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Vom Aussterben bedroht

Seit mehr als 100 Millionen Jahren schwimmen die Meeresschildkröten durch die Ozeane. Sie erlebten die Dinosaurier und sahen sie wieder verschwinden – aber ihnen ging es immer gut – bis vor gar nicht langer Zeit:

von Dagmar Röhrlich |
    In den alten Tagen gab es viele, viele von ihnen. Die Seefahrer haben sie sogar mit an Bord genommen, als Frischfleischvorrat.

    Helen Martins von der Universität der Azoren in Horta. Heute sind alle Arten der Meeresschildkröten bedroht: einige, etwa die Lederschildkröte, stehen kurz vor der Ausrottung. Die Gründe sind vielfältig, etwa die Wilderei:

    Ein weiteres Problem ist der Müll im Meer. Wenn wir eine tote Schildkröte finden und eine Autopsie an ihr durchführen, dann finden wir fast immer Plastiktüten in ihren Mägen und Öl.

    Denn Meeresschildkröten fressen alles: Am liebsten Quallen, aber auch Seegras – und leider Plastiktüten oder Öltropfen, die sie mit ihrer Leibspeise verwechseln. Ein Beispiel sind die Karett-Schildkröten. Sie jagen besonders gerne Quallen und Tintenfische: genau wie der Große Schwertfisch. Und das ist ihr Verderben. Gleiche Jagdbeute bedeutet, dass beide nach denselben Ködern schnappen. Pro Jahr landet jede zweite der 67.000 Karett-Schildkröten, die es weltweit noch gibt, an den Haken der Langleinenfischerei nach Schwertfischen. Als wertloser Beifang werden sie zwar wieder über Bord geworfen – aber 3000 bis 6000 Tiere überleben das nicht. Jährlich sterben also fünf bis zehn Prozent der Weltpopulation an Karett-Schildkröten:

    Das ist ein sehr schlimmes Problem, das wir zu lösen versuchen. Wir machen Experimente, um den Beifang zu reduzieren. Weil statt der Schwertfische viele, viele, viele Karett-Schildkröten die Haken schlucken, versuchen wir, einen Haken zu finden, der nicht so viele Opfer unter den Schildkröten fordert – und das ist nicht nur für die Azoren wichtig, sondern für die ganze Welt.

    Dazu fahren die Meeresbiologen mit den kleinen Booten der Azorenfischer hinaus und verteilen – streng nach statistischen Regeln – die unterschiedlichsten Haken über die kilometerlangen Langleinen. Dann zählen sie, an welchem Hakentyp wie viele Schildkröten hängen:

    Hier haben wir die unterschiedlichen Haken. Der hier sieht aus wie ein gerades J, bei dem ist das J verdreht – und das hier ist ein kreisförmiger Haken. Am häufigsten wird dieser gerade J-förmige Haken eingesetzt, aber er ist der schlimmste, wenn man von dem bei den Japanern üblichen Fischerhaken absieht, an dem mehr Schildkröten enden als an allen anderen zusammen. Am besten ist dieser runde hier, und der lässt sich auch am leichtesten wieder aus dem Maul der Tiere entfernen.

    Denn das sollten die Fischer eigentlich tun. Die Azorenfischer lernen, dass sie die Schildkröten nicht einfach abschneiden und über Bord werfen. Wird die Schildkröte den Haken nämlich nicht los, verhungern die Tiere vor Afrika, wohin sie kraftlos mit den Meeresströmungen getrieben werden. Da die Azorenfischer nur mit kleinen Booten herausfahren, haben sie die Zeit, den Haken aus dem Maul zu entfernen. Anders ist das bei den großen Industrietrawlern, die fabrikmäßig Schwertfische fangen und verarbeiten:

    Wir fürchten, dass das für die Meeresschildkröten sehr schlimm wird. Diese Fischer wissen nicht, wie man die Schildkröten vom Haken nimmt, sie haben auch keine Zeit dazu, sie machen sich nicht die Mühe. Ich glaube nicht, dass die Meeresschildkröten heute noch eine große Chance haben. Aber noch gibt es Karett-Schildkröten, noch ist der Bestand nicht zu klein, und viele Menschen arbeiten an ihrer Zukunft.

    Seien wir also optimistisch. Aber – ab August dürfen nach einer neuen EU-Regelung die Industrietrawler bis auf 100 Meilen vor den Azoren fischen. Damit droht eines der letzten Habitate für Meeresschildkröten verloren zu gehen, fürchtet Helen Martins.