Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Vom Aussterben der Familie

In Frank Schirrmachers "Minimum" über das Familiensterben läuft die Argumentation auf einen Mangel an Vorbildern hinaus. Das ist zu wenig Erkenntnis für ein Buch, das von der Evolutionsbiologie bis hin zur Mythologie zahlreiche Quellen bemüht, um die Stärke der Familie in Erinnerung zu rufen.

Von Leander Scholz | 10.03.2006
    Christlichen Sekten der Spätantike erschien die Welt dermaßen verdorben und verfallen, dass sie der Gemeinde die eigene Fortpflanzung verbaten. Sich nicht fortzupflanzen, keine Kinder mehr zu zeugen, war diesen Christen die größtmögliche Verachtung, mit der sich im sündigen Diesseits ausharren ließ. Jede wei-tere Geburt, jedes neue Leben bedeutete nichts anderes als eine sinnlose Hinauszögerung des nahen Endes der Welt, des jüngsten Gerichts, das mit allem Diesseitigen abrechnen würde. Keine Kinder mehr in diese korrupte Welt zu setzen, hieß, dem baldigen Ende der Welt, der erhofften Erlösung, näher zu kommen. Gottesfürchtig war derjenige, der sich nicht vermehrte.

    Liest man das neue Buch von Frank Schirrmacher, kann man den Eindruck bekommen, den Heutigen könnte das gelingen, was diesen Christen nicht gelungen war. Seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts sinkt die Geburtenrate kontinuierlich. Und es gibt keinen Grund, warum sich diese Tendenz ändern sollte. Schirrmachers Buch trägt den schlichten Titel "Minimum". Gemeint sind damit die familiären Beziehungen, die sich immer weiter minimalisiert haben, von der Großfamilie zur Kleinfamilie und schließlich zur Ein-Kind-Familie.

    Schirrmachers Thema ist das Aussterben der Familie, das Verschwinden verwandtschaftlicher Beziehungen. Ganze Generationen wachsen ohne Geschwister auf, Kinder kennen keine Tanten und Onkel mehr, größere Familienverbünde werden immer seltener. Die Familie stellt längst nicht mehr den Normalfall der sozialen Reproduktion dar.

    Noch vor ein paar Jahrzehnten waren mit der Auflösung familiärer Strukturen große Hoffnungen verbunden. Eine ganze literarische Epoche hatte sich an übermächtigen Vater- und Mutterfiguren abgearbeitet. Freuds Psychoanalyse war im Kern eine Analyse familiärer Gewalt. Nun, da die Gründung einer Familie tatsächlich nicht mehr zu den Selbstverständlichkeiten des Lebens gehört, scheint Panik auszubrechen. Die schwindende Dominanz der Familie bedeutet für Schirrmacher nichts Geringeres als eine so-ziale Katastrophe. Denn mit der Familie verschwinden auch Verhaltensweisen, die das Überleben einer Gemeinschaft sichern: Altruismus, Opferbereitschaft und Fürsorge.

    Dass es sich hierbei um Tugenden handelt, die seit dem 18. Jahrhundert immer wieder als weibliche Tugenden be-schrieben wurden, ist sicherlich kein Zufall. Und ebensowenig darf man es als nicht als einen Zufall ansehen, dass Schirrmacher den Begriff der Gemeinschaft benutzt und nicht von Gesellschaft spricht. Der Untertitel seines Buches lautet "Vom Vergehen und Neuentstehen unserer Gemeinschaft". Der Sozialstaat verschwindet. Die Familie löst sich auf. Übrig bleiben bloß noch individualistische Einzelkämpfer, die im Notfall unfähig sind, zusammenzuhalten. Übrig bleibt nur noch Kälte. Soweit Schirrmachers düstere Prognose über die Zukunft des sozialen Zusammenhalts.

    Die unausgesprochene These, die dieses Plädoyer für die Familie steuert, geht davon aus, dass kollektive Tugenden vor allem in der Familie erlernt werden. Büßt die Familie ihre gemeinschaftsstiftende Funktion ein, so verliert auch die Gesellschaft im Ganzen ihren Zusammenhalt. Tatsächlich aber stellen sich die Dinge komplexer dar. So hinterfragt Schirrmacher an keiner Stelle das längst widerlegte Argument, Einzelkinder seien egoistischer als Kinder, die mit Geschwistern aufwachsen. Es hätte dem Buch gut getan, einen Blick auf die historisch unterschiedlichen Verhaltensmuster zu werfen, die in der Familie erlernt werden. Stattdessen bemüht das Buch eine ganze Reihe von Urwörtern - Schirrmacher spricht von der Familie als der Urgewalt oder dem Urvertrag - und übergeht damit die historischen Konstellationen, in denen die Familie als gemeinschaftsstiftender Ort erscheint.

    Was die Antike unter einem Familienverbund verstand, ist etwas völlig anderes als das, was wir heute unter einer Kleinfamilie verstehen. Nun mag der eine oder andere zwar noch seine Ahnentafel aufstellen, aber niemand betrachtet seine Handlun-gen mehr im Hinblick auf die lange Reihe seiner Ahnen. Die Ge-schich-te des Abendlands ist in dieser Hinsicht nichts anderes als eine Auflösungsgeschichte der großen Familienverbände, die spätestens mit der griechischen Polis ihren Anfang nahm. Ohne diese lange Vorgeschichte würden wir heute sicherlich nicht akzeptieren, dass der Staat sehr weit in die Erziehung der Kinder hineinregiert. Wenn ein Mann und eine Frau sich gegenwärtig dafür entscheiden, ein Kind zu zeugen, tun sie dies allein aus einem Glücksversprechen heraus, das, wie jedes andere Glücksversprechen, enttäuscht werden kann. Aber sie tun es nicht, weil sie der Meinung sind, den Ahnen, dem Land, der Nation oder auch allgemein der Gesellschaft dieses Kind schuldig zu sein. Ein Kind zu zeugen, ist zu einer individuellen Angelegenheit geworden.

    Weil alle anderen Imperative zur Familiengründung ausgefallen sind, bleibt Schirrmacher zuletzt nichts anderes übrig, als die Un-ter-haltungsindustrie für die-se Misere verantwortlich zu machen. Die Vorabendserien, die uns allabendlich Helden ohne Kinder vorspielen, seien der Grund für die mangelnde Bereitschaft, Kin-der in die Welt zu setzen. Die vielfältigen kulturellen, sozialen, politischen und ökonomischen Hintergründe für das Aussterben der Familie sind auf diese Weise nicht in den Blick zu bekommen.

    Am Ende läuft in Frank Schirrmachers Buch über das Familiensterben alles auf einen Mangel an Vorbildern hinaus. Das ist zu wenig Erkenntnis für ein Buch, das von der Evolutionsbiologie bis hin zur Mythologie zahlreiche Quellen bemüht, um die Stärke der Familie in Erinnerung zu rufen.

    Hegel hat einmal gesagt, es seien die Kinder, die ihre Eltern töten. Eine Generation löscht die andere aus. Erst die Geburt eines Kindes macht aus den Erwachsenen sterbliche Wesen. Im Anblick der jungen Generation sieht man sich alt werden. Vielleicht wollen die Heutigen keine Kinder mehr in die Welt setzen, weil sie nicht sterben wollen. Anders als jene frühen Christen, die sich nicht vermehren wollten, weil sie sich ihr Heil in einer jenseitigen Welt erhofften, wollen die Heutigen möglicherweise keine Kinder mehr, weil sie nicht Platz machen wollen, weil sie keine andere Welt zulassen wollen als ihre eigene.