Samstag, 27. April 2024

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Vom Beamten zum Politiker
Klaus Kinkel: "Ich war sehr unbequem"

Er galt als Ziehsohn Hans-Dietrich Genschers, arbeitete für den FDP-Politiker im Innenministerium, dann im Auswärtigen Amt, doch erst 1991, als er selbst Bundesjustizminister wurde, trat Klaus Kinkel in die FDP ein. In der folgenden Zeit prägte er die Gestaltung der deutschen Wiedervereinigung und die Europapolitik der Bundesrepublik mit.

Klaus Kinkel im Gespräch mit Günter Müchler | 28.02.2008
Klaus Kinkel (FDP) im Jahr 2009
Der ehemalige Bundesaußenminister und FDP-Chef Klaus Kinkel (dpa / Jens Wolf)
Am 5. März 2019 ist der ehemalige Außenminister Klaus Kinkel gestorben. Aus diesem Anlass können Sie an dieser Stelle noch einmal das Zeitzeugen-Gespräch nachlesen und -hören, das Günter Müchler mit ihm 2008 geführt hat.

Klaus Kinkel. Geboren am 17. Dezember 1936 in Metzingen, Kreis Reutlingen. Katholisch, Vater von drei Kindern. Als Sohn eines Internisten zunächst Aufnahme des Medizinstudiums, dann Wechsel zu den Rechtswissenschaften. Beide juristische Staatsexamina, dann Promotion zum Dr. jur., Beginn der Berufstätigkeit im Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Inneren. 1970 Büroleiter des damaligen Bundesinnenministers Hans-Dietrich Genscher. 1974 Wechsel mit Genscher ins Auswärtige Amt, dort Chef des Leitungsstabes, später des Planungsstabes. 1979 Ernennung zum Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes. 1982 Staatssekretär im Bundesjustizministerium. 1991 Bundesjustizminister, im selben Jahr Eintritt in die FDP. 1992 nach Genschers Rückzug Bundesaußenminister. 1993 Wahl zum FDP-Bundesvorsitzenden. 1998 nach Wahlniederlage gegen Rot-Grün Ausscheiden aus der Bundesregierung. Mitglied des Deutschen Bundestages bis 2002, stellvertretender Vorsitzender der FPD-Fraktion. Der begeisterte Jogger, Tennisspieler und Skifahrer ist Rechtsanwalt und Vorsitzender der Deutsche Telekom Stiftung.


Vom Spitzenbeamten zum Spitzenpolitiker

Klaus Kinkel: "Die Verwaltung ist mit eine ganz, ganz tragende Säule unseres Staates."

Günter Müchler: "Der Strom der Zeit läuft seinen Weg doch, wie er soll, und wenn ich meine Hand hineinstecke, so tue ich das, weil ich es für meine Pflicht halte, aber nicht, weil ich seine Richtung damit zu ändern meine", Zitat Ende, Otto von Bismarck, "Erinnerungen". Herr Kinkel, Bismarck dementiert hier das Wort "Politiker machen Geschichte" oder "Männer machen Geschichte". Wie hoch ist nach Ihrer Erfahrung der Faktor Persönlichkeit in der Politik einzuschätzen?

Kinkel: Ich glaube schon, dass der Faktor eine wesentliche Rolle spielt. Er ist natürlich nicht allein entscheidend, das hängt von den Umständen ab, von den Situationen, hängt ein bisschen davon ab, welche Chance einem Politiker beispielsweise die Geschichte einräumt, ob er die Wiedervereinigung mitgestalten kann und darf, oder ob er in einer Zeit Politiker ist, wo es um das reine Abarbeiten von ganz bestimmten Vorgängen geht. Ich meine ja, das hat die Geschichte ja auch gezeigt, die Gestaltung der Politik, des gesellschaftspolitischen Lebens und so weiter, hängt sehr oft von Personen ab, und in der Außenpolitik - wenn ich das anfügen darf - hat natürlich die Frage der persönlichen Beziehungen sehr oft eine ganz entscheidende Rolle gespielt.

Die Außenminister hatten immer generell, das habe ich in den sechseinhalb Jahren meiner Außenministerzeit erfahren, ein besonders gutes Verhältnis zueinander, einfach deshalb auch, weil sie alle wussten, dass sie mit einer fast Sicherheit in Situationen kommen würden, wo sie die Hilfe und die Unterstützung des anderen, der anderen brauchen würden. Und deshalb spielen natürlich die persönlichen Beziehungen eine große Rolle, das habe ich auch persönlich in meiner Zeit erlebt.

Müchler: Sie haben, Herr Kinkel, eine ganz untypische Karriere gehabt. Sie waren Spitzenbeamter und Spitzenpolitiker, so was gibt es ganz selten. Ich habe eigens die Kabinettslisten der Bundesregierungen nach 49 mir angeschaut und bin eigentlich auf niemanden gestoßen, bei dem das ähnlich gewesen wäre, oder fällt Ihnen ein Name ein?

Kinkel: Nein, mir fällt auch kein Name ein, den man parallel einordnen könnte. Ich denke nach, nein, mir fällt auch keiner direkt ein. Ja, ich war Beamter, von Regierungsassessor bis Staatssekretär.

Müchler: Und Sie waren es gern?

Kinkel: Ich war es gern. Es hat mir Spaß gemacht, ich hatte natürlich auch das große Glück, dass ich ja in mehreren Ministerien war. Ich war im Bundesinnenministerium, das war und ist mein Mutterhaus geblieben.

Müchler: Sie waren zunächst im Bundesamt für Zivilschutz.

