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Vom einfachen Soldaten zum "größten Führer"

Viele Historiker sind der Meinung, Adolf Hitler sei durch die Erfahrungen während des 1. Weltkrieges zum hasserfüllten Antisemiten geworden. Der im schottischen Aberdeen lehrende Historiker Thomas Weber allerdings ist da ganz anderer Ansicht.

Von Matthias Bertsch | 14.03.2011
    "Seit ich 1914 als Freiwilliger meine bescheidenen Kräfte im ersten, dem Reich aufgezwungenen Weltkrieg einsetzte."

    Mit diesen Worten beginnt das Testament Adolf Hitlers. Sie sind, so der Historiker Thomas Weber in seinen Buch "Hitlers erster Krieg. Der Gefreite Hitler im Weltkrieg – Mythos und Wahrheit" charakteristisch für das Selbstbild Hitlers und die gesamte NS-Propaganda: Die Erfahrung im Reserve Infanterieregiment 16 – dem "List-Regiment" -, das vier Jahre lang an der Westfront kämpfte, habe Hitler gestählt und zum Vorbild für andere Soldaten gemacht. Dabei war der Gefreite Hitler kein gewöhnlicher Soldat sondern ein so genannter "Meldegänger".

    "Die Geschichte, die immer erzählt wurde und später auch von Hitler-Biografen geglaubt wurde, war, dass seine Aufgabe als Meldegänger eigentlich noch gefährlicher gewesen wäre, weil er wirklich dann von Schützengraben zu Schützengraben durch Maschinengewehrfeuer laufen musste, und dass dadurch seine Aufgabe noch gefährlicher wäre als die Aufgabe von normalen Frontsoldaten sowieso schon waren, und dass er dadurch typisch gewesen ist oder sogar noch heldenhafter und dass ihn dadurch auch alle bewundert haben im Regiment."

    Ein Mythos, macht Weber deutlich, denn die Meldegänger des Regimentsstabes, zu denen Hitler gehörte, dienten nicht an, sondern ein paar Kilometer hinter der Front.

    "Das war natürlich auch gefährlich, und Hitler ist ja auch tatsächlich zwei Mal während des Krieges verwundet worden, aber das Wesentliche hier ist, dass die Soldaten in den Schützengräben meinten, dass Soldaten wie Hitler es eigentlich sehr bequem gehabt haben."

    "Adolf, wir können es nicht aus der Welt schaffen, dass wir eben Regimentsstabler waren. Der Begriff, dass keine Infanterie oder Maschinengewehrgeschoss eine Ordonnanz hatte treffen können, ist Ansicht dieser Leute, ohne dass sie es böse meinen, denn wer nicht im Graben lag, hat nach derer Meinung nichts geleistet."

    Die Stärke von "Hitlers erster Krieg" liegt in den zahllosen Dokumenten wie dem zitierten Brief von Ferdinand Widmann, der gemeinsam mit Hitler im Regimentshauptquartier gedient hatte. Weber hat nicht nur Archive durchforstet sondern auch einige Privatnachlässe von Familien, deren Groß- und Urgroßväter gemeinsam mit Hitler im Listregiment gekämpft hatten, zur Verfügung gestellt bekommen. Das Ergebnis ist ein lebendiges Bild davon, wie zwar nicht das ganze Regiment aber doch eine große Anzahl von Soldaten, darunter auch einige jüdische Frontkämpfer, den Ersten Weltkrieg erlebt haben – ganz anders als Hitler, der ihn idealisierte.

    "Ich glaube, es liegt letztlich daran genau, dass er kein Soldat im Schützengraben gewesen ist. Denn im Gegensatz, was man lange in der 70er-, 80er- oder 90er-Jahren-Forschung angenommen hat, wissen wir mittlerweile, dass die Mehrheit der Frontsoldaten halt nicht hinterher blutlustig in Freikorps eingetreten sind und immer weiter kämpfen wollten sondern eigentlich die Schnauze voll hatten und ja auch zum Beispiel sehr viel mehr Veteranen in Deutschland in kriegsablehnende Veteranenvereine eingetreten sind als kriegslüsterne Veteranenvereine eingetreten sind."

    Anders als es der Titel nahelegt, ist "Hitlers erster Krieg" nicht nur ein Buch über Hitler. Weber hat am Beispiel des überwiegend bayrisch-katholisch geprägten List-Regiments eine Sozialgeschichte des Ersten Weltkrieges geschrieben, in der die Sichtweise der normalen Soldaten im Vordergrund steht. Und diese, so Weber, seien keineswegs voller Brutalität oder gar Vernichtungswillen in den Krieg gezogen. Die von Historikern immer wieder hergestellte direkte Verbindung zwischen dem Militarismus des Kaiserreichs und dem Aufstieg des Nationalsozialismus sei ausgesprochen fraglich, schreibt Thomas Weber.

