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Vom Ende starrer Systeme

"Den Menschen werden schon bald Modelle nur noch wenig bedeuten, die keine ausreichenden Begriffe und Vorstellungen zur Verfügung haben, um die augenblicklichen Wandlungen in der Lebens- und Gesellschaftsgestaltung zu erfassen, zu deuten und in die Zukunft hin zu verlängern."

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 26.12.2007
    Jede Theorie ist in ihrem Ursprung Betrachtung des als wesentlich Angesehenen in der Wirklichkeit. Da eine solche Betrachtung nur aus Distanz möglich ist, nimmt die Theorie mit Notwendigkeit die Position einer höheren Warte ein.

    Weitergehende Grenzziehungen und Aufteilungen in Disziplinen, wie sie dann für die Wissenschaften typisch werden, entwickeln sich erst später. Wenn wir heute wieder verstärkt interdisziplinäre Forschung fordern, folgt dies dem Wunsch, entzweite Disziplinen aus ihren Versteifungen zu lösen und Möglichkeiten einer Zusammenarbeit zu erproben: Man geht dann der Frage nach, wie sich das jeweils auf spezifische Weise Erarbeitete zusammen denken lässt.

    So möchte man erneut anschließen an ein Denken, das sich noch nicht der Spezialisten- und Experten-Einengung unterworfen hat. Ganz in diesem Sinne war kürzlich die zugespitzte Formulierung zu lesen: "Leider hält sich der Krebs nicht an die Grenzen der Wissenschaft!"

    Den Wissenschaften gilt in der Regel als normal, dass sie ihren Rahmen und den Gegenstand, von dem sie handeln, genau anzugeben wissen. Von der Philosophie und der Quantenphysik können wir indes auf exemplarische Weise lernen, die Gesamtheit des Denk- und Vorstellbaren in den Blick zu nehmen.

    Die Quantenphysik, wie sie heute eindrucksvoll Thomas Görnitz vertritt, und die von Peter Sloterdijk in dieser Hinsicht besonders weit entwickelte Philosophie wenden sich gegen die Substanzmetaphysik und deren Verhaftetsein in erstarrten materialistischen Vorstellungen. Naturwissenschaftler tun zumeist so, als sei Materie das Bekannte und das Gewisseste.

    Dabei leben wir längst in einer Welt, die viel stärker am Virtuellen, an der medial erzeugten Wirklichkeit als an traditionellen Orientierungen, an Mustern der Materie ausgerichtet ist. Die mediale Wirklichkeit könnte also den Zugang zu quantenphysikalischen Auffassungen erleichtern. Denn sowohl durch die Cyberspace-Welt als auch durch die Quantenphysik werden überkommene Vorstellungen von fester Materie außer Kraft gesetzt beziehungsweise stark eingeschränkt.

    Die Menschen richten sich phasenweise in der Internet-Kommunikation wie in einer ersten Wirklichkeit ein. An die Stelle traditioneller Systeme treten flüchtige Zeichensysteme, deren Anziehungskraft ständig wächst. Dies beweist besonders signifikant die durch die virtuelle Online-Welt "Second Life" geweckte grenzenlose Sehnsucht nach einem anderen Leben. Verlangte der Exotismus früherer Jahrhunderte noch den realen Aufbruch in die als exotisch angesehene außereuropäische Welt, so kennt das "Land der unbegrenzten Online-Möglichkeiten" heute keinerlei geographische und materielle Begrenzungen mehr.

    Darüber hinaus haben Radio und Fernsehen eine extrem strukturierende und rhythmisierende Wirkung auf das Leben und den Alltag, auf das Zeit- und Raumgefühl des Menschen. Sie sind eine Art Zeitgeber und Ordnungsstifter. Die Gesellschaft gruppiert sich heute streckenweise stärker um Nachrichtenblöcke, Videoclips und Unterhaltungssendungen als um familiäre, religiöse und soziale Ereignisse.

    Zu dieser medialen Homogenisierung und Gleichschaltung der Menschen gehört, dass Erregung einerseits und Entwarnung andererseits in einer ausgeklügelten Balance angeboten werden. Auch wenn das Fernsehen ein von seinen Bildern dominiertes Medium ist, so sind doch auch hier entscheidende Botschaften, wie beim Radio, vom Wort abhängig.