Kinkel: Ja, das ist eine nachgeordnete Behörde des Innenministeriums. Und von dort bin ich dann mit Hans-Dietrich Genscher, als er Außenminister wurde, ins Auswärtige Amt gegangen. Danach wurde ich BND-Präsident und später dann Staatssekretär im Justizministerium und in meiner letzten Beamtenfunktion dann Staatssekretär im Justizministerium. Also, das war eine erlebnisreiche, ungeheuer lehrreiche Zeit für mich und ich habe für meine Tätigkeit später als Minister da unwahrscheinlich viel gelernt. Ich musste immer so lachen, wenn - nicht böse sein, wenn ich das jetzt sage - die Medien manchmal geschrieben haben, na, ob der das wohl kann? Der hat ja so gar keinen politischen Vorlauf, wie kann der Minister werden? Da musste ich deshalb lachen, weil ich glaube, dass ich im Vergleich zu vielen anderen einen, wie soll man sagen, Leervorlauf hatte, der eigentlich nicht besser hätte sein können. Innenpolitik, Justizpolitik, Außenpolitik, Sicherheitspolitik, das ist mir sehr zugute gekommen, insbesondere für meine Zeit im Justizministerium später.

Müchler: Es gestalten ja auch längst nicht immer nur und ausschließlich die Politiker, auch die Spitzenbürokratie gestaltet. Es gibt den englischen Schriftsteller -Politikwissenschaftler würde man heute dazu sagen - Pope, der mal gesagt hat, eine gute Verwaltung ist wichtiger als die beste Regierungsform. Würden Sie den Satz unterschreiben?

Kinkel: Vielleicht so nicht ganz, aber dass die beste Regierungsform, gerade eine Demokratie, ohne gute Verwaltung nicht funktionieren kann, scheint mir klar zu sein. Das ist uns übrigens in Deutschland ja, glaube ich, besonders deutlich geworden in der Zeit der Wiedervereinigung, wo in kürzester Zeit eine gigantische Aufgabe bewältigt werden musste, von der ich im Nachhinein sage, das wahrscheinlich mit Ausnahme der britischen Verwaltung weltweit alle anderen öffentlichen Dienste, Verwaltungen, nicht hätten mithalten können. Das war eine Meisterleistung des deutschen, öffentlichen Dienstes. Also: Natürlich funktioniert ein Ministerium nur, wenn es einen guten Beamtenapparat oder Verwaltungsapparat hat, es sind ja nicht alles Beamte, Angestellte selbstverständlich, und der Minister lebt davon. Er kann ja ohne seinen Staatssekretär, er kann ohne seinen Ministerialdirektor und er kann ohne Zuarbeit die ganze Arbeit nicht machen, das ist schon richtig. Die Verwaltung ist mit eine ganz, ganz tragende Säule unseres Staates und der Gestaltung unserer Verwaltungs-, Regierungs-, Justizabläufe.


Ziehvater Genscher

Kinkel: "Ich war unbequem, ja, ich war sehr unbequem, da war ich auch stolz drauf."

Müchler: Wenn wir beim Untypischen Ihrer Karriere bleiben, sind wir gleich bei Ihren Parteieintritt, Eintritt in die FDP, der erst im Jahre des Herrn 1991 erfolgte. Viele, viele Jahre vorher, Sie haben es eben angedeutet, sind Sie im Umfeld, im persönlichen Umfeld auch, von Hans-Dietrich Genscher marschiert und trotzdem erst der Parteieintritt 1991. Warum?

Kinkel: Hans-Dietrich Genscher ist mein politischer Ziehvater, und als er mich damals, im Jahr 1969/70, gefragt hat, ob ich persönlicher Referent von ihm werden will, habe ich gesagt, nach einer gewissen Überlegungszeit, Besprechung mit meinem Vater, meinem besten Freund: Ja, mache ich, aber, Herr Genscher, das bedeutet nicht, dass ich jetzt in Ihre Partei eintrete. Das war für ihn überhaupt gar keine Frage, im Gegenteil. Er hat mir später dann, wenn wir drüber gesprochen haben, immer wieder gesagt, Herr Kinkel, es ist gar nicht schlecht, dass ich nicht in der Partei sind. Ich habe es bewusst nicht getan, weil ich unabhängig bleiben wollte in meinem Rat. Dass ich der FDP im Grunde zuneigte, zuzurechnen war, war ja nach den langen Jahren engste Zuarbeit auf Herrn Genscher und später dem Justizminister Engelhardt gar keine Frage.

Es ging nicht darum, irgendetwas zu leugnen und es war für mich auch klar, dass, wenn ich in eine Partei eintrete, dass das nur die FDP sein würde, einfach deshalb, weil sie meinem Grundunabhängigkeitsstreben, das ich schon als Schüler hatte, am ehesten entsprochen hat, meinem Unabhängigkeitsdrang, meinem Freiheitsdrang, der bis heute geblieben ist.

Müchler: Haben Sie die Unabhängigkeit des Nicht-Parteimitglieds auch gegenüber Ihrem Ziehvater Genscher mal gebraucht? Können Sie sich an einen großen Sachstreit erinnern mit Genscher?

Kinkel: Ich habe das sicher gebraucht, oft, wenn er hier sitzen würde, würde er das wahrscheinlich auch bestätigen. Letztes Jahr zu meinem 70. Geburtstag hat er in seiner Laudatio in Berlin ähnliche Dinge angesprochen, er hat einen Satz gesagt, da musste ich lachen und schmunzeln zugleich, er sagte, es sei schwierig gewesen, unter dem Kinkel sozusagen Minister zu sein. Das ist natürlich übertrieben und witzig gemeint, aber ich war unbequem, ja, ich war sehr unbequem, da war ich auch stolz drauf. Und ich bin ihm übrigens durch diese Unbequemheit aufgefallen, er hat als erstes von mir mal eine Vorlage gekriegt, wo drunter stand, das war ja üblich früher im Ministerium, wenn ein Hilfsreferent eine Vorlage gepinselt hat und er das nur auf Weisung getan hat, dass er das unten rechts in den Kasten reingeschrieben hat: Diese Vorlage pinsele ich sozusagen nur auf ausdrückliche Weisung, ich bin anderer Meinung. Und das landete oben beim Minister, übrigens später im Auswärtigen Amt nicht, da hat der Ministerialdirektor die Vorlage sozusagen neu gepinselt und dann ging auf den Minister nur zu, was der Ministerialdirektor und der Staatssekretär zu der Sache gesagt haben.

Müchler: Was willkommen war.

