Es ist der sich in Bobbios theoretischem Werk und in seiner Person spiegelnde Zusammenhang zwischen Resistenza und italienischer Demokratie, der revisionistischen Geschichtsperspektiven zu schaffen macht. Italiens verstorbener Historiker Renzo de Felice wollte Resistenza und Mussolinis Republik von Salo als "differenzierte" Einheit verstehen: Als zwei Seiten "einer" Geschichte. Was faktisch eine Abwertung des Partisanenkampfes bedeutet. Und Italiens Demokratie ein anderes Fundament verleiht.
Bobbios Behauptung eines "authentischen Lebens" hat außerdem methodische Folgen. Revisionistische Geschichtstheorien lieben es, mit Fakten, Dokumenten, Zahlen zu argumentieren. Sie wollen sich objektiv einer Epoche zuwenden, der es an effektiven Besetzungen im historischen Urteil nicht fehlt. Bobbio ist mit seinem Leben in diese Epoche zu verwickelt, um mit einer voraussetzungslosen historischen Betrachtungsweise einverstanden zu sein. Es ist ein Irrtum, meint Bobbio, sich "objektiv" hinter Fakten verschanzen zu wollen - notwendig ist, seine Voraussetzungen und sein Erkenntnisinteresse mitzudenken und zu formulieren. Das zeigt: Mit einer Autobiographie Bobbios, in der seine Voraussetzungen, Lebensstationen und Entscheidungen als Fundament eines politischen und philosophischen Werkes zur Sprache kommen, war durchaus zu rechnen. Zumal im vergangenen Herbst eine kleinere, sehr persönliche Schrift erschienen war, die mittlerweile auf deutsch vorliegt: "Vom Altern - De Senectute".
Im Titel "De Senectute" lehnt sich Bobbio an ein Werk Ciceros an, das im Jahre 44 vor Christus entstand. In dialogischer Form preist Cicero das Alter als weise und tugendhafte Lebensphase, dem Tode nahe, der als Befreiung der Seele vom ephemeren Leib verstanden wird. Wer alt ist, hat eine Reife erlangt, die es erlaubt, als Philosoph zu leben und erhabene Werke zu verfassen.
Bobbio hingegen spricht dem Alter keine Erhabenheit und Tugend zu. Er bricht nicht aus Laune, er bricht aus Notwendigkeit mit einer tradierten Auffassung, zu der Individuen und Gesellschaft heute keine Verbindung mehr haben. Bobbios Altersreflexionen tragen einem factum brutum Rechnung, wenn er etwa provozierend wissen will "welche Weisheit?" man einem Alter bescheinigen soll, das sich am geschichtlichen und technologischen Prozess, der sich zusehends beschleunigt, nicht beteiligen kann. Mag man einem jungen oder mittelalten Menschen nicht Weisheit im traditionellen Sinne attestieren - faktisch "weiß" er mehr, besitzt ein "know how", das notwendig ist, um das sich rasend akkumulierende Wissen fruchtbar zu machen, mindestens zu "verwalten": Seinen Computer, bemerkt Bobbio am Rande und ironisch - wenn er sonst eher schonungslos, sarkastisch und gelegentlich bitter ist -, habe er bis heute nicht benutzt. Medizinischer Fortschritt, der eine allgemein hohe Lebenserwartung zur Folge hat, und wachsende Marginalisierung im Alter sind sich widersprechende Ergebnisse eines gesellschaftlichen Prozesses. Wo dieser Widerspruch erfahren wird, im Individuum, ist er fast nicht zu ertragen.
Norberto Bobbios Reflexionen beschwichtigen nie, siedeln nah an Erfahrungen von Verzweiflung und Aussichtslosigkeit. Und es ist nicht Eitelkeit, es ist Aufrichtigkeit, wenn Bobbio von seinen Erfahrungen, von sich spricht. "Ich habe keine Philosophie, ich habe bloß Nerven", zitiert er einen japanischen Poeten, Bobbio bekennt seine Verletzlichkeit, verschweigt nicht seine Furchtsamkeit und seinen Zorn - der im Alter an Feurigkeit verloren habe und einem an privaten und gesellschaftlichen Ereignissen eher komische Seiten wahrnehmenden Abstand Platz mache -, um an allem Denken das erkennen, was es bedingt. In seinen abstraktesten Regionen sublimiert es leibhafte und individuelle Erfahrungen. Bobbio relativiert seinen schopenhauerianisch anmutenden "kosmischen Pessimismus", der seinen "historischen Pessimismus" einschließt, wenn er an anderer Stelle bemerkt, Pessimismus sei keine Philosophie, er sei eine seelische Verfassung: "Ich bin ein Pessimist aus Laune, kein Pessimist des Begriffs." Relativieren heißt nicht: abmildern. Skeptisch stemmt sich Bobbio freilich gegen einen Pessimismus, der philosophisch totalisiert wird.
