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Vom ethnischen Gleichgewicht

Die eskalierenden Krawalle in den Pariser Vororten und anderen französischen Metropolen werfen erneut die Frage auf: Wie kann ein Staat Einwanderer wirklich integrieren? Muss er alle gleich behandeln, oder soll er religiöse und kulturelle Gruppen dazu ermutigen, ihre Identität gerade nicht aufzugeben, um sie vom aggressiven Druck der Assimilation zu befreien? Eine Antwort darauf will Norbert-Mappes Niediek in seinem neuen Buch "Die Ethno-Falle" geben. Und zwar am Beispiel des untergegangenen Jugoslawiens.

Von Pascal Fischer |
    Die These mutet gewagt an: Die Europäische Union soll vom untergegangenen Jugoslawien lernen können - gerade, was die Konstruktion eines multiethnischen Gemeinwesens angeht. Um es vorwegzunehmen: Mappes-Niediek sieht kein Zeitalter europäischer Kriege aufziehen – aber: Der Staatengemeinschaft wohnen per se Konstruktionsprobleme inne, die in Jugoslawien zum Staatszerfall führten. Da mag Westeuropa seinen Reichtum und seine demokratische Tradition noch so sehr als Bollwerk gegen ethnische und nationale Konflikte begreifen - eine Gemeinsamkeit verbindet den untergegangenen Bundesstaat und den Staatenbund doch:
    "In beiden Fällen haben wir eine Volkswirtschaft. Man sagt ja immer, eine Volkswirtschaft zeichnet sich dadurch aus, dass die Gewinner die Verlierer kompensieren – das macht auch eine Solidargemeinschaft. Aber wo verschiedene Nationalitäten sich drängeln in einer Volkswirtschaft, da ist es mit der Solidarität nicht weit her. "

    Viele Nationalitäten streiten sich um Ressourcen, zu verteilende Gelder und um Macht. In Jugoslawien wollte man dieses Konfliktpotential mit einem besonderen Dogma bannen: Dem ethnischen Gleichgewicht. Keine Volksgruppe sollte bevorzugt werden, nicht nur in den Spitzenämtern der Partei, sondern auch bei Posten in der kommunalen Verwaltung oder bei Jobs in Betrieben. Kroaten, Serben oder bosnische Muslime sollten jeweils denjenigen Anteil stellen, der dem Bevölkerungsanteil in der Region entsprach. Gerade hier lernt der Leser Mappes-Niedieks profunde Landeskenntnisse schätzen, denn der Autor schildert kenntnisreich, wie sehr das ethnische Gleichgewicht den Alltag der Jugoslawen prägte: Er erzählt von der Stadt Prnjavor, in der alle Minderheiten reihum den Stadtdirektor stellten. Er schreibt von einem kommunistischen Land, in dem nie ein Serbe wegen Liberalismus verurteilt wurde, ohne dass nicht bald einen Kroaten, Slowenen, Albaner oder Muslim dasselbe Schicksal ereilte. Sogar die mehr als 55.000 Opfer der Säuberungswelle ab 1948 waren streng quotiert – nach dem Anteil der Gruppen in der Gesamtbevölkerung. Das ethnische Gleichgewicht wurde zum Maß aller Dinge. Und das, sagt Mappes-Niediek, prägt selbst die Aufarbeitung der jüngsten Kriege in Ex-Jugoslawien vor dem Tribunal in Den Haag:
    "Dass das Den Haager Kriegsverbrechertribunal nicht die erwünschte reinigende, läuternde Wirkung hat in Ex-Jugoslawien, liegt daran, dass die Leute wie selbstverständlich davon ausgehen, dass das Tribunal seine Anklagen nach ethnischem Schlüssel verteilt. Also wenn ein Serbe dran ist, dann ist als nächstes ein Kroate dran und dann ein Albaner. Und wenn tatsächlich ein Albaner verhaftet wird, dann sagen sich alle anderen Albaner: "Gut, ob er nun schuld ist oder nicht, er war halt an der Reihe.” Der Gedanke allein, dass jemand auch mal zu Recht für eine Tat verhaftet wird, der Gedanke kommt gar nicht auf, und das ist fatal. "

    Das Dogma des ethnischen Gleichgewichts ist laut Mappes-Niediek unvereinbar mit Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Denn es verhindert im Streitfall eine Meinungsbildung, die auf Argumenten oder einer Abstimmung basiert. Die Mehrheitsverhältnisse stehen immer schon fest, und zwar durch die Zahlenverhältnisse zwischen den verschiedenen Nationalitäten.