Kinkel: Nicht willkommen, nein, das kann man so nicht sagen, es war ja nicht so, dass der Abteilungsleiter und der Staatssekretär nur Dinge geschrieben haben, aber das wurde ja alles zusammengefasst, und vertreten dem Minister gegenüber hat das dann nur der Staatssekretär und der Abteilungsleiter. Also: Ich war unbequem - und ich sage noch mal, wenn Herr Genscher hier sitzen würde, würde er das sicher bestätigen -, Herrn Kohl gegenüber übrigens auch des Öfteren.

Müchler: Würde er auch bestätigen?

Kinkel: Würde er sicher bestätigen, ich habe allerdings sowohl in meiner engen Zusammenarbeit mit Herrn Genscher wie auch in meiner langjährigen, engen Zusammenarbeit mit Bundeskanzler Kohl damals großen Wert darauf gelegt, dass diese Dinge nicht nach draußen getragen worden sind. Ich habe mir eher manchmal nachsagen lassen, na ja, der ist da so ein bisschen der Schmusehund von beiden. Das war nicht so. Ich habe auch mit Kohl oft Differenzen gehabt, aber wir haben sie nicht nach draußen getragen, übrigens beide nicht, konnten uns auch darauf verlassen.

Müchler: 1991 Eintritt in die FDP, 1993 dann Parteivorsitzender, Bundesparteivorsitzender der FDP. So eine Karriere ist nur in der FDP möglich.

Kinkel: Ja, aber es war natürlich eine falsche Entscheidung. Es war aus meiner Sicht die falsche Entscheidung, ich bin damals gedrängt worden in einer Situation, wo die FDP in der Tat Probleme hatte, einen Parteivorsitzenden zu finden, es war in eine No-Winner-Position, es war eine No-Winner-Time, in der ich damals antreten musste. Ich war zu kurz in der Partei, ich habe sie quasi nicht gekannt, es war eine Notsituation und insofern - es war nicht die glücklichste Entscheidung, weder aus der Sicht der FDP noch meine eigene. Ich habe auch nie Hemmungen gehabt und auch keine Probleme, das deutlich und klar zu sagen, aber es ist halt nun mal so, dass Sie manchmal im Leben auch Positionen übernehmen müssen, wo Verantwortung gefragt ist und wo Sie vielleicht nicht der Richtige sind, trotzdem versuchen müssen, Ihr Bestes zu geben. Das habe ich getan.


Parteien und politische Partizipation

Kinkel: "Es sitzen in unserer Gesellschaft sehr viele auf der Zuschauertribüne und kritisieren von dort aus."

Müchler: Parteien sind, eigentlich immer schon, aber nach meinem Eindruck gerade jetzt, stark in der Kritik. Parteien verlieren Mitglieder, sich zu Parteien zu bekennen, ist für viele nicht mehr opportun, ist nicht in. Was kritisieren Sie an den Parteien?

Kinkel: Vielleicht darf ich mal andersrum anfangen, wenn Sie erlauben. Ich will nicht der Frage ausweichen. Wir haben in Deutschland eine in gewissem Sinne soziologisch versäulte Gesellschaft, die Politik, die Wirtschaft, die Intelligenzwissenschaft, wie Sie wollen. Der Austausch gegenseitig ist zu schwach und es sitzen in unserer Gesellschaft sehr viele auf der Zuschauertribüne und kritisieren von dort aus. Wir sind nun mal eine durch Parteien entscheidend geprägte Demokratie, so will das unser Grundgesetz, wir haben aber zu wenige, die von der Zuschauertribüne runtersteigen und mitmachen. Es kritisieren zu viele, die für sich selber nicht das Recht in Anspruch nehmen können, wenn man es richtig betrachtet, weil sie sich selber zu wenig einbringen in diese Gesellschaft, in diese Demokratie mit den ganz bestimmten Spielregeln und so weiter. Das sehen Sie ja daran, dass nur ein ganz winziger Prozentsatz unserer 82,2 Millionen Einwohner in Deutschland in Parteien sind, das sind, wenn ich es recht im Kopf habe, etwa 1,5, 1,6 Millionen. Das ist ein verschwindend geringer Prozentsatz.

Jetzt kommt die Kritik, und das ist was anderes, natürlich ist die berechtigt, natürlich ist sie in der Demokratie notwendig: Ich glaube, dass unsere Parteien sehr oft den Kontakt zu den Herzen und Köpfen der Menschen verloren haben, sehr oft nicht mehr ein Gefühl dafür haben, was für die Menschen wirklich wichtig ist, und es hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass Politik - ich sage das jetzt nicht in Nostalgie, zurückblickend, aber ich sage es mit großem Nachdruck - in meinen Augen flachwurzliger, oberflächlicher, beliebiger geworden ist und heute natürlich auch sehr oft von Politikern mehr zirzensische Leistungen als Substanz erwartet wird. Wir haben Wahlsysteme, Abläufe, die leider Gottes mit dazu beitragen - also die kurzen Wahlzeiten und vieles andere -, dass eben Wahlkämpfe und manches andere in Richtungen verkommt, die dann zu Recht kritisiert werden.

Müchler: Kann dieser mangelnde Austausch, von dem Sie eben sprachen, auch damit zusammenhängen, dass die Parteien diejenigen, die sich Ihnen zur Verfügung stellen, zu sehr vereinnahmen wollen, zu sehr auf unbedingte Gefolgschaftstreue setzen? Es haben ja eigentlich alle Parteien, wenn man das so recht beobachtet, Probleme, mit abweichender Meinung umzugehen. Ich nenne einfach mal ein Beispiel aus jüngerer Zeit: Wolfgang Clement, ehemals Superminister unter Gerhard Schröder, der kurz vor der Hessenwahl die hessische SPD scharf kritisiert hat - sicher ein ungewöhnlicher Zeitpunkt für eine solche Kritik.

Ihm ist von Peter Struck, dem Fraktionsvorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, wütend vorgehalten worden: Du darfst das nicht tun, denn du hast der Partei, der SPD, alles, was du in deinem Leben geworden bist, verdankt. Du verdankst ihr alles! Also - Dankesschuld gegenüber der Partei, die einen kritischen Umgang ausschließt. Was sagen Sie zu diesem Satz?