    "Zweifellos war es eine militarisierte Gesellschaft. Aber es war auch eine Gesellschaft, die insgesamt nicht aktiv auf den Krieg drängte, sondern bereit war, zu den Waffen zu greifen, wenn das eigene Land bedroht war. Und zweifellos war die Wacht
    am Rhein nicht militaristischer als die französische
    Nationalhymne, die Marseillaise."


    "Wenn Sie mich fragen, ob es um eine Rehabilitierung geht der Soldaten, würde ich sagen nein, denn letztlich bin ich Wissenschaftler und letztlich kann nur wichtig sein, was die Soldaten wirklich getrieben haben an der Westfront, und da geb ich Ihnen vollkommen recht, dass es meine These ist, dass man sich, wenn man sich wirklich die Geschichte des 1.Wweltkrieges aus der Perspektive von 1915 oder 16 oder 18 sieht und nicht aus der Perspektive von 1945 oder durch die Augen von Auschwitz, dass ich keine großen Unterschiede sehe in den Mentalitäten und den Ansichten und den Verhaltensweisen der gewöhnlichen deutschen Soldaten und der gewöhnlichen britischen oder französischen Soldaten."

    Adolf Hitler aber war kein gewöhnlicher Soldat, macht Thomas Weber deutlich. Anders als die meisten Frontkämpfer, die froh sind, als der Krieg endlich vorbei ist und sie zu ihren Familien zurückkönnen, hat Hitler keine Familie. Seine Ersatzfamilie ist der Regimentsstab seiner Einheit, nach deren Auflösung Hitler in ein Loch fällt. Ein Jahr später wird er in der Deutschen Arbeiterpartei, die bald den Zusatz "nationalsozialistisch" erhält, eine neue Heimat finden. Dazwischen liegt eine Episode, die bis heute Fragen aufwirft. Im Frühjahr 1919 dient Hitler als Soldat in München einer Regierung, die er später als "verbrecherisch" und "jüdisch" beschreibt: Er lässt sich in einen Soldatenrat der Münchner Räterepublik wählen. Warum, kann auch Weber nicht beantworten, doch er betont,

    "… dass Hitlers Zukunft unbestimmt war und dass für ihn ganz unterschiedliche politische Bewegungen infrage kamen, sofern diese das Versprechen einer klassenlosen Gesellschaft mit irgendeiner Form von Nationalismus verbanden."

    Was aus Hitler jenen fanatischen Nationalisten und Antisemiten gemacht hat, als der er in die Geschichtsbücher eingegangen ist, lässt "Hitlers erster Krieg" offen. Der Vorstellung allerdings, man könne den Aufstieg Hitlers zu einem fanatischen Diktator, der nicht nur die halbe Welt mit Krieg überzogen hat, sondern auch die Vernichtung der europäischen Juden anordnete, quasi aus der Geschichte des List-Regimentes "ableiten", erteilt Weber eine klare Absage.

    "Wo wir uns mit Sicherheit drauf einigen können, ist, dass Hitler aus dem Krieg zurückkehrt als jemand, in dem niemand irgendwelche Führerqualitäten oder Führungsqualitäten sieht, der auch dadurch nicht über den Rang eines Gefreiten hinausbefördert worden ist, also Hitler hat nie irgendeine Befehlsgewalt über irgendeine andere Person gehabt. Also er kehrt mit dieser Persönlichkeit aus dem Krieg zurück und ein knappes Jahr später ist er ein charismatischer Führer geworden. Aber wieso das genau geschehen ist, wissen wir eigentlich nicht."

    Hitler und der Nationalsozialismus wurden nicht im Ersten Weltkrieg geboren. Thomas Weber kann diese These zwar nicht beweisen, aber "Hitlers erster Krieg" bringt zahlreiche Indizien, die seine Vermutung gut begründet erscheinen lassen. Wer Hitlers Verwandlung vom einfachen Gefreiten zum "Größten Führer aller Zeiten" verstehen will, muss sich den ersten Monaten des Jahres 1919 zuwenden. Den Anstoß zu weiteren Forschungen über Hitler in der unmittelbaren Nachkriegszeit hat Thomas Weber mit seinem Buch gegeben.

    Matthias Bertsch über Thomas Weber: "Hitlers erster Krieg. Der gefreite Hitler im Weltkrieg - Mythos und Wahrheit",
    Propyläen, ISBN: 3549074050, 592 Seiten, 24, 99 Euro.