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Vom Eisenbahndepot in die Humanwissenschaftliche Fakultät

Das Bildungssystem in Argentien ist marode: 60 Prozent der Dozenten an der UBA, der größten Universität des Landes, arbeiten seit einiger Zeit gratis. Neben dem Zusammenbruch der argentinischen Wirtschaft Anfang 2002 war vor allem die Bildungspolitik der Regierung von Carlos Menem in den 90er Jahren ein Grund für diese Entwicklung. Nun schreitet die Dezentralisierung im Bildungssystem weiter voran - anscheinend mit positiven Auswirkungen.

Peter B. Schumann |
    Demonstration in der UBA, der Universität von Buenos Aires - mit 350.000 Studenten die größte in Argentinien. Seit vier Monaten wird hier versucht, einen neuen Rektor zu wählen, aber die Interessenvertretungen von Professoren, Dozenten und Studenten blockieren sich gegenseitig.

    Lehren oder studieren an der UBA ist kaum noch möglich - eine neue Zuspitzung der bereits lange andauernden Krise an einer der angesehensten Hochschulen in Lateinamerika. Sie ist das dramatischste Symptom eines Niedergangs, der das gesamte Bildungswesen betrifft, das im Zuge der neoliberalen Politik von Präsident Carlos Menem in den 90er Jahren allmählich ruiniert wurde.

    Damals übertrug der Staat die Verantwortung für Schulen und Hochschulen den einzelnen Provinzen, aber ohne ihnen hierfür die nötigen Mittel zu geben. Der Zusammenbruch von Wirtschaft und Staat um die Jahreswende 2001/2002 tat ein Übriges, so dass der Bildungsstand - der einst als vorbildlich galt im südlichen Amerika - tief herabsank.

    "Das Bildungssystem erlebt die schlimmste Phase in der argentinischen Geschichte" - so resümiert Osvaldo Bayer, Professor für Menschenrechte an der Universität von Buenos Aires.

    "Die Lehrer verdienen Hungerlöhne. An den staatlichen Hochschulen arbeiten 60 Prozent der Dozenten gratis. Andere haben ihre Lehrveranstaltungen eingestellt, weil noch nicht einmal Geld für Kreide da war. Kürzlich haben die Rektoren ihnen immerhin umgerechnet 100 Euro drei Monate lang zugestanden, damit sie wenigstens die Fahrtkosten in die Studienzentren bezahlen konnten."

    Die heutige Regierung von Nestor Kirchner versucht nun mit neuen Gesetzen, dem Bildungsnotstand Herr zu werden. Und es gibt Gegenbeispiele: Weg von der kaum zu steuernden und chronisch unterfinanzierten Massenuniversität, hin zu kleineren, überschaubaren Hochschulen im Gürtel der Vorstädte von Groß-Buenos Aires, zum Beispiel in San Martín.

    In dem kleinen Ort wurden früher Lokomotiven ausgebessert. Das riesige Rondell mit den Lokschuppen hat die Schließung der Anlage überlebt. Selbst die Drehscheibe lässt sich noch in Bewegung setzen.

    Doch in den alten Werkstätten wird keine Eisenbahn mehr repariert, sondern sukzessive die Humanwissenschaftliche Fakultät der "UNSAM" eingebaut, der Universität San Martín. 1993 wurde sie auf Initiative der Bewohner und mit Hilfe eines Gesetzes gegründet, das neue Hochschulen in den Vorstädten förderte.

    Inzwischen sind an der UNSAM 8500 Studenten eingeschrieben und können - ohne jegliche Studiengebühren - beispielsweise biotechnologische Forschungen betreiben, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften studieren oder sich in so ausgefallenen Fächern wie Kinesiologie ausbilden lassen.

    "Insgesamt sind sieben solcher Universitäten im Raum von Groß-Buenos Aires entstanden", erklärt Rektor Carlos Ruta:

    "Man glaubte anfangs, sie würden zu einer Entvölkerung der riesigen Universität Buenos Aires führen. Aber sie haben deren Modell nicht übernommen, sondern sich neu orientiert und bieten Studienrichtungen an, die sonst nirgendwo existieren. Den Wünschen des Staates nach Dezentralisierung kommen diese kleineren staatlichen Universitäten entgegen. Inzwischen gibt es 37 oder 38 solcher Hochschulen im ganzen Land."

    Sie werden die strukturellen und politischen Probleme der Massenuniversität UBA nicht lösen, bieten aber zumindest eine Hoffnung im maroden Bildungssystem Argentiniens.