Kinkel: Ich halte ihn für unangemessen. Struck ist ein bisschen ein Polterer und er überbetont in letzter Zeit, ich weiß nicht, aus welchen Gründen, seine Äußerungen. Dazu könnte man ja jetzt mehrere Beispiele nennen. Ich glaube, dass Clement da - ich kenne ihn gut, ich schätze ihn sehr - ein ausbalanciertes Verhältnis hat. Natürlich verdankt jeder, der irgendwo in einer Partei ist, wenn er öffentliche Ämter hat, dies unter anderem auch der Partei, aber das, was er dafür einbringt, hergibt - übrigens auch sozusagen opfert, denken Sie mal an Familie und vieles andere, dazu könnte ich auch was sagen -, ist meistens in einem balancierten und ausgeglichenen Verhältnis. Insofern halte ich den Satz für nicht anständig, unrichtig und wird sicher auch Clement nicht gerecht.


Der Nachbar Mischa Wolf

Kinkel: "Es ist natürlich um Klassen leichter, aus einer Diktatur in eine Demokratie rein Nachrichtendienst zu machen, Auslandsnachrichtendienst, als umgekehrt."

Müchler: 1979 sind Sie, Herr Kinkel, nach Pullach gegangen als Präsident des Bundesnachrichtendienstes, nach den Generälen Gehlen und Wessel der erste Zivilist in diesem Amt. Die Berufung damals war eine Riesenüberraschung, damit hatte keiner gerechnet. Was hat Sie gereizt, nach Pullach zu gehen?

Kinkel: Wir hatten die Zeit des Kalten Krieges noch, ich war jemand, der Außen- und Sicherheitspolitik hautnah erlebt hatte und der sich, nachdem ich entsprechende Vorerfahrungen im Innenministerium und Auswärtigen Amt hatte, ausgerechnet hat, dass das eine hochinteressante Position, Funktion, sein müsste. Das war auch so. Ich habe mich auch da etwas getäuscht, wie das im Leben ja oft geschieht, wenn man berufliche Entscheidungen fällt, aber alles in allem war das eine hochinteressante und auch für mich persönlich außerordentlich lehrreiche Zeit, von der ich glaube, auch sagen zu können, dass sie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Pullach gutgetan hat. Nach zwei Militärs kam jetzt ein Zivilist, kam ein junger Mann, kam jemand, der Bonn kannte, der die Innereien von Bonn kannte und der eben auch diesen räumlichen Abstand Pullach, sprich München-Bonn überbrücken konnte.

Es war natürlich etwas, was sehr oft falsch gesehen wurde von draußen, es war natürlich vor allem die Zeit des Kalten Krieges, der Bundesnachrichtendienst war ja immer der militärische Aufklärungsdienst der Bundesrepublik, der Bundesregierung, im Gegensatz zu anderen Ländern, Frankreich, Großbritannien, Amerika, hatten wir ja nie einen eigenen, militärischen Aufklärungsdienst. Ein nicht unwesentlicher Teil des Personals des Bundesnachrichtendienstes war und ist Bundeswehr, das heißt, von der Funkaufklärung über Satellitenaufklärung bis zur menschlichen Aufklärung war hauptsächlich im Vordergrund stehend eben, ja, Ostblock, militärisch. Wie sieht der Stand der Truppen aus, welche Flugbewegungen finden statt, welche Panzerbewegungen, welche Schiffsbewegungen? Das war das, was uns besonders bewegt hat und weniger das andere, was immer den Nachrichtendiensten so ein bisschen zu Unrecht angehängt wird.

Müchler: Na ja, aber es spielte auch eine Rolle. Sie waren kaum im Amt, da landete der BND einen ganz dicken Fisch, am 19. Januar 1979 floh der Oberleutnant der Hauptverwaltung Aufklärung, Werner Stiller, über den Bahnhof Friedrichstraße in den Westen mit jeder Menge Material im Koffer über Westspione der Staatssicherheit. Zahlreiche - ich glaube, es waren 17 - Westagenten der DDR wurden aufgrund der Informationen, die Stiller mitbrachte, enttarnt und verhaftet. Außerdem identifizierte Stiller auf einem Foto Markus Wolf, der bis dahin als Mann ohne Gesicht gegolten hatte. War das der größte Erfolg in Ihrer Amtszeit als BND-Chef?

Kinkel: Nein, ich glaube, das kann ich so einfach deshalb nicht sagen, weil ich ja relativ neu im Amt war. Gut, der Übertritt von Stiller ist damals in meine Zeit gefallen, ich konnte da auch noch mitwirken, aber es ist nicht so, dass ich das allein auf meine Fahnen heften kann. Das war die Arbeit der Bundesnachrichtendienstleute, bewundernswert, neben der militärischen Aufklärung war natürlich eines der zentralen Ziele die Zersetzung der gegnerischen Nachrichtendienste. Der Übertritt von Stiller war sozusagen ein klassischer Fall, die mussten umbauen, die mussten umorganisieren, die waren verunsichern, die wussten jetzt nicht, was passiert da. Es war ein klassischer Erfolgsfall für uns als Bundesnachrichtendienst, ja, das war schon eine erfreuliche Sache. Wir haben ihn damals ja auch kennengelernt und es war ja gar nicht so ganz einfach, ihn in der Folge des Übertritts zu "handlen", wenn ich das mal so sagen darf, denn das war natürlich auch ein gefundenes Fressen für die Medien und so weiter. Aber das ist uns, glaube ich, ganz gut gelungen.

Müchler: Der BND hat damals behauptet, Stiller sei schon lange ein Maulwurf, ein Doppelagent, gewesen. Das Stasi-Ministerium hat das stets dementiert. Was stimmt?

Kinkel: Ich glaube, das ist eine Mittellage, die man da einnehmen muss, vollkommen klar. Es ist nicht so, dass jemand wie Stiller überläuft, ohne dass es irgendwelche Querkontakte vorher gegeben hat, das war, soweit ich mich erinnere, bei Stiller auch der Fall. Wir haben natürlich mit dem vorher zusammengearbeitet, aber ich glaube nicht, soweit ich mich erinnere, dass man sagen kann, dass er langjähriger Doppelagent war.