    Schlimmer noch: Das ethnische Gleichgewicht konserviert die nationalen Identitäten. Warum hätte zum Beispiel ein Serbe seine Nationalität aufgeben sollen, wenn ihm doch in Titos Jugoslawien nach dem Verteilungsschlüssel irgendwo ein Job garantiert war? Andersherum war es formell ausgeschlossen - obwohl ja immerhin denkbar -, dass jemand gleichzeitig Kroate und Muslim wäre - er hätte gleich zwei Trümpfe im Verteilungskampf gehabt.

    Diese starren Nationalitäten führten im Jugoslawien nach Tito und vor allem nach Ende des kalten Krieges unweigerlich in die Katastrophe. Die Politiker gerierten sich in der aufkommenden Demokratie radikaler, weil sie ihre Wähler am besten über die Nationalität gewinnen konnten. Das Mehrheitsprinzip machte gerade den Minderheiten Angst, weil sie zu den ewigen Verlierern im Kampf um die Ressourcen zu werden drohten. Die Konsequenz: Alle Volksgruppen peilten ethnisch homogene Nationalstaaten an - bei der gemischten Besiedlung des gesamten Staatsgebietes waren Pogrome und Vertreibungen fast unvermeidbar. Mappes-Niediek zufolge kann die EU daraus lernen:

    "Wir erleben es bei jedem EU-Gipfel, dass Einstimmigkeit ein Problem ist, weil das jeder Partei, die mit am Tisch sitzt, eine Blockademöglichkeit gibt. Wir können immer nur Kompromisse finden, wir müssen auch originelle Kompromisse finden. Originelle heißt: Wir müssen sachfremde Kompromisse finden. Es gibt immer die Blockademöglichkeit durch den Einzelnen, und wenn wir die überwinden wollen, dann müssen wir dem Anderen etwas geben, vielleicht auf einem anderen Gebiet. Das ist ein politischer Schacher, der den Inhalten in aller Regel nicht gut tut. "

    Dass eine Gemeinschaft schon allein aus einem Kompromiss ihre Legitimation beziehen kann, ist für den Autor ein Irrtum. Denn: Hier besteht auch die Gefahr, dass einzelne Gruppen sich aus der Gemeinschaft zurückziehen, weil sie nicht begreifen, dass das Gemeinschaftsinteresse etwas anderes ist als ein bloßer aushandelbarer Interessenausgleich. Den Kitt kann nur ein ausgeprägtes Nationalgefühl bilden, und gerade daran hat es in Jugoslawien gefehlt. Zum einen wegen des Geschachers um das ethnische Gleichgewicht, zum anderen, weil die Völker zu unterschiedlich sind in ihrer Nationalitäten-Geschichte: Die Kroaten zum Beispiel waren immer nur eine Fraktion in größeren Staatsgebilden gewesen. Albaner und Slowenen wiederum waren aus einer bäuerlich indifferenten Bevölkerung hervorgegangen. Die Erfahrung eines eigenen Staates brachten nur die Serben mit. Und das erklärt für Mappes-Niediek ihren vehementen Nationalismus in den 90er Jahren: Sie wollten als Nationalität nicht mehr weiter zurückstecken, wie sie es immer in Jugoslawien getan hatten. Gerade indem die Serben auf ihre Dominanz in Jugoslawien verzichteten, festigten sie ihre Identität als Serben. Am besten entgeht eine Staatengemeinschaft diesen psychologischen Fallen, indem sie eine übergeordnete Identität schafft: Im Falle der EU sollten nicht die Wahlen auf Staatsebene, sondern die Wahlen auf europäischer Ebene die wichtigsten sein:

    "Die Verfassung ging da den falschen Weg: Sie hat ja Mehrheitsentscheidungen im Kreis der Nationen möglich machen wollen. Was wir brauchen, ist aber nicht ein Parlament, das alle Völker getrennt wählen, sondern dass es ein einiges Wahlvolk gibt, dass jemand einen Belgier oder einen Franzosen, dass ein Deutscher einen Italiener wählen kann. Und das würden sicher viele tun! Ich glaube, wir müssen uns an ein neues Europagefühl gewöhnen. "

    Das müsste, meint der Autor, auch in der Öffentlichkeit vorangetrieben werden, zum Beispiel in Form europäischer Medien oder durch Erziehung zur Mehrsprachigkeit.
    Nötig ist sozusagen eine Entnationalisierung des einzelnen Bürgers, schon allein wegen des drängenden Problems der Diskriminierung: Ob von den Serben kolonialisierte Kosovo-Albaner oder unterdrückte bosnische Muslime - Mappes-Niediek zeigt immer wieder deutlich, dass Diskriminierung "ethnienkonservierend" ist und damit der Integration entgegen wirkt.

    Wie also kann ein moderner Staat derartige Gruppierungen integrieren? Mappes-Niediek diskutiert diese Frage mit Verweisen auf so unterschiedliche Staaten wie Jugoslawien, die USA, Kanada und andere. Das Dilemma ist jedoch immer das gleiche: Wer in seinen Bürgern individualistisch-liberal nur Einzelpersonen sieht, wird blind für die Benachteiligung von Gruppen und hebt sie nicht auf. Erkennt der Staat Minderheiten jedoch an, befördert er bald nur noch den Kampf der Gruppen um Sonderrechte und damit die Autonomie, nicht die Integration dieser Minderheiten. So muss sich zum Beispiel Deutschland ehrlich fragen, wie es mit den Muslimen umgehen möchte, meint der Autor:

    "Wenn wir die Kirchen fördern, werden wir auf Dauer nicht umhin können, eine muslimische Gemeinschaft, die ähnlich zahlreich ist, ebenso zu fördern. Vielleicht wollen wir das gar nicht. Vielleicht zwingen wir die Angehörigen ja dazu, sich als Muslime zu definieren. Wir bekommen also erstaunlicherweise das, was wir nicht als Mehrheit wollen. Ich glaube aber nicht, dass man sagen kann: Wir müssen jetzt zum radikalen Laizismus konvertieren. Aber da liegt ein Problem, eine Spannung. Auf Dauer muss es dahin kommen, dass der Staat sich gegenüber Religionsgemeinschaften wesentlich neutraler verhält, als er es bis heute tut. "

    Nur bei einer extremen Benachteiligung oder einer unumstrittenen Gruppenidentität seien Minderheitenrechte sinnvoll. Am konfliktlosesten bleiben Verhältnisse, in denen sich niemand zu ethnischen oder religiösen Interessengemeinschaften zusammenschließen muss, um Grundrechte überhaupt zu erkämpfen. Deutschland und die EU können hier von den angelsächsischen Gesellschaften lernen, in denen Diskriminierung geradezu geächtet wird. Und die EU kann aus der jugoslawischen Tragödie lernen. Mappes-Niediek widerlegt die gängigen Vorurteile, im Krieg auf dem Balkan sei es um kulturelle Unterschiede an sich, um Kapitalismus oder Kommunismus, um großserbische Träume oder verschüttete Aggressionen gegangen. Nein – es ging um Verteilungs- und Entscheidungsprobleme. Dem Autor gelingt es, seinen Thesen in kurzen Kapiteln, beispielreich und konkret beschrieben, Plausibilität zu verleihen. Es ist ein wertvoller Beitrag zur Frage, wie wir die EU organisieren sollten.

    Pascal Fischer über Norbert Mappes-Niediek: Die Ethno-Falle. Der Balkan-Konflikt und was Europa daraus lernen kann. Erschienen im Christoph Links Verlag Berlin, 223 Seiten für 14 Euro und 90 Cent.