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Vom abgrundtiefen Menschenelend

Einen handfesten Skandal hat Gerhart Hauptmanns Stück "Vor Sonnenaufgang" bei seiner Uraufführung ausgelöst: Die Aufführung 1889 gilt in der Theatergeschichte als die Geburtsstunde des deutschen Naturalismus. In dem Stück geht es um das Elend in einer schlesischen Bergbau-Region und das Bestreben, Geld zu machen. David Bösch, mit Anfang 30 ein gefragter Jungregisseur, hat das Stück nun am Hamburger Thalia Theater auf die Bühne gebracht.

Von Michael Laages | 08.02.2009
    Was für ein Pandämonium sich dieser Twen aus schlesischer Provinz da zusammen gebastelt hatte, was für ein schauerliches Schreckens-Nest, destilliert aus wahrscheinlich höchstpersönlichen Recherchen in der näheren heimatlichen Nachbarschaft! In Witzdorf herrschen der Suff und das Kapital in ekliger Ehe - die Heimischen hängen an der Flasche und treiben Inzest oder wenigstens Ehebruch; und die Zugereisten bringen zum einen Arbeit und Geld ins debile Dorf, mit Eisenbahn und Kohleförderung, beuten die Bewohner dafür jedoch aufs elendigste aus. Hier nun treffen alte Freunde mit ehedem gemeinsamen Zukunftsträumen aufeinander - Hoffmann, der eine, ist Profiteur der Industrialisierung vor Ort, Loth, der andere, hat sein irdisches Dasein ganz dem Kampf gegen eben dieses wirtschaftliche Elend geweiht; der eine setzt auf Pragmatismus

    " Na man muss ja nicht mit dem Kopf durch die Wand. Praktisch muss man vorgehen."

    ... auch im Sozialen (erst geht's der Wirtschaft gut, dann den Menschen); der andere sah eines Tages ein ausgemergeltes Arbeiter-Wrack aus der Seifensiederei auf der Straße verrecken - und das hat sein Leben verändert:

    "Schon ein kleines Stück Seife, bei dem niemand auf der Welt sich etwas denkt, schon ein paar gepflegte Hände können einen da in die finsterste Stimmung versetzen."

    Privat haben sie beide bezahlt - Hoffmann, in der Hamburger Inszenierung schon stark infiziert von der ortsüblichen Trunksucht, wird von der alkoholisch durchseuchten Gattin nie Kinder bekommen; am Ende ist wieder eins tot geboren worden. Loth dagegen hat das eigene Ideal derart erlösermäßig über das eigene Selbst gestellt, dass er (trotz aller Erotik, die sein Idealismus durchaus ausstrahlt) unfähig ist, den einzigen "richtigen" Menschen aus dieser Hölle zu retten - Helene, Hoffmanns Schwägerin, gefährdet wie alle hier, aber offen und bereit für die Flucht. Vor dieser Flucht mit ihr (und weil er erfährt, dass die junge Frau als Kind vom Vater missbraucht wurde) flieht schließlich Loth; allein - eine wie "die" kann "ideal" nicht sein für ihn. So sieht die Verblendung der Heilsbringer aus.

    Was für ein Stück - gerade nach Abzug alles zeitgenössisch völlig überholten Denkens in Hauptmanns Text, und auch wenn wir derart abgrundtiefes Menschenelend hierzulande vielleicht nicht mehr von Angesicht kennen. Aber an den Rändern der Mega-Metropolen von Lagos über Sao Paulo bis Mexiko-City werden wir es schon finden. "Vor Sonnenaufgang" ist, damals wie heute, ein Diskurs über die Frage, wie wir leben wollen - und darüber hinaus prall von Theater-Leben. Regisseur Bösch und Bühnenbildner Patrick Bannwart haben diese Welt an den schwarzen Hang eine Abraumhalde geworfen, wie gleich hinter Zeche Victoria, wo im Dreck noch Restchen vom Glücksversprechen blinken und funkeln wie darüber die Sterne; davor links ein Haufen voller und leerer Flaschen, rechts eine Rumpelkammer voller Spielzeug, aber auf ewig ohne Kind. Ein geistig behinderter Cowboy kurvt hier zuweilen mit dem Kinderfahrrad rum, er ist in Helene vernarrt, muss aber deren vollkommen neureich-überkandidelte Stiefmutter beglücken - wer aus dem Reich dieser armen Irren fliehen will, muss weit hinauf, um hinaus zu kommen; dorthin, wo die Sonne aufgehen könnte.

    Der Abend beginnt grausam - schwachsinnig, aber mit Methode. Und mit der Hauptperson des Abends.

    HELENE: " Ja hallo erst mal - ich weiß nicht, ob Sie das schon wussten: aber ich bin ein echtes Witzdorfer Bauernmädel. Juchhu! ""

    Das ist die Fassade vom glücklichen "WIZDOAF", wie es in Vorort-Jugend-Sprech auf dem Eisernen Vorhang steht: Helene, die auch Hoffmann gern als Nebenfrau und Ersatz-Mutter hätte, spielt Alltag. Und klammert sich dann an den "Eisernen", als der hochfährt: Bloß nicht zeigen, was und wie es wirklich ist!

    Von diesem Moment an hat der Abend gewonnen. Knapp und klar aufs Wesentliche reduziert, polemisch, pointiert und gar nicht oberflächlich (das war sonst zuweilen Böschs Problem), hart und heftig in den Bildern, schließlich mit zwei prächtigen "alten Freunden" besetzt (Norman Hacker und Peter Jordan) sowie (in der Rolle der Frau dazwischen) dieser Paula Dombrowski, die schon einige Aufführungen in den vergangenen Thalia-Jahren an sich zu reißen verstand. Aber noch keine wie diese. Ein Ereignis.

    Ach ja, nach üblichen Thalia-Maßstäben, also was den oft reichlich hysterischen Premieren-Jubel angeht, ist diese Inszenierung übrigens durchgefallen. Da ist das Publikum aber selber schuld.