    Greift man zum Beispiel einige in den Nachrichten immer wiederkehrende Themen heraus, dann lässt sich dieses Wechselspiel von Erregung und Entwarnung besonders gut studieren: Dies sind die politische Situation im Irak, in Iran und Afghanistan, der Nahost-Konflikt und, mehr auf der Ebene von Affekten, die Meldungen über Amokläufe, Kinderpornographie, terroristische Einzelaktionen oder die Frage der Begnadigung ehemaliger RAF-Terroristen. Ist, zum Beispiel in diesem Fall, das Gnadengesuch abgelehnt, ist das Thema erledigt, spielt sich höchstens noch für ein paar Tage auf einem Nebenschauplatz des medialen Interesses ab. Die Erregung ist schon wieder auf einen anderen Fokus gerichtet.

    Zuweilen hat es den Anschein, als seien die Nachrichten vor dem Ereignis viel interessanter als das Ereignis selbst. Nimmt man etwa die Wahlen in Deutschland, Frankreich und den USA, den G8-Gipfel in Heiligendamm oder die Frage der Begnadigung von Terroristen, so waren die Ereignisse bereits im Vorfeld derart ausgereizt und medial inszeniert, dass dagegen die Ereignisse selbst verblassten. Die Realität war dann weitaus weniger erregend als das Vorgestellte und Virtuelle.

    Die Medien bestimmen, was wichtig (also informationswürdig) und unwichtig (verschweigbar) ist. Sie suggerieren Brandaktualität und, darüber hinaus, Weltorientiertheit und kosmopolitische Weite des Menschen im Zeitalter der Globalisierung. In Wirklichkeit ist aber der Bürger des 21. Jahrhunderts viel kleiner, als uns die Medien glauben machen möchten.

    Die Prozesse der Globalisierung fordern von ihm die Einsicht in die weltweite Wirkung der großen politischen, ökonomischen und militärischen Entscheidungen, der Bedeutung des Klimawandels und der Migrationsbewegungen, die an keiner nationalstaatlichen Grenze Halt machen. Von den fortschrittlichen Sozialwissenschaftlern wird zu Recht darauf hingewiesen, dass unsere Begriffe, Denk- und Handlungsmuster noch längst nicht den globalen Maßstäben unserer Realität entsprechen. Auch die politischen und sozialen Lösungsansätze sind noch viel zu stark einer Zeit verhaftet, in der man glauben konnte, dass eine dramatische Veränderung des Klimas oder eine Wirtschaftskrise, die Umweltverschmutzung oder die Armut nur von den Bedingungen des eigenen Landes her betrachtet werden können.

    In einer gerade erschienenen Studie über "Das kosmopolitische Europa" schlagen der Soziologe Ulrich Beck und der Politikwissenschaftler Edgar Grande den Begriff des "kosmopolitischen Realismus" zur Kennzeichnung des neuen Zeitalters der grenzübergreifenden und grenzenerweiternden Kooperation vor. Zwischenstaatliche und zwischengesellschaftliche Gemeinschaftbildungen sind im kosmopolitischen Europa an die Stelle nationalstaatlicher Kategorien getreten.

    Wir erkennen also, dass das Aufbrechen starrer Theorie-Systeme auch einhergeht mit dem Ende starrer Gesellschaftssysteme. Wie könnte denn eine Theorie, die ihr Instrumentarium an nationalstaatlich strukturierten Gesellschaften ausgebildet und erprobt hat, einer Situation gerecht werden, die vom Kosmopolitismus des Marktes dominiert wird!

    Zugleich muss sich eine entsprechend veränderte Gesellschafts- und Sozialwissenschaft im Verbund mit Psychologie und Psychoanalyse entscheidenden neuen Fragestellungen öffnen: Wie werden die Auflösung des Nationalen und die neuen Verknüpfungen von global und lokal (also dem bereits so bezeichneten "Glokalen") von den Menschen selbst erlebt?

    Diese Veränderungen werden ja nicht nur euphorisch begrüßt, sondern auch als Bedrohung für die eigenen Werte, die Kultur und die kulturspezifische "kollektive Erinnerung" erfahren. Was wird aus der Erinnerung an die eigene, die einzigartige Geschichte?