Skepsis zeichnet Bobbios Denken aus. Er bezieht sie leidenschaftlich auf sich, sein Alter, seine fehlerhaften Eigenschaften, und das kennzeichnet sie als ethische Skepsis. Etwa wo er seine Alterserfahrung beschreibt, sich lieber an vertraute Ideen zu klammern als neue Ideen wahrzunehmen: "Ab einem bestimmten Alter - heißt es im Buch - werden Neuerer mit Argwohn betrachtet." Zwar bleibe man neugierig, leide allerdings am Mangel intellektueller Energie und einem objektiv anschwellenden Wissen.
Bobbios Bekenntnis, das etwas Tragisches hat, ist Ausgangspunkt einer Ethik des Dialogs, der wahrhaftig ist. Im Dialog sollen Ideen sich gegenseitig erhellen, klarer werden - was, möge man auch besten Willens sein, freilich selten geschehe. Bobbio ist zu erfahren, um nicht von faktischen Herrschaftsstrukturen im Diskurs zu wissen und sie, pessimistisch, in Rechnung zu stellen.
Ja, Bobbios Buch, das vom Zusammenbruch einer Altersweisheit und Erfahrung preisenden Tradition handelt, dementiert seinen kritischen Befund - und das ist nicht sein geringster Reiz. Ob es Bobbios Respekt vor klassischen Autoren ist oder die mit Bescheidenheit sich verbindende Klugheit - Bobbios Reflexionen atmen Weisheit und seine im besten Sinne altmodischen Tugenden.
"De Senectute" ist ein politisches Buch, das einen Bogen von privaten Bekenntnissen zu einer allgemeineren Reflexion des Alters spannt, zum Beispiel in seiner Kritik an einem Markt, der bloß Konsumenten kennt und Slogans vom Schlage "Alter ist Schönheit" verbreitet, die Ciceros traditionelle Lobpreisung des Alters miserabel ersetzen. Als Kategorie kommerziellen Interesses, verliert das umworbene Alter seine letzte Erhabenheit. Und Bobbio zitiert extreme Gegenbeispiele von Verzweiflung und Tristesse im Alter, um zumindest einen negativen Rest an menschlicher Würde zu retten. "Ich bin 83", sagt eine Stickerin, "ich bin zu alt. Ich wäre lieber tot: Niemandem bedeute ich etwas, niemand auf der Welt weiß, daß ich existiere." "Du weißt, daß die Vergangenheit alles ist, was dir blieb", ermahnt sich Bobbio am Schluß seiner Altersreflexionen, "laß nicht ab, deine Grabungen fortzusetzen ... jeder Moment, jede Geste, jedes Wort, die du wiederfindest, die für immer verloren schienen, helfen dir zu überleben."
Bobbios Behauptung eines "authentischen Lebens" hat außerdem methodische Folgen. Revisionistische Geschichtstheorien lieben es, mit Fakten, Dokumenten, Zahlen zu argumentieren. Sie wollen sich objektiv einer Epoche zuwenden, der es an effektiven Besetzungen im historischen Urteil nicht fehlt. Bobbio ist mit seinem Leben in diese Epoche zu verwickelt, um mit einer voraussetzungslosen historischen Betrachtungsweise einverstanden zu sein. Es ist ein Irrtum, meint Bobbio, sich "objektiv" hinter Fakten verschanzen zu wollen - notwendig ist, seine Voraussetzungen und sein Erkenntnisinteresse mitzudenken und zu formulieren. Das zeigt: Mit einer Autobiographie Bobbios, in der seine Voraussetzungen, Lebensstationen und Entscheidungen als Fundament eines politischen und philosophischen Werkes zur Sprache kommen, war durchaus zu rechnen. Zumal im vergangenen Herbst eine kleinere, sehr persönliche Schrift erschienen war, die mittlerweile auf deutsch vorliegt: "Vom Altern - De Senectute".
Im Titel "De Senectute" lehnt sich Bobbio an ein Werk Ciceros an, das im Jahre 44 vor Christus entstand. In dialogischer Form preist Cicero das Alter als weise und tugendhafte Lebensphase, dem Tode nahe, der als Befreiung der Seele vom ephemeren Leib verstanden wird. Wer alt ist, hat eine Reife erlangt, die es erlaubt, als Philosoph zu leben und erhabene Werke zu verfassen.
