträchtlicher Eigeninitiative hetzt er, ruft zu Gewalt und schließlich zur "Entjudung", Deportation und Auslöschung auf. Als Motiv findet Peter Longerich nicht etwa tief verwurzelten Judenhass, sondern im Antisemitismus ein Feld, auf dem sich Goebbels radikal profilieren konnte, ohne Risiken für seine Karriere einzugehen.

    Longerich gelingt es, Goebbels’ Leben sehr facettenreich darzustellen, seinen Hunger nach Anerkennung, seine getriebene Persönlichkeit. Er beschreibt Goebbels jedoch als einen in all seinen Bemühungen gescheiterten Mann. Nichts, was er angepackt habe, hätte wirklich funktioniert, überall sei er spätestens auf halbem Wege gescheitert. Sicher kann man Goebbels’ Vita so lesen, allerdings nur, wenn man die Erfolge seiner Propaganda außer acht lässt. Zwar waren sie sicher nie so monströs wie in Goebbels’ Eigenwahrnehmung, aber doch groß genug, um zumindest einen großen Teil der Deutschen über lange Zeit zu verführen.

    Das größte Problem der Biografie ist jedoch, dass sich Longerich selten über die Beschreibung der Tatsachen erhebt. Er bleibt auch da deskriptiv, wo Analyse gefragt wäre: Wenig findet sich über Goebbels’ Sprache, seine Rhetorik, seine Wirkung auf andere. Longerichs These von der narzisstischen Persönlichkeitsstörung bleibt eine sicher richtige Behauptung, die am Anfang und am Ende des Buches aufgestellt wird, im Haupttext jedoch eine zu geringe Rolle spielt. So ist es dem Autor gelungen, eine faktenreiche Biografie vorzulegen und Goebbels’ Selbstbild als Genius zu dekonstruieren – der ganz große Wurf ist das Buch jedoch nicht.


    Peter Longerich: Joseph Goebbels. Biografie.
    Siedler Verlag, 912 Seiten, Euro 39,99
    ISBN: 978-3-886-80887-8