Müchler: Von Helmut Kohl weiß man, dass er auf die Arbeit, auf die Erkenntnisse der Dienste nicht viel gegeben hat. Sie haben als BND-Chef Helmut Schmidt vorgetragen. Wie war das bei ihm?

Kinkel: Ich glaube, man muss zunächst mal dazu sagen, dass 1956 erst der Bundesnachrichtendienst, hervorgegangen aus der Organisation Gehlen, als Bundesoberbehörde dem Bundeskanzleramt angegliedert wurde. Das war eine schwierige Entscheidung und ist es geblieben, und zwar einfach deshalb, weil hochgefahrgeneigte Arbeit so nah am Regierungschef nicht unproblematisch ist. Und deshalb wussten alle Nachrichtendienstchefs, genauso wie ich: Gehe zu deinem Fürst nur, wenn es unbedingt notwendig ist oder wenn du das Gefühl hast, dass du ihm was selber sagen musst, sonst lief die Arbeit sehr stark bewusst über die Chefs des Kanzleramtes.

Für den Nachrichtendienst hat sich Kohl entgegen dem, was immer wieder behauptet wurde, sogar sehr interessiert und Helmut Schmidt auch, aber sie hatten natürlich auch diese Sorge des Gefahrgeneigten sehr in ihrer Nähe. Die Frage ist natürlich: Wo könnte man den BND anders aufhängen? Daraus muss man ein bisschen das Resultat der Kontakte sehen.

Müchler: Nach dem ruhmlosen Untergang der DDR hat Markus Wolf und haben andere Spitzenleute des MfS die Auffassung vertreten, der BND und der Verfassungsschutz waren auch nicht besser als das MfS. Sind alle Geheimdienste gleich?

Kinkel: Nein, das kann man nun wahrhaftig nicht sagen. Das ist eine Frage der Möglichkeiten und es ist natürlich auch eine Frage der Finanzen, der Dimension, Frage der Möglichkeit.

Müchler: Auch des Umgangs mit Menschen, zum Beispiel auch mit Verrätern?

Kinkel: Ja, vollkommen klar, also Frage der Möglichkeiten. Es ist ganz einfach, als Mischa Wolf immer erklärt hat, er hat das Gleiche gemacht wie Klaus Kinkel, habe ich ihm zwar - nicht direkt, aber doch indirekt - immer wieder gegengehalten: Du hast gewusst, dass du in einer Diktatur Nachrichtenchef geworden bist! Ich habe gewusst, dass ich in einer Demokratie Nachrichtenchef werde, von X Gremien überwacht und ganz genau seziert, wenn irgendetwas passiert ist oder auch schon im Vorfeld.

Zweitens, es ist natürlich um Klassen leichter, aus einer Diktatur in eine Demokratie rein Nachrichtendienst zu machen, Auslandsnachrichtendienst, als umgekehrt. Aus einer Demokratie mit ganz bestimmten Regeln rein in eine Diktatur ist wahnsinnig schwierig. Da gibt es natürlich gewaltige Unterschiede, und gucken Sie sich die Amerikaner an mit ihren mehrfachen Nachrichtendiensten, was die finanziell auf die Beine stellen, um sozusagen weltweit da präsent zu sein, ist natürlich ein Zigfaches von dem, was andere Länder können und tun - ich lasse mal die frühere Sowjetunion außen vor -, insofern nochmals: eine Frage der Möglichkeiten, der Umstände und des Geldes.

Müchler: Etwas hatten Klaus Kinkel und Mischa Wolf dennoch gemeinsam.

Kinkel: Ja, wir stammten beide aus Hechingen/Hohenzollern, was ich übrigens, als ich BND-Präsident wurde, nicht wusste. Beide Väter Ärzte, einige Jahre zeitversetzt, Friedrich Wolf anerkannter Schriftsteller in der früheren DDR - übrigens in Moskau gewesen mit Wehner und anderen, dann zurückgekommen -, mit seinen zwei Söhnen in Hechingen am Obertorplatz 12 wohnend, wir am Obertorplatz 14, Jahre zeitversetzt. Das war schon eigenartig, dass sich also da die beiden Nachrichtendienstchefs, aus Hechingen stammend, in dieser historischen Situation gegenüberstanden.

Müchler: Ich gehe mal wieder ein paar Jahre zurück, nicht viele Jahre, 1968. Von 1968 wird gerade in diesem Jahr, 40 Jahre danach, wieder viel die Rede sein. Sie waren 1968 nach meiner Rechnung 32.

Kinkel: Ja.

Müchler: Was fällt Ihnen zu 1968 ein?

Kinkel: Mir fällt ein, dass das der Beginn der 68er-Ereignisse war, die ich natürlich damals im Innenministerium hautnah miterlebt habe und in den späteren Folgen auch, bis hin zur RAF, die viele Jahre meines Lebens entscheidend beeinflusst hat. Im Innenministerium damals, in der ganzen Entstehungsgeschichte, wo wir zuständig waren und wo ich noch sehr genau weiß, dass die Bevölkerung nicht zu Unrecht den Eindruck hatte, der Staat, der packt es nicht, mit denen fertig zu werden, bis dann damals diese spektakuläre Festnahmeaktion in der Nähe von Frankfurt erfolgte, Baader, Meinhof, Raspe und so weiter.