    Einer solchen Befürchtung haben Kritiker immer wieder Ausdruck verliehen: Die global vereinheitlichte Kultur entspreche nicht, so ihr Argument, den lebendigen Bedürfnissen der Menschen, verhindere, weil sie keinen Sinn für Zeit habe, die Erinnerungen und die daran geknüpfte Identitätsbildung.

    Demgegenüber haben Sozialwissenschaftler wie die in New York, Tel Aviv, London und München lehrenden Daniel Levy, Natan Sznaider, Martin Albrow und Ulrich Beck in ihren neuesten Studien über "Erinnerung im globalen Zeitalter", "Das Globale Zeitalter", "Generation Global" und "Das kosmopolitische Europa" ausführlich darzulegen versucht, dass die Charakterisierung der globalen Kultur als angeblich zeitlos und erinnerungslos auf einem beschränkten Verständnis von Globalisierung beruht. So, als erzeuge Globalisierung mit Notwendigkeit nur noch eine, in sich weltweit homogene Kultur. Vielmehr müsse der Begriff des "kollektiven Gedächtnisses" aus seinem nationalen Zusammenhang herausgelöst und der Prozess der Globalisierung auch als ein Prozess der "inneren Globalisierung" und der Kosmopolitisierung begriffen werden.

    Der Kulturanthropologe Constantin von Barloewen hat nun in seiner soeben erschienenen Studie "Anthropologie der Globalisierung" diese Entwicklung als eine charakterisiert, deren Aufgabe es sei, die alten Gegensätze von Mythos, Theos, Logos und Spiritualität zu überwinden und, nach dem Ende starrer Systeme, neue Formen zu entwickeln. Er schreibt: "Das Ziel ist auf eine kreative Form der gesellschaftlichen Selbstorganisation gerichtet, die nicht mehr zentralistisch ist, sondern auf allen Ebenen von einer azentralistischen Machtausübung geprägt wird. Wir erleben den Wandel von einem mechanischen zu einem lebendigen System, das zugleich in der globalen Selbstorganisation lokal handelt und zu einer Revitalisierung der Zivilgesellschaft voranschreitet, einer neuen Bestimmung von Gemeinschaft."

    So weit Constantin von Barloewen. Dennoch bleibt die Frage, wie stark die spaltenden gesellschaftlichen, sozialen und religiösen Kräfte innerhalb der globalen Welt sind und wie weitgehend die Menschen in den einzelnen Gesellschaften unter den extrem differierenden ökonomischen Bedingungen an dieser Entwicklung zu einer neuen kosmopolitischen Gemeinschaft teilhaben können.

    Eine der heute differenziertesten Studien zu der in der Gemeinschaft selbst aufbrechenden Differenz stammt von dem in Straßburg lehrenden Philosophen Jean-Luc Nancy. In einer kleinen Schrift unter dem Titel "Die herausgeforderte Gemeinschaft" spricht er davon, dass die Globalität das Bild einer Gemeinschaft vermittle, ohne den Bruch in ihrem Inneren zu erkennen. Es sei, so Nancy, ein Gesetz des Gemeinsam-Seins, dass es seiner eigenen Essenz gegenüberstehe. Er schreibt: "Was uns widerfährt, ist eine Erschöpfung des Denkens des Einen und einer einzigen und einzigartigen Bestimmung der Welt: Es erschöpft sich in einer einzigartigen Abwesenheit von Bestimmung [...] Die Allgegenwart eines Einen ist zu seiner eigenen Monstrosität geworden."

    Auch unter diesem Gesichtspunkt bestätigt sich noch einmal die bereits geäußerte These, dass es eine auffällige Diskrepanz zwischen der vor allem von den Medien vermittelten großen Weltform und der tatsächlichen, brüchigen Gemeinschaft sowie der individuellen, psychischen Verfassung gibt, die nur zu einem Bruchteil der proklamierten kosmopolitischen Welthaltigkeit entspricht.

    Dies kann man besonders gut an den neuen Musikvideoclips sowie an großformatierten Sportereignissen wie den inzwischen als Gladiatorenkämpfen inszenierten Boxfights - ob in Dresden oder Las Vegas - sehen: Ein Weltmeisterschaftskampf in Las Vegas zwischen de la Hoya und Mayweather jr. mit Gagen von 25 Millionen Dollar und zusätzlichen anteiligen 45 Millionen aus den Pay-TV-Einnahmen für die Kämpfer nähert sich dabei der Irrationalität unserer gesamten Ökonomie.

