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Vom Ende der Artenvielfalt

Mit militantem Naturschutz hat dieses Buch nichts zu tun. Es beschreibt den Artenschwund ausführlich und erklärt, warum er so schwer zu stoppen ist.

Von Georg Ehring |
    Der Leser kann die Papageien zwar nicht hören, aber sie werden ihm nach der Lektüre ziemlich vertraut vorkommen: Terry Glavin beschreibt das Leben des Hellroten Ara, von Dodos, Wandertauben und Eskimobrachvögeln mit so vielen liebevollen Einzelheiten, dass man sie hinterher gut zu kennen glaubt und versteht, warum es immer weniger davon gibt. Jede Spezies hat ihre eigene Geschichte, allzu oft mit traurigem Finale wie im Falle des Riesenalks, der vermutlich am dritten Juni 1844 ausstarb - ein zweifelhafter Jagderfolg dreier Fischer aus Island.

    "Früher einmal hatte es auf Eldey in der sommerlichen Brutsaison nur so gewimmelt, aber an diesem Tag stießen die drei Männer auf ein einziges Brutpaar. Sie töteten die beiden Vögel. Auf dem Lavafelsen blieb ein einsames Ei zurück. Es zerbrach als Ketilsson es einsammeln wollte. Und das war das Ende des Riesenalks."

    "Warten auf die Aras" beschreibt das Verschwinden der Artenvielfalt nicht in Form einer wissenschaftlichen Abhandlung über das Artensterben und seine Ursachen, sondern in neun Reportagen mit Erkenntnissen und vor allem Erlebnissen aus seinen Reisen rund um die Welt. Spannende Geschichten, die der Leser mit allen Sinnen genießen kann:

    "Zu den Pflanzen im Palm House gehört auch der berüchtigte Durianbaum, dessen kokosnussartige Frucht mit der Blüte der von Schmeißfliegen befruchteten Rafflesia, der wir in diesem Buch schon begegnet sind, um den Titel der widerwärtigsten Pflanze der Welt wetteifert. Das Fleisch der Durianfrucht ist angeblich sehr wohlschmeckend, verströmt aber einen so furchtbaren Gestank, dass man das Gefühl hat, Vanillepudding in einer Jauchegrube zu essen."

    Die Erzählungen stehen nicht für sich. Sie sollen verständlich machen, warum in unserer Welt immer weniger Platz ist für Vielfalt; nicht nur für Pflanzen- und Tierarten, sondern auch für menschliche Lebensweisen und Sprachen, deren Verlust für Glavin mit dem der biologischen Vielfalt eng zusammenhängt. Im namengebenden Kapitel geht es um Vögel. In den anderen reicht die Spannweite von Walen über Tiger und Löwen bis zu Nutzpflanzen und Lebensräumen. Nutzpflanzen und auch -tiere sterben noch viel schneller aus als ihre natürlichen Verwandten. Was der Mensch nicht mehr zu brauchen glaubt, verschwindet, weil niemand es weiter verwendet, und so gibt es in den USA heute nur noch 28 Sorten Kohl - verglichen mit 544 Anfang des 20. Jahrhunderts; nicht etwa deshalb, weil Kohl in den USA aus der Mode gekommen ist, sondern weil große Agrarkonzerne nur noch die ertragreichsten Sorten anbieten. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen und Glavin übertreibt es manchmal mit Aufzählungen, Anekdoten und Geschichten über einzelne Spezies.
    Doch er geht auch den Ursachen auf den Grund - Kapitalismus und Globalisierung sind seine Stichworte. Im Interesse der Wirtschaft werden Naturgebiete plattgemacht und alte Kulturen mit eigenen Sitten und Gebräuchen geschleift, so seine Diagnose. Saatgutkonzerne und Tierzüchter verlangen standardisierte, austauschbare Massenware - nur was in dieses Raster passt, überlebt. Ein Verdienst von "Warten auf die Aras" ist, dass es den Verlust der Vielfalt auch in diesem Bereich fühlbar macht.