Ich habe dann die ganze Folgezeit später erlebt, als BND-Chef, wo wir natürlich versuchen mussten, diejenigen, die aus unserer Sicht von der RAF im Ausland waren, zu packen - ich bin sehr oft im Irak gewesen, der kürzlich auf so bemerkenswerte Art und Weise hingerichtete Bruder Barsan al Tikriti von Saddam Hussein - vielleicht erinnern Sie sich, diese Hinrichtung, die dazu geführt hat, dass also der Schädel ein paar Meter weiter weg lag -, der war jahrelang mein Counterpart, weil ich natürlich zigmal im Irak gewesen bin, weil wir annahmen, nicht ganz zu Unrecht, dass sie dort sind, oder jedenfalls Teile von Ihnen. Ich wurde dann später Staatssekretär im Justizministerium, da waren sie sozusagen alle meine Kunden, von Mohnhaupt bis habe ich sie alle besucht in den Gefängnissen, und ich habe ja in dieser Zeit damals dann auch später als Justizminister diese Versöhnungsinitiative gestartet, die nicht nur Anerkennung gefunden hat, aber doch immerhin dazu geführt hat, dass danach nichts Entscheidendes mehr passiert ist. Aber es war eine Zeit, die schwierig, bitter und auch persönlich sehr beeinträchtigend war, immerhin ist mein Nachfolger bei Genscher von Braunmühl ermordet worden, und ich stand da auch ganz oben auf der Liste.

Müchler: Gerade deshalb, mit dem nötigen Respekt vor den Opfern fällt die Frage schwer, ich will sie dennoch stellen: Ist die Gefahrensituation damals vielleicht etwas vergröbert worden? Ich kann mich noch erinnern - weil das Stichwort Bundesjustizministerium fiel -, wie am Justizministerium damals in Bonn die Stacheldrahtverhaue aufgerichtet wurden. Würden Sie sagen, dass man damals eine realistische Wahrnehmung hatte von der Herausforderung des RAF-Terrors für Staat und Gesellschaft?

Kinkel: Ich glaube schon, ich meine, das war eine völlig neue Erfahrung mit Terror, der Staat war ungeheuer herausgefordert, die Menschen waren zutiefst beunruhigt. Spätestens zu dem Zeitpunkt, als die RAF in den Untergrund gegangen ist, immer isolierter wurde, zu immer brutaleren Methoden und Morden gegriffen hat, war es so, dass es schon eine gigantische, reale Gefahr war.

Müchler: Hätten Sie sich damals vorstellen können, dass nicht wenige RAF-Leute die DDR als Rückzugsgebiet später hatten?

Kinkel: Eindeutig nein, deshalb habe ich ja das vorher erklärt mit dem Irak. Wir hatten, wenn ich mich richtig erinnere, etwa 1500 Spuren, die in den nahen Osten geführt haben, ganz wenige Spuren, die in die frühere DDR geführt haben. Das hat einfach nicht ins Bild gepasst, das war ja eine völlig andere Ideologie. Honecker und der gute Geheimdienstchef, die nehmen also die RAF-Leute auf, schützen sie, geben ihnen Wohnungen und so weiter, Mielke, das war undenkbar für uns. Nachträglich haben wir ja festgestellt, dass zum Teil Zielfahnder sogar vor dem Haus waren, wo die sich damals aufgehalten haben, aber das war keine Panne, sondern das war undenkbar, das passte nicht ins Bild, das mussten wir nicht denken.


Fehler bei der Wiedervereinigung

Kinkel: "Insgesamt konnten wir die Wiedervereinigung nicht proben."

Müchler: Nach der Wiedervereinigung oder im Prozess der Wiedervereinigung haben Sie an wichtigen Verhandlungen teilgenommen. Sie waren speziell beteiligt, auch gestaltend beteiligt, an der Regelung der Vermögensfragen. Noch heute gibt es Politiker aus der damaligen Zeit wie Lothar de Maizière zum Beispiel, die auf dem Standpunkt stehen: Das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung, das wesentlich auch von Ihnen getragen und durchgesetzt wurde, war ein Fehler. Sehen Sie das heute auch als problematisch an?

Kinkel: Insgesamt konnten wir die Wiedervereinigung nicht proben, und es ist zu Recht natürlich trotzdem und gerade deshalb später öfters gesagt worden, da seien viele Fehler gemacht worden. Ja, ich durfte damals die Wiedervereinigung im Außen- und Justizbereich sehr stark mitgestalten, ich sage ausdrücklich: durfte. Wir waren oft auch innerhalb des kleinen Teams, das sozusagen beim Bundeskanzleramt die Fäden in der Hand hatte, verschiedener Meinung - von dem Rübergeben der D-Mark bis zur Frage, ob man beispielsweise auf einen Schlag unser Verwaltungs- und Justizsystem dahin überträgt und in vielen anderen Bereichen, insbesondere aber, was die Wirtschaft anbelangt.

Aber es war so, dass die normative Kraft des Faktischen, die ja in der Juristerei immer so eine Rolle spielt, aber hier, glaube ich, der richtige Ausdruck ist, eben einfach bestimmte Dinge verlangt hat, die gestaltet werden mussten in einem relativ engen Zeitfenster, und Rückgabe vor Entschädigung war auch ein solcher Fall. Lothar de Maizière, weil Sie ihn angesprochen haben, war ja nun derjenige, der hautnah miterlebt hat und es auch bis heute Gott sei Dank mit vertritt, dass die Frage Rückgabe 1945/49, also des sogenannten Junkerbesitzes, dass das conditio sine qua non war für die Wiedervereinigung, ist ja von vielen in der Zwischenzeit bestritten worden.

Alles, was da ablief, ist auch mir sehr schwergefallen. Ich musste ja mehrfach vor dem Bundesverfassungsgericht auftreten, ich werde nie vergessen, dass ich da mal von oben bis unten, als ich meinen Mantel aus der Garderobe geholt hat, von einem Junker bespuckt worden bin, das war auch schwierig, dass mir die Hand nicht ausgerutscht ist.

Müchler: Da ging es um die Zeit 1945 bis 1949.

Kinkel: Da ging es um die Zeit 1945 bis 1949. Das Prinzip war richtig. Ich will Ihnen sagen, wenn man hätte damals entschädigen müssen, das sage ich jetzt etwas salopp, das stimmt nicht ganz so, aber da wäre die Bundesrepublik ganz schwer dagestanden. Da wären wir vielleicht dann nah an die Pleite gekommen, wenn man das hätte machen müssen. Aber es waren auch rechtliche Überlegungen, die dazu geführt haben und ich würde sie heute noch für richtig halten. Nochmals: Wir haben viele Fehler gemacht, auch ich, ich bin also nicht jemand, der alles rechtfertigt oder richtig sieht, aber das war, glaube ich, richtig.