    Aber auch dagegen provinziell erscheinende mediale Events haben scheinbar alle Grenzen gesprengt. Und doch trügt der Schein. Nimmt man etwa das samstägliche "Sportstudio", so ist es gegenüber dem Dekor früherer Jahre ultramodern geworden mit großen technischen Installationen, einem aufwendig inszenierten, sich immer stärker spielfilmartig gestaltenden Vorspann, mit Technikzauber und kosmopolitischem Flair. Dann treten die Sportler persönlich auf. Der Skispringer, der Boxchampion, der Handballer, der Rennfahrer, der Tenniscrack, der Fußballspieler, der Trainer. Nur für den Bruchteil einer Sekunde, während des musikbegleiteten Coming-in, kann der Star seinem Status gerecht werden.

    Sobald er den Mund aufmacht und von seiner Welt, seinem Leben, seinen Engagements erzählt, fällt aller Glamour in sich zusammen. Triviale Geschichten, ausdrucksloses Gerede. Dabei kommt eine Wahrheit über "die Seele im technischen Zeitalter" zum Vorschein: Die technische Globalisierung kann geistig nicht eingelöst werden. Eine subjektive Größerformatierung findet nicht statt, auch wenn dies die "Sportschau", die Talk-Sendungen und "Deutschland sucht den Superstar" vorzuspiegeln versuchen. Im Grunde genommen bleibt der Mensch, wie er vorher war, ein kleinformatiges Wesen, auf enge Verhältnisse bezogen, an altbekannte biographische und mentale Muster fixiert.


    Die Medien, aber auch die zukunftsweisenden Wissenschaften (wie auf exemplarische Weise die Genforschung und die Neurowissenschaften), zeichnen das Bild größerformatierter, aufsteigender Wesen. Aufsteigend wohin? Zu neuen, noch unbekannten Formen individueller Freiheit und Machbarkeit. Die Fabrikation vollkommener Menschen und die Auslöschung vermeintlich unheilbarer Krankheiten aus dem Kurzzeitgedächtnis scheinen möglich.

    Ein in das Gehirn implantierter Chip könnte die positive Gedankenmächtigkeit derart stärken, dass körperliche Behinderungen, ja sogar Lähmungen, mental ausgeschaltet und unwirksam gemacht werden. Die Wissenschaften suggerieren uns allzu oft, wir könnten uns höher - an andere Vorstellungen von Freiheit, Souveränität und Gesundheit - anschließen, ohne zuvor entsprechende geistige Voraussetzungen geschaffen zu haben.

    Die Wissenschaft, die uns nun am überzeugendsten Wirklichkeit als eine tatsächlich von Grund auf durch Beweglichkeit und Anschlussfähigkeiten geprägte offene Strukturvielfalt zeigt, ist die bereits angesprochene Quantenphysik. Sie lässt uns begründet hoffen, dass wir, wenn wir Wirklichkeit nur richtig verstehen, in ein größeres Format schlüpfen können. Die Virtualität der medialen Wirklichkeit kann uns eine Vorstellung davon vermitteln, wie die Quantenphysik Wirklichkeit beschreibt.

    Wirklichkeit erweist sich aufgrund ihrer medialen Vernetzung als eine komplex geschichtete, offene und sich ständig verändernde, äußerst bewegliche Strukturenvielfalt. Dies legt mit Notwendigkeit einen Gesellschaftsbegriff nahe, der dem Rechnung trägt, und zwar auf viel grundsätzlichere Art und Weise, als dies die Prozesse der Globalisierung erfordern.

    Die Quantenphysik stellt die Begriffe der Wirklichkeit und der Materie ganz neu zur Diskussion. In Wahrheit ist Materie, so kann sie uns zeigen, ein sehr unklarer, unverstandener Begriff und ist deswegen auch für ein naturwissenschaftliches Vorgehen als Ausgangspunkt ungeeignet, wenn dieses vorgibt, Unbekanntes auf Bekanntes zurückzuführen. Schon die Spaltung in "Geist" und "Materie" ist äußerst problematisch und hat schwerwiegende Fehldeutungen zu Folge wie die Vorstellung von der Welt als Ansammlung von Fakten. Dagegen beschreibt die Quantentheorie Beziehungen, Möglichkeiten, Schichten.