Bobbio hingegen spricht dem Alter keine Erhabenheit und Tugend zu. Er bricht nicht aus Laune, er bricht aus Notwendigkeit mit einer tradierten Auffassung, zu der Individuen und Gesellschaft heute keine Verbindung mehr haben. Bobbios Altersreflexionen tragen einem factum brutum Rechnung, wenn er etwa provozierend wissen will "welche Weisheit?" man einem Alter bescheinigen soll, das sich am geschichtlichen und technologischen Prozess, der sich zusehends beschleunigt, nicht beteiligen kann. Mag man einem jungen oder mittelalten Menschen nicht Weisheit im traditionellen Sinne attestieren - faktisch "weiß" er mehr, besitzt ein "know how", das notwendig ist, um das sich rasend akkumulierende Wissen fruchtbar zu machen, mindestens zu "verwalten": Seinen Computer, bemerkt Bobbio am Rande und ironisch - wenn er sonst eher schonungslos, sarkastisch und gelegentlich bitter ist -, habe er bis heute nicht benutzt. Medizinischer Fortschritt, der eine allgemein hohe Lebenserwartung zur Folge hat, und wachsende Marginalisierung im Alter sind sich widersprechende Ergebnisse eines gesellschaftlichen Prozesses. Wo dieser Widerspruch erfahren wird, im Individuum, ist er fast nicht zu ertragen.
Norberto Bobbios Reflexionen beschwichtigen nie, siedeln nah an Erfahrungen von Verzweiflung und Aussichtslosigkeit. Und es ist nicht Eitelkeit, es ist Aufrichtigkeit, wenn Bobbio von seinen Erfahrungen, von sich spricht. "Ich habe keine Philosophie, ich habe bloß Nerven", zitiert er einen japanischen Poeten, Bobbio bekennt seine Verletzlichkeit, verschweigt nicht seine Furchtsamkeit und seinen Zorn - der im Alter an Feurigkeit verloren habe und einem an privaten und gesellschaftlichen Ereignissen eher komische Seiten wahrnehmenden Abstand Platz mache -, um an allem Denken das erkennen, was es bedingt. In seinen abstraktesten Regionen sublimiert es leibhafte und individuelle Erfahrungen. Bobbio relativiert seinen schopenhauerianisch anmutenden "kosmischen Pessimismus", der seinen "historischen Pessimismus" einschließt, wenn er an anderer Stelle bemerkt, Pessimismus sei keine Philosophie, er sei eine seelische Verfassung: "Ich bin ein Pessimist aus Laune, kein Pessimist des Begriffs." Relativieren heißt nicht: abmildern. Skeptisch stemmt sich Bobbio freilich gegen einen Pessimismus, der philosophisch totalisiert wird.
Skepsis zeichnet Bobbios Denken aus. Er bezieht sie leidenschaftlich auf sich, sein Alter, seine fehlerhaften Eigenschaften, und das kennzeichnet sie als ethische Skepsis. Etwa wo er seine Alterserfahrung beschreibt, sich lieber an vertraute Ideen zu klammern als neue Ideen wahrzunehmen: "Ab einem bestimmten Alter - heißt es im Buch - werden Neuerer mit Argwohn betrachtet." Zwar bleibe man neugierig, leide allerdings am Mangel intellektueller Energie und einem objektiv anschwellenden Wissen.
Bobbios Bekenntnis, das etwas Tragisches hat, ist Ausgangspunkt einer Ethik des Dialogs, der wahrhaftig ist. Im Dialog sollen Ideen sich gegenseitig erhellen, klarer werden - was, möge man auch besten Willens sein, freilich selten geschehe. Bobbio ist zu erfahren, um nicht von faktischen Herrschaftsstrukturen im Diskurs zu wissen und sie, pessimistisch, in Rechnung zu stellen.
Ja, Bobbios Buch, das vom Zusammenbruch einer Altersweisheit und Erfahrung preisenden Tradition handelt, dementiert seinen kritischen Befund - und das ist nicht sein geringster Reiz. Ob es Bobbios Respekt vor klassischen Autoren ist oder die mit Bescheidenheit sich verbindende Klugheit - Bobbios Reflexionen atmen Weisheit und seine im besten Sinne altmodischen Tugenden.
"De Senectute" ist ein politisches Buch, das einen Bogen von privaten Bekenntnissen zu einer allgemeineren Reflexion des Alters spannt, zum Beispiel in seiner Kritik an einem Markt, der bloß Konsumenten kennt und Slogans vom Schlage "Alter ist Schönheit" verbreitet, die Ciceros traditionelle Lobpreisung des Alters miserabel ersetzen. Als Kategorie kommerziellen Interesses, verliert das umworbene Alter seine letzte Erhabenheit. Und Bobbio zitiert extreme Gegenbeispiele von Verzweiflung und Tristesse im Alter, um zumindest einen negativen Rest an menschlicher Würde zu retten. "Ich bin 83", sagt eine Stickerin, "ich bin zu alt. Ich wäre lieber tot: Niemandem bedeute ich etwas, niemand auf der Welt weiß, daß ich existiere." "Du weißt, daß die Vergangenheit alles ist, was dir blieb", ermahnt sich Bobbio am Schluß seiner Altersreflexionen, "laß nicht ab, deine Grabungen fortzusetzen ... jeder Moment, jede Geste, jedes Wort, die du wiederfindest, die für immer verloren schienen, helfen dir zu überleben."