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Vom bürgerlichen Zögling zum fanatischen Kriegsanhänger

Karl Jäger entstammte einer musikalischen und feinsinnigen Familie in der badischen Provinz. Später wurde er allerdings Kommandeur des Einsatzkommandos 3 und war damit für die Ermordung der litauischen Juden verantwortlich. Der Freiburger Militärhistoriker Wolfram Wette hat jetzt eine Biografie über Karl Jäger vorgelegt.

Von Otto Langels |
    Der Hinweis eines lokalen Heimatforschers brachte Wolfram Wette auf die Spur Karl Jägers. Der Militärhistoriker Wette, der in dem kleinen Städtchen Waldkirch in der Nähe von Freiburg wohnt, in dem einst auch Jäger lebte, begann sich für die Person des früheren SS-Offiziers zu interessieren. Trotz einer relativ dürftigen Quellenlage gelang es Wette, den Lebensweg Jägers und vor allem seine Rolle im Zweiten Weltkrieg nachzuzeichnen. Karl Jäger wuchs in einem musikalischen Elternhaus auf. Er besuchte das Konservatorium und lernte den Beruf des Orgelbauers, meldete sich dann aber noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs freiwillig zum Militär und war vier Jahre Frontsoldat.

    Er hat sich bis zum Offiziersstellvertreter emporgearbeitet und fand das ganze militärisch-kriegerische Milieu keineswegs abstoßend, was sich daran zeigte, dass er nach 1918 davon nicht lassen konnte. In den Jahren der Weimarer Republik schloss er sich nicht nur bereits im Jahr 1923 der NSDAP an, war also ein sogenannter alter Kämpfer, sondern war immer auch im Umfeld der Schwarzen Reichswehr tätig, gehörte einem Freikorps Damm im Badischen an, die hatten wiederum etwas zu tun mit der Organisation Escherich, also mit diesen rechtsradikalen Wehrbünden der damaligen Zeit.

    Anfang der 30er-Jahre baute Karl Jäger in seiner Heimatstadt Waldkirch eine SS-Gruppe auf, und zwar so erfolgreich, dass Heinrich Himmler auf ihn aufmerksam wurde. Der Reichsführer SS holte ihn nach Berlin ins Reichssicherheitshauptamt. Im Sommer 1941, kurz vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, erhielt Jäger den Befehl, das Einsatzkommando 3 aufzustellen, das als mobile Mordtruppe in Litauen wütete.

    Er selbst hat mindestens zwei Meldungen handschriftlich unterzeichnet, aus denen hervorgeht, dass er zwischen 135.000 und 138.000 Litauer Juden hat ermorden lassen. Das ist eine ungeheuer hohe Zahl, wenn man weiß, dass in Litauen nur knapp um die 200.000 Juden gelebt haben. Er hat alle Mitglieder seines Einsatzkommandos schießen lassen, er hat sie gezwungen, auch die Schreibstubenleute.

    So wollte Karl Jäger sicher gehen, dass alle Angehörigen seiner Einheit in die Verbrechen verstrickt waren und darüber Stillschweigen bewahrten. Als die Massenmorde in Litauen stattfanden, war der Standartenführer im Vergleich zu anderen SS-Kommandeuren bereits ein alter Mann.

    Die meisten Kommandeure von Einsatzkommandos und von Einsatzgruppen waren junge, 30-jährige, dynamische Volljuristen in der Regel, und er war schon ein 50-jähriger Mann. Und vielleicht rührt es auch daher, dass er beweisen musste, dass er trotz seines vorgerückten Alters im Vergleich zu seinen jungen Kameraden noch in der Lage war, diese schwere Aufgabe, die Juden eines ganzen Landes zu ermorden, dass er das leisten konnte.

    Da Jäger weder über eine juristische noch über eine administrative Ausbildung verfügte, übertrug er alle Verwaltungsaufgaben seinem Stellvertreter. Seine nichtakademische Herkunft und sein Alter versuchte er durch besondere Radikalität auszugleichen. Am 1. Dezember 1941 meldete er an seine Vorgesetzten:

    Ich kann heute feststellen, dass das Ziel, das Judenproblem für Litauen zu lösen, erreicht worden ist. In Litauen gibt es keine Juden mehr außer den Arbeitsjuden incl. ihrer Familien. Diese Arbeitsjuden wollte ich ebenfalls umlegen, was mir jedoch scharfe Kampfansage der Zivilbevölkerung und der Wehrmacht eintrug. Diese Juden und ihre Familien dürfen nicht erschossen werden. Ich bin der Ansicht, dass sofort mit der Sterilisation der männlichen Arbeitsjuden begonnen wird, um eine Fortpflanzung zu verhindern. Wird trotzdem eine Jüdin schwanger, so ist sie zu liquidieren.

    Nach 1945 hielt sich Jäger einige Zeit in seiner Heimatstadt Waldkirch auf und tauchte dann im Odenwald als Landarbeiter unter. Ende der 50er Jahre wurde er wegen Mordverdachts festgenommen und nach Hohenasperg bei Ludwigsburg gebracht.

    Dort wurde er gründlich verhört, hat in seinen ganzen Vernehmungen abgestritten, dass er eine Schuld auf sich geladen hätte, hat die Judenmorde auf seine Untergebenen abgeschoben, hat selbst keine Verantwortung übernommen und hat in einem Abschiedsbrief an den Vernehmungsbeamten noch einmal klargestellt, er sei nicht schuldig und habe nichts zu bereuen.

    Einen Tag später erhängte sich Jäger in seiner Zelle. Der Selbstmord steht in krassem Gegensatz zu seinem Abschiedsbrief. Bei den Vernehmungen hatte er keinerlei Anzeichen von Einsicht gezeigt, aber offensichtlich plagten ihn Skrupel wegen der Massenmorde in Litauen.

    Er hat gesagt, er könne seiner Frau nicht mehr in die Augen sehen, er könne sich nicht vorstellen, dass seine Enkel sich noch mal auf seinen Schoß setzen würden, also die Deformation war nicht so weit gegangen, das Gewissen war nicht so weit ausgeschaltet, dass das alles gar keine Rolle mehr bei ihm gespielt hätte.

    Insofern war Karl Jäger, so das Fazit von Wolfram Wettes informativer und lesenswerter Biografie, ein normaler Mann, den seine Mitbürger in Waldkirch als feinsinnigen, musikalisch begabten, immer korrekten Menschen erlebt hatten; ein harmloser Familienvater, wie ihn der Historiker Christopher Browning und der Sozialpsychologe Harald Welzer in ihren grundlegenden Studien über NS-Täter beschrieben haben. Die Erfahrung des Ersten Weltkriegs führte Jäger auf einen Weg, der gesäumt war von militaristischer Gewalt, klaren Feindbildern und eindeutigen Befehlshierarchien. Am Ende wurde er einer der effizientesten Massenmörder des NS-Regimes.

    Otto Langels:Wolfram Wette:Karl Jäger. Mörder der litauischen Juden. Fischer Verlag, 288 Seiten, 9,99 Euro, ISBN: 978-3-596-19064-5