    Die Quantentheorie, als "Physik der Beziehungen", lenkt den Blick weg von den isolierten Teilsystemen auf die Beziehungsformen. Was sie als "Unbestimmtheit", als Möglichkeit und Optionen beschreibt, hat indes nichts mit der berühmten "Unschärfe" zu tun; Quantenphysik ist gerade eine Theorie für das Genaue.

    "Die Quantentheorie erfasst", so beschreibt sie einer ihrer prominentesten Vertreter, Thomas Görnitz, "[...] die Fülle der Möglichkeiten, die ein System zu einem gegebenen Zeitpunkt besitzt. Die klassische Physik hingegen stellt die Welt als Ansammlung von Fakten dar."

    So wie die Quantenphysik die Atomphysik (auf der sie gründet) außer Kraft setzt, so unterminiert der von Peter Sloterdijk geprägte Begriff der "Schaumzellengesellschaft" die Vorstellung einer auf zusammengesetzten Bausteinen basierenden Vorstellung von Wirklichkeit und Gesellschaft.

    Das Fließende, in sich nach allen Seiten hin Bewegliche, hat in Sloterdijks Sphärologie den absoluten Vorrang gegenüber der Vorstellung, dass der Mensch und die Gesellschaft, in der er sich vorfindet und die er gestaltet, etwas Starres und Festes sind, etwas, das man auf herkömmliche Weise etwa soziologisch beschreiben kann. Gestalthaftes und dessen unendliche Verwandlung erregen seine permanente Aufmerksamkeit. Der gesellschaftliche Raum erscheint, vor allem auch durch die Einbeziehung des Luft- und Atemraums, vielmehr als ein Gebilde, das wir in neuen, dem Beweglichen angemessenen Begriffen beschreiben müssen. So bieten sich Wörter wie Blasen, Schäume und Gewebe, Plasma und Sphäre an.

    Wenn Sloterdijk von schaumartigen Agglomerationen, dünnwandigen Schichten und Geweben spricht, kann er auch auf Max Weber zurückgreifen, der vom Menschen als dem Wesen, das in selbstgesponnenen Bedeutungsgeweben lebt, sprach. Dabei rückt er zur Darstellung der sozialen, ineinander geschobenen Lebensräume sehr viel stärker die frühen, primären Stadien des In-der-Welt-Seins in den Vordergrund. Die Schaum-Metapher soll ein Bild von den dynamischen Lebensqualitäten, den "kreativ-selbstsichernden Lebensraumschöpfungen" geben. Die "Kunst der Gesellschaft" sei im ganzen ein Reich des Schaums.

    Eine verstehende Annäherung an das, was Sloterdijk die "Verschäumung des Realen" und die "Immunisierung gegen das Schwere" nennt, gelingt am besten über die Vorstellung, dass die Welt aus vielen Welten besteht, aus Abermillionen von Blasen, die sich überall überschneiden und kreuzen. Der Übergang von dieser Vielwelten-Ontologie und der Biologie zur Sphärologie wird dadurch vollzogen, dass die Vielheiten der Lebensformen möglichst komplex bestimmt werden sollen. Dabei liquidiert er eine konventionelle Hierarchie: Konglomerate von Geweben sind demgemäß nicht weniger als die sogenannte "Ganzheit" oder "Einheit".

    Das "heitere Denkbild Schaum", das Sloterdijk in seiner Sphärologie durchspielt, ist heiter, weil es die traditionelle Anthropologie ihrer monotonen Schwere und ihres Pessimismus entledigen will. Das Substanzdenken der im Materialismus verhafteten Philosophen weicht er auf, erweitert es von der Erdverbundenheit hin zum Raum über uns - dort, woher wir die Luft zum Atmen nehmen und wo sie uns, seit dem Gaskrieg von 1915 bis zum Atomterrorismus, genommen werden kann.

