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Vom Bildungsprotest zur Systemkritik

Seit drei Monaten demonstrieren Studenten in Chile gegen das Bildungssystem. Der Zorn der jungen Leute und ihrer Eltern richtet sich mittlerweile nicht mehr nur gegen horrend hohe Studiengebühren an den privaten Universitäten, sondern auch gegen die konservative Regierung.

Von Peter B. Schumann | 03.09.2011
    "Die Erziehung wird nicht verkauft, sie wird verteidigt!" Mit Losungen wie dieser ziehen sie seit drei Monaten zu Zehntausenden durch die Straßen vieler Städte, die Schüler und Studenten Chiles. Lehrer und Professoren, Familienangehörige und Künstler unterstützen sie. Und in der letzten Woche rief deshalb sogar die Gewerkschaftszentrale CUT zum Generalstreik auf.

    Nahezu 80 Prozent der Chilenen sind davon überzeugt, dass das bisherige Erziehungssystem grundlegend reformiert oder noch besser beseitigt werden muss, denn es wurde vor 30 Jahren von der Militärdiktatur implantiert. Die Mitte-Links-Koalition der Concertación, die danach zwei Jahrzehnte lang regierte, hat es nicht gewagt. Und der neue rechtsliberale Präsident Piñera vertritt die Auffassung eines Unternehmers:

    "Die Bildung erfüllt ein doppeltes Ziel: Sie ist ein Konsumgut, das heißt mehr Wissen, mehr Verstehen, mehr Kultur. Aber sie besitzt auch eine Investitions-Komponente: sie soll unsere Exportchancen und die Produktivität verbessern zu unseren Gunsten und denen des Landes."

    Aber selbst eine solche merkantile Konzeption ist mit dem gegenwärtigen Bildungssystem nicht zu verwirklichen. Die Militärs hatten das Schul- und Hochschulwesen gemäß ihrem neoliberalen Credo weitgehend privatisiert und damit den Gesetzen des Marktes ausgeliefert. Heute kann praktisch jeder eine Bildungsstätte betreiben. Der Staat zog sich weitgehend aus der Verantwortung zurück und übertrug die öffentlichen Schulen den Gemeinden. Aber diese sind oft so katastrophal unterfinanziert, dass die Lehrkräfte selbst für die Kreide sorgen müssen. Roberto Pacheco, Lehrer aus Concepción:

    "Ich muss 44 Stunden in der Woche unterrichten und habe nur einen Zeitvertrag. Der wird im Dezember verlängert oder gekürzt, oder ich werde gefeuert. Dabei verdiene ich lediglich umgerechnet 750 Euro, viermal so viel wie der Mindestlohn. Die Infrastruktur der Schulen ist miserabel, und sie steht in völligem Gegensatz zu den Wirtschaftserfolgen Chiles. Das ist ein perverses System, in dem Schüler und Lehrer nur ihre Zeit vergeuden."

    Es hat nicht nur zu erbarmungswürdigen Zuständen an den Schulen geführt, sondern auch zu einem enormen Defizit an Bildung.

    "Der Staat gibt heute nicht einmal ein Prozent seines Budgets für die Bildung aus. Er soll dafür wieder die Verantwortung übernehmen. Außerdem muss die Qualität dringend erhöht und die Profitsucht abgeschafft werden. In keinem Land muss man mehr für seine Ausbildung bezahlen als hier in Chile. Die Ärmeren unter uns verschulden sich zeitlebens. Und sie subventionieren dabei jene, die Geschäfte mit der Bildung machen."

    Dazu gehörte auch Erziehungsminister Lavín. Lehrer Roberto Pacheco:

    "Er ist Eigentümer einer Privatuniversität. Wie kann er jemals die Forderungen der Bevölkerung nach hochwertiger und kostenloser Bildung erfüllen, wenn er den Profit seiner Universität im Auge behalten muss."

    Joaquín Lavín ist Unternehmer wie die meisten Mitglieder im Kabinett Pinera und an der Universidad del Desarrollo beteiligt, einer ehemaligen Kaderschmiede der Diktatur, heute ein Sammelbecken der Rechten. Erst vor kurzem hat sich der Minister ganz entschieden gegen einen größeren Einfluss des Staates ausgesprochen. Wegen der Interessenverquickungen fordern die Studenten seinen Rücktritt. Sie verlangen aber auch weiterreichende politische Veränderungen. Das Bildungswesen ist für sie längst zum Katalysator einer sozialen Bewegung geworden. Emiliano, Architektur-Student:

    "Heute gibt es ein stärkeres zivilgesellschaftliches Bewusstsein. Wir Bürger haben begriffen, dass wir die Macht haben, die Dinge zu verändern und der politischen Klasse zu sagen: Hört auf unsere Forderungen nach besserer Bildung und einer neuen, demokratischeren Verfassung. Denn heute leben mehr Jugendliche in Chile als jemals zuvor. Wir besitzen auch mehr Bewusstsein und haben weniger Angst als früher, als man noch über unsere Köpfe hinweg Politik machte. Wir sind reifer geworden und stellen uns der Situation mit größerer Entschiedenheit."

    Die Mehrheit der Bevölkerung hat das längst erkannt und bei der letzten Umfrage den traditionellen politischen Parteien ihr Misstrauen ausgedrückt. Die rechtsliberale Regierung Pinera findet nur noch bei 26 Prozent der Chilenen Zustimmung. Und die alte Mitte-Links-Koalition steht mit 23 Prozent noch schlechter da. Lange beschränkte sich die Regierung darauf, die Forderungen der Studenten mit Wasserwerfern, Tränengas und Gummiknüppeln zu beantworten. Als bei dem Generalstreik in der letzten Woche ein Schüler von Carabineros erschossen wurde, lenkte sie endlich ein.

    Aber die Demonstranten werden sich jetzt nicht mehr mit halbherzigen Reformen abspeisen lassen. Denn sie wissen, dass ein Großteil der Bevölkerung ihren Kampf unterstützt: für bessere Bildungschancen und für mehr Demokratie in Chile.