    "Bauern in aller Welt sind zunehmend auf Saatgut, Maschinen, Pestizide, Herbizide und Düngemittel angewiesen, die sie kaufen müssen. Ihr Leben wird von Entscheidungen bestimmt, die anderswo gefällt werden. Die Pflanzen, die sie anbauen, enthalten den Schlüssel zur Vernichtung ihrer Kultur, und sie selbst werden dazu nicht gefragt. Ihre Kinder wenden sich von den bedeutungslos gewordenen Bräuchen ihrer Heimat ab, und die Anweisungen, aus denen sie erfahren, wie viel Unkrautvertilgungsmittel sie für ihre Reisfelder verwenden müssen, stehen in englischer Sprache auf der Verpackung."

    Mit Anklagen gegen die Täter des Artensterbens hält sich Glavin zurück. Er beschreibt lieber, was sie antreibt und warum sie so handeln, wie sie handeln. Es geht in erster Linie um Konzerne mit weltweiten Interessen, aber auch um Jäger, Sammler und Kleinbauern, die aus Existenznot bisher unberührte Urwälder roden. Für ihre Bedürfnisse hat Glavin Verständnis. Er bricht sogar eine Lanze für den traditionellen Walfang durch Küstenbewohner.

    "Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurden, ungeachtet aller Polemik, aller Kontroversen und allen Geschreis, weltweit nur noch ein paar Tausend Wale pro Jahr getötet, und die Walfangindustrie beraubte die Meere nicht mehr im großen Stil ihrer Wale. Das ist gut. Gut ist aber auch, dass Norwegen sich nicht zwingen lässt, das eigene Volk seinen Walfangtraditionen zu entfremden. Norwegen hat bewusst den Kräften die Stirn geboten, die aus der bunten Welt ein blasses Einerlei machen."

    Nach der Lektüre kann der Leser nachfühlen und ein Stück weit auch verstehen, warum die Artenvielfalt verschwindet, welche starken Kräfte dahinter stehen - und warum es schwer ist, die Naturzerstörung zu bremsen. Wer daraufhin beschließt, etwas dagegen zu tun, dem werden Vorbilder präsentiert. Glavin stellt nicht zuletzt auch Menschen vor, die sich für den Erhalt der Vielfalt einsetzen. Ein schlüssiges Konzept, wie der Verlust zu stoppen ist, hat er allerdings nicht zu bieten.

    "Wir müssen die Reichweite der Demokratie so ausdehnen, dass wir den Kräften die Stirn bieten können, die hinter Monokultur, Umweltzerstörung und all den Dingen stehen, die jene Felder hervorbringen, an denen die Menschen ein Kreuz schlagen, wenn sie vorübergehen. Es wird harte Arbeit sein, die uns Opfer, Disziplin und möglicherweise auch Gewalt abverlangt. Wir dürfen uns der moralischen Verpflichtung nicht entziehen, weil wir uns davor fürchten."

    Ähnliche Appelle ließen sich zu fast jedem beliebigen Thema formulieren. Doch diese Schwäche am Schluss sollte niemanden von der Lektüre abhalten, denn Glavin beschreibt in faszinierenden und erschreckenden Einzelheiten das Verschwinden der Natur, die auch die Lebensgrundlage der Menschen ist. Nicht zuletzt macht "Warten auf die Aras" auch Lust darauf, sich auf die noch vorhandene Natur einzulassen und sie vielleicht in der eigenen Umwelt besser kennenzulernen. Dort findet der Leser ja vielleicht auch Ansatzpunkte zum Handeln und zum Erhalt der Vielfalt. Vorbilder dafür finden sich in dem Buch in großer Zahl.

    Rezensiert von Georg Ehring
    Terry Glavin: Warten auf die Aras. Geschichten aus dem Zeitalter des Verschwindens
    Verlag Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2009, 19,90 Euro.