    Der Mensch erweist sich nicht mehr als Herr und Besitzer der Natur, sondern als "Atmosphärendesigner" und "Klimawärter". Danach wäre das Thema der Kulturwissenschaften im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert die Aufforderung, die Bedingungen für die Atemluft explizit zu machen. Ist Wissenschaft demnach "Pneumatologie"? Und ist die Frage nach dem "Atem-Zusammenhang" und dem "Atemhaushalt" die große Frage zukünftiger Generationen?

    Beide Denkmodelle, Quantenphysik und Sphärologie, relativieren die als fundamental angesehenen Vorstellungen der Polarität von Materie und Bewegung, von Kraft und Stoff, von Subjekt, Objekt und Eigenschaft, von Innen und Außen, Oben und Unten.

    Starre Systeme (wie sie von vielen Naturwissenschaftlern, Gesellschafts- und Kulturwissenschaftlern gelehrt werden) funktionieren noch nicht einmal in der Mathematik und Logik. Der große Fortschritt der Quantenphysik und der Sphärentheorie gegenüber ihren Vorläufern besteht darin, dass sie an die Stelle statischer Vorstellungen und Polaritäten von Grund auf bewegliche und dynamische Systeme und Beziehungen setzen.

    Quantenphysik, Kosmologie, Mathematik, Psychoanalyse und sphärologische Raumphilosophie stehen in einem noch nicht beschriebenen engen Zusammenhang und beinhalten vielleicht eines der kreativsten Potentiale einer neuen, in die Zukunft weisenden Geistes-Natur-Wissenschaft. Dabei würden für die Forschung maßgebliche Fragen in hellerem Licht betrachtet werden können, zum Beispiel die Frage nach einer anderen Bestimmung von Genauigkeit. Diese von einem bestimmten konventionellen Typus von Wissenschaft reklamierten, ja vereinnahmten Ideale gilt es, aus den angestammten Vorstellungen herauszulösen.

    Was bedeutet Genauigkeit beim Erfassen von in sich beweglichen Geweben und Beziehungen? Diese Genauigkeit steht keineswegs auf der Gegenseite von exakter Berechnung - dies macht bereits ein Blick auf die moderne Architektur deutlich: etwa auf die Blasen-Architektur von Otto Frey oder die von Werner Sobek geleitete Stuttgarter Schule des Leichtbaus sowie diverse Forschungen mit Schaumkörpern zur Isolierung und Klimatisierung.

    In der Quantentheorie, der Sphärentheorie und der Blasen-Architektur wird die Übermacht des materialistischen Denkens gebrochen: Für die Architektur bedeutet dies, dass sie allen unnötigen Ballast abwirft; für die Sphärentheorie, dass sie gesellschaftliche Zustände auf ganz neue, dynamische Weise beschreiben kann und Impulse für die Architektur und andere Disziplinen liefert; für die Physik, dass sie nicht mehr vom Begriff der Materie ausgeht, da er sich als zu unklar und undefiniert erwiesen hat.

    Auch ist dieses Modell des Zerlegens in immer kleinere Teilchen wenig nutzbringend, da auf diese Weise die Vorgänge komplizierter und nicht, wie erhofft, einfacher werden. Streben wir wirklich eine Reduktion auf Bekanntes an, dann sollten wir, so die Schlussfolgerung mancher Quantenphysiker, auf die Inhalte des Bewusstseins und der Psyche zurückgehen.

    Alle diese Überlegungen legen den Wissenschaftlern nahe, die Vorstellung von streng trennbaren einzelnen Objekten und auch von scheinbar gesicherten Begriffen wie "Materie" aufzugeben. Erstaunlicherweise treffen sich in dem multiperspektivischen Gedankenfeld die avanciertesten Vorstellungen von Materie als einer "geformten" oder "bedeutungsfreien" Quanteninformation mit spirituellen Vorstellungen, wie sie etwa im "Tibetischen Totenbuch" dargestellt sind. Dort heißt es: "Die Materie kommt aus dem Geist oder dem Bewusstsein und nicht das Bewusstsein aus der Materie."

    Den Menschen werden schon bald Modelle nur noch wenig bedeuten, die keine ausreichenden Begriffe und Vorstellungen zur Verfügung haben, um die augenblicklichen Wandlungen in der Lebens- und Gesellschaftsgestaltung zu erfassen, zu deuten und in die Zukunft hin zu verlängern.