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Vom Bösen des Guten

Dem Großprojekt eines Auszugs aus der falschen Welt und dem grundfalschen Leben war bislang kein durchschlagender Erfolg beschieden. ... Allzu viele sind offenbar davon überzeugt, dass es allen suggestiven Verwerfungen zum Trotz wenn nicht ein völlig richtiges, so doch ein lebenswertes Leben im falschen gibt.

Eike Gebhard | 29.03.2004
    Für heutige Ohren sind solche Sätze schwer verständlich. Hörisch wendet sich unverkennbar an eine Generation, in der Adorno noch Feuilleton-beherrschend wirkte und sein Motto, es gebe kein richtiges Leben im totalen "Verblendungszusammenhang einer Welt, die "fugenlos zur Ideologie abgedichtet" sei - die Formeln sind gleichsam längst geflügelte Begriffe - zu den Prämissen seriöser Kulturkritik gehörten. Die Diagnose ist heute erklärungsbedürftig, und in oft einprägsam kompakten Skizzen zeichnet Hörisch die, wie er sagt, "fixe, aber sachlich überaus diskussionswerte Hauptthese Adornos" nach, nämlich:

    dass die 'Warengesellschaft' und genauer: der 'Äquivalententausch' der Bann ist, der nicht 'nur' die Gesellschaft, sondern auch die Welt, das Denken, die Liebe, das Leben und die Theorien verhext - der also dafür verantwortlich ist, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt.

    Das Ganze ist das Unwahre - so hatte Adorno Hegel korrigiert. Der "Bann" des Äquivalententauschs liege wie ein böser Zauber auf allen Begriffen, mit denen wir kommunizieren, ja Begriffe selber schon seien sozusagen der Inbegriff dieser Gleichschaltung.


    Wer im Tausch, und das betrifft nicht nur den Tausch von Waren sondern ebenso den von Meinungen, Geltungsansprüchen und dergleichen, als für jede Art Kommunikation,

    wer [also] im Tausch Unterschiedlichstes äquivalent/gleichwertig setzt, dem sind die konkreten Bestimmungen der getauschten Dinge oder Dienstleistungen gleichgültig - umgangssprachlich: Jacke wie Hose. 20 Ellen Leinwand und ein Rock, eine Theaterkarte oder eine Nachhilfestunde, ein Adornoband oder 20 Liter Benzin: all das und unendlich viel mehr kann äquivalent sein. Wer tauscht, sieht von allen Einzelheiten ab. Und genau das muß er tun. Denn die getauschten Dinge sind ja nicht gleich, der Tausch setzt sie vielmehr allererst gleich.

    Ohne Tausch keine Abstraktion (et vice versa: Tausch und Abstraktion sind zwei Seiten einer Münze), und ohne Abstraktion keine Rationalität.

    Gibt es also wirklich kein Entrinnen? Keine Spielräume? Wie konnte Adorno selber dem totalen Verblendungszusammenhang entkommen? In diesem Leben gab es doch keine Nischen, keine Enklaven, in denen das richtige Leben gedeihen könnte; das unverfälscht Eigene der Dinge und der Menschen, das so genannte "Nicht-Identische", also nicht zur begrifflichen Identität Vergewaltigte - wo käme es zur Geltung, wo hätte es noch eine Lebenschance? Immer wieder suchten die Veteranen der Kritischen Theorie verzweifelt nach solchen - von der Tauschrationalität unberührten - Enklaven: Religion, Revolution, Kunst - nur nicht dort, wo (Hörisch moniert es süffisant) deren Nachfolger wie Habermas sie wähnen: In der sog. Kommunikation.

    Kommunikation hat nicht statt, weil wir einen Konsens erreichen wollen, sondern weil wir divergenteste Interessen haben. Konsens bringt Kommunikation nicht voran, sondern bringt sie zum Erliegen. ... Wir unterhalten uns, weil wir in unterschiedliche Richtungen laufen wollen (discurrere). Der Gegenbegriff ist schnell anzugeben: Konsens zielt auf Kon-Kurs.

    Solche eingängigen und triftigen Formulierungen gelingen Hörisch immer wieder. Und in einem überraschenden Brückenschlag bringt er Adornos Kunstideal auf die mephistophelische Formel, identifiziert Goethe als "einen der ersten und hellsten deutschen Leser von Adam Smiths "The Wealth of Nations" und sieht, dass der aufgeklärte Egoismus - sozial geächtet als das Böse - doch mit Hilfe der unsichtbaren historischen Hand stets das Gute schafft:

    Gerechtfertigt ... ist der moralwidrig handelnde Einzelne, der das Große-Ganze und auch das totaliter aliter missachtet und vergißt, weil er von der "invisible hand" einer Dialektik geführt wird, die geradezu systematisch dafür sorgt, dass aus individuellem Schlechten transindividuelles Gutes wird.

    Hörischs Buch ist ein Plädoyer - nicht für die wohltätige Kraft des angeblich Bösen, wohl aber - für die bedenkenswerte Relativierung des so genannten Bösen oder Falschen; das wahre Böse ist eben jenes erbarmungslose Gute, das nur allzu leicht und rasch umschlägt in fundamentalistische Despotie, die, wie jeder Totalanspruch, zum Totalitären neigt. Es soll eben keine subversiven Nischen geben - aber nur in diesen hat die Nicht-Identität ja eine Chance. Das Ganze ist immer das Unwahre, weil es Alternativen nicht zulässt, ja nicht einmal denken kann. Marcuses sprichwörtliche "Große Weigerung" wäre vielleicht der erst Schritt zur subversiven Nicht-Identität - unabhängig von ihrem Inhalt - wahrscheinlich hätte hier einmal Adorno zugestimmt, so wie er auch das Neue an sich, unabhängig vom Inhalt, gegen Benjamin verteidigte. Seltsam, dass Adorno jenen Meergott Proteus nicht für sich entdeckte: Der konnte bekanntlich jede beliebige Gestalt annehmen außer einer: seiner eigenen. Genauer: Er war immer nur der, den er gerade schuf.

    Jochen Hörisch
    Es gibt (k)ein richtiges Leben im falschen
    Suhrkamp, 101 S., EUR 15,-