Europa in der Welt

Kinkel: "Wir stehen vor dem asiatischen Zeitalter und da bin ich tief davon überzeugt."

Müchler: Herr Kinkel, der Kalte Krieg hatte vor allem Europa fest im Klammergriff. Das Ende des Kalten Krieges hätte der Anfang eines machtpolitischen Aufstiegs von Europa sein können. Warum ist die Chance nicht genutzt worden?

Kinkel: Ja, das ist eine berechtigte Frage, die mich natürlich auch, vor allem jetzt, sehr stark beschäftigt. Europa ist ein bisschen grau geblieben oder eigentlich grau geworden. Wir stehen vor dem asiatischen Zeitalter und wenn ich jetzt Europa reinprojiziere in die Weltsituation, dann nehmen wir das, was wir eigentlich machtpolitisch, wirtschaftspolitisch vor allem, bedeuten könnten in dieser veränderten Welt, nicht so wahr, wie es eigentlich richtig und notwendig wäre. Außenpolitisch sind wir zerstritten, mindestens seit der Irakintervention, wir sind wirtschaftspolitisch nicht in der Lage, leider Gottes, die Synergieeffekte so zusammenzuführen, wie es notwendig wäre, damit wir wirtschaftspolitisch ein mitspielender, absoluter, europäischer Weltfaktor sind. Und wir haben natürlich auch ein paar andere Probleme, wir zerstreiten uns in vielen einzelnen Bereichen und die nationalen Interessen nehmen übrigens seit Wegfall der Ost-West-Auseinandersetzung seit 1990 wieder erkennbar zu, und zwar praktisch in allen Ländern.

Das heißt, wir haben also eine gegenläufige Entwicklung: Wir haben in Europa selber, was Europa anbelangt, eine weitergehende Vertiefung, eine Vergemeinschaftungstendenz und zwar von allen Gremien, wir haben aber in den Ländern selber eine rückläufige Tendenz, die eben dahingeht, um Gottes Willen jetzt nicht alles und jedes von Brüssel, von Europa aus regeln zu lassen. Das Europa ist eine gigantische Errungenschaft. Es ist etwas, was wir uns ja nie hätten träumen lassen, jetzt dieses ganze Europa zu schaffen, und natürlich ist es traurig, dass wir, bisher jedenfalls in vieler Beziehung, das haben wir jetzt bei der Verfassungsdebatte und so weiter wieder gesehen, nicht in der Lage sind, unser Gewicht so einzubringen.

Das ist übrigens auch ein Grund, warum die Amerikaner uns in vieler Beziehung nicht ernst nehmen. Sie nehmen uns einfach nicht ernst, sie nehmen uns beispielsweise nicht ernst auf militärischem Gebiet. Solange die 5 und 27 Militärhaushalte der Europäer geringer sind als der amerikanische Militärhaushalt, können die uns nicht ernstnehmen. Das hat jetzt nichts damit zu tun, dass ich meine, dass im Militärhaushalt sich sozusagen die Größe und Stärke Europas widerspiegeln müsste, aber es ist nun mal so, dass eben davon sehr viel abhängt, von der Wirtschaft und natürlich auch von den militärischen Fähigkeiten. Und da nehmen uns die Amerikaner nicht ernst, wirtschaftlich übrigens, aber wissenschaftlich haben wir nicht die allerbesten Karten, aber das wäre ein Sonderthema.

Müchler: Wir haben 40, fast 50 Jahre Bipolarität erlebt, dann kam die Zeit der Super-Supermacht Vereinigte Staaten von Amerika, wie wird das in zehn Jahren ausgehen? Sie haben nun das Stichwort gebracht, wir stehen vor einem asiatischen Zeitalter. Ich glaube, es war Kurt Georg Kiesinger, der mal, wiederum vor vielen Jahren gesagt hat: Ich sage nur China, China, China. Kommt das? Wie sieht die Welt Ihrer Meinung nach in zehn Jahren aus?

Kinkel: Die Welt wird in zehn Jahren sehr, sehr stark geprägt sein durch einige asiatische Länder, deren Aufstieg, deren Intentionen, die ja heute schon erkennbar so lauten, jetzt kommt unser Jahrhundert, jetzt sind wir dran, was man im Übrigen auch in mancher Beziehung sagen könnte für die islamische Welt, ich lasse das jetzt mal weg, jetzt sprechen wir von Asien. Im Augenblick ist Asien machtpolitisch, also rein militärisch natürlich, noch weit weg und wird es nie erreichen von Amerika, aber wirtschaftspolitisch und natürlich auch, was die Bildung anbelangt, Innovation, holen die gewaltig auf. Noch sind die Chinesen Werkbank der Welt, sie werden sehr bald auch Innovationsmitbestimmer sein. Wir haben als Deutsche Telekom Stiftung da einen Generationsindikator zum dritten Mal jetzt rausgebracht, aus dem sich glasklar ergibt, dass Indien und China beispielsweise gigantisch in F und E investieren.

Müchler: Was heißt F und E?

Kinkel: In Forschung und Technologie insgesamt, in Bildung, alles in allem, das ist gewaltig. Denken Sie mal an Ingenieurausbildung, in Deutschland werden im Jahr im Augenblick etwa 30.000 Ingenieure entlassen, in China 380.000. Gut, China ist natürlich auch erheblich größer, trotzdem: Die Relationen sind anders. Wenn Sie sehen, was da an Geld reingepumpt wird in die Bildung und zwar von frühkindlicher Bildung bis rauf zu den Universitäten, dann sind das Dimensionen, die gigantisch sind. Wir werden immer noch eine große Rolle spielen, Europa, da gab es ja kürzlich mal so eine Bemerkung, es dauert nicht mehr lange, dann seien wir das Museum der Welt und die anderen sind dann die Werkbank und die Innovatoren, so wird es nicht kommen. Aber wir stehen vor dem asiatischen Zeitalter, da bin ich tief davon überzeugt. Hungrige Völker.

Müchler: Was natürlich auch von der Stabilität der Staaten abhängt.

Kinkel: Richtig.

Müchler: China - Ein-Parteien-Diktatur einerseits, entfesselter Kapitalismus andererseits, kann das gut gehen?

Kinkel: Die Frage, ob die soziale Problematik, die Umweltschutzproblematik, die Bankenproblematik beispielsweise zwingend dazu führt, wie viele meinen, dass China eben einfach diese gigantische Entwicklung nicht durchhalten kann - ich bin da eher der Meinung, da wird kein großer Kollaps kommen. Die Chinesen haben ja immer bewusst erklärt, guckt euch, was die frühere Sowjetunion gemacht hat, an: Bevor wirtschaftlich entwickelt wurde, wurde politisch geöffnet, totaler Blödsinn, wir machen das anders.

Mit anderen Worten: Politische Öffnung und Entwicklung folgt wirtschaftlicher Entwicklung. Ist sicher so auch nicht richtig, aber wir müssen die Massen sehen. Indien und China zusammen machen zusammen 38 Prozent der Weltbevölkerung, hungrige, junge Völker, wo die Menschen reich werden wollen, jawoll, mit gigantischen Problemen und auch nicht bitte zu überschätzen, was da abläuft, aber wenn Sie sich die Entwicklungen ansehen, hervorgehend beispielsweise aus diesem vorher erwähnten Indikationsindikator, dann kann ich Ihnen nur sagen: Ich bin ziemlich sicher, wohin die Reise führt.

Müchler: Ein großes Land, wenn auch sehr viel kleiner als China, ist die Türkei. Vor zehn Jahren gab es mal heftige Angriffe des damaligen türkischen Ministerpräsidenten Yilmaz auf die Bundesrepublik, speziell auf Helmut Kohl, Europa als Christenclub. Sie haben damals deutlich dagegen gehalten und gesagt, für die Türkei als Vollmitglied gedacht, der EU ist es noch zu früh. Was sagen Sie heute? Gehört die Türkei zu Europa?

Kinkel: Wenn ich jetzt gefragt würde, ist der Beitritt fällig oder geschieht der in allernächster Zeit, würde ich sagen, es ist immer noch zu früh, und zwar erheblich zu früh. Aber ich differenziere, und das habe ich damals auch schon immer gesagt. Seit 1963 haben wir mit dem Assoziierungsabkommen damals der Türkei gesagt: Wenn ihr den Aquis, sprich, die Voraussetzungen, voll erfüllt, dann könnt ihr rein in die Europäische Union, dann gehört ihr auch in diese Europäische Union.

Es ist unanständig, nach meiner Meinung, jetzt einfach zu sagen, na, passt mal auf, wir haben doch gewaltige Probleme da, in diesem europäischen Haus ist für euch kein Zimmer frei auf absehbarer Zeit. Das halte ich für falsch. Die Türkei hat aufgeholt in vieler Beziehung, Abschaffung Todesstrafe, Verfassungsfragen und vieles andere, aber sie muss noch gigantisch aufholen. Und natürlich bleibt das eine religiöse und geografische Entgrenzung, wenn die Türkei reinkäme, mit gigantischen Problemen! Ich gebe nur zu bedenken, was würde sein, wenn wir sie - wenn sie die Voraussetzungen erfüllen würde - zurückstoßen? Was bedeutet das für die islamische Welt?

Die Türkei hat eine islamische und eine europäische Option. Wenn wir ihr sozusagen die europäische Option verweigern, dann werden sie unweigerlich die islamische Option wahrnehmen. Die Türkei ist ein Riesenland und vom Bevölkerungswachstum her eines islamischen Landes wäre es sicher so, dass die Türkei, wäre sie in der Europäischen Union drin, in ein paar Jahren das größte Land wäre. Die Türken werden uns bevölkerungsmäßig überholen, gar keine Frage. Es lässt sich heute schon ausrechnen, in welchem Jahr das der Fall sein wird.

Aber nochmals: Ich bin dafür, pacta sunt servanda, wie das im privaten Bereich auch gilt, gilt es auch da. Ich habe neun türkische Außenministerinnen und Außenminister erlebt, unter anderem auch Frau Ciller, in sechseinhalb Jahren. Es war kein einziger, der mir nicht relativ bald, nachdem er ans Ruder kam, im Seitenzimmer erklärt hat, na, lieber deutscher Außenminister, sag doch mal, was du wirklich meinst. Ihr wollt uns doch nicht drin haben! Ihr wollt euer christliches Abendland haben. Ihr wollt nicht ein zwar laizistisch aber immerhin islamisches Land - laizistisch regiert, ist aber im Ende ein islamisches Land - drin haben in eurer wertegewachsenen, christlichen Abendland-Umgebung. Und ich habe eigentlich damals immer aus Überzeugung gesagt, ja, es wird noch sehr lange dauern, bis ihr reinkommt, aber es bleibt bei der Zusage. Ihr habt den Fuß in der Tür, und wenn ihr die Bedingungen erfüllt, dann kommt ihr auch rein.

Müchler: Also die Position Merkel, privilegierte Partnerschaft, halten Sie für falsch?

Kinkel: Ja, und zwar für unbefriedigend für die Türkei nach dem Vorlauf. Pacta sunt servanda, hätte man sich früher überlegen müssen.

Müchler: Herr Kinkel, abschließend die Frage an Sie: Was möchten Sie, das mal in den Geschichtsbüchern über Sie steht?

Kinkel: Ich würde begrüßen, wenn da mal drinsteht, der war Justizminister, der war BND-Chef, der war Außenminister in der und der Zeit, der hat das und das und das mitgestaltet und hat sich Mühe gegeben, seine Ämter auszufüllen. Ich bin gegen diese Geschichtsbuchverherrlichungen, die ich auch für mich nicht in Anspruch nehme, so wie ich auch keine Memoiren schreibe. Für mich sind Memoiren von vielen - nicht allen, aber von vielen - Politikern zu schnell im Ramschkasten der Bahnhofsbuchhandlungen zu finden. Ich will da keine Verherrlichungen, ich habe in meinem Leben nie einen Orden angenommen und wollte auch nicht in besonderer Weise gefeiert werden, auch nicht in den Geschichtsbüchern.