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Vom Feld in die Favela

Slum, Favela, Banlieu - für heruntergekommene Viertel in den Großstädten dieser Welt gibt es verschiedene Namen. Der kanadische Journalist Doug Saunders fasst sie mit einem Sammelbegriff zusammen: "Arrival City". Saunders wollte vor allem eines: Den Bewohner jener Gegenden ein Gesicht geben.

Von Sandra Pfister | 12.09.2011
    "Jedes Jahr im Juni machen sich in Mumbai die mageren jungen Männer auf den Weg. Das Jahr über schlafen sie auf Betonfußböden und auf dem Bürgersteig. Diese Menschen leben zu Hunderttausenden an den Rändern der Ankunftsstadt (Kolhewadi, Ratnagiri, Indien). Sie sind noch keine vollwertigen Stadtmenschen und sehen sich selbst noch als Bewohner ihres Dorfes, und jetzt, zu Beginn der größten Reisernte des Jahres, werden sie wieder zu Dörflern."

    Für eine sehr kurze Zeit. Die Menschheit ist in Bewegung, und sie bewegt sich vor allem in die andere Richtung: vom Land in die Städte, von der Armut zu erhofftem Reichtum. Ein Drittel der Dorfbewohner ist dorthin unterwegs.

    "Das Leben auf dem Dorf hat nichts Romantisches an sich, vielmehr ist das Landleben gegenwärtig noch die häufigste Todesursache, die am weitesten verbreitete Ursache für Unterernährung, Kindersterblichkeit und eine verkürzte Lebenserwartung."

    Für Doug Saunders ist die dadurch ausgelöste, absehbare Völkerwanderung der wichtigste kulturelle und soziale Faktor seit der Aufklärung, und deshalb ist er drei Jahre lang zu den Schlüsselorten gereist, so nennt er sie, in denen sich entscheiden wird, ob die vielleicht letzte große Migration und die anschließende Integration der Migranten gelingen oder scheitern wird.

    Landflucht wird gewöhnlich in Form von Untergangsszenarien beschrieben, und städtische Randbezirke als randständig im wahrsten Sinne des Wortes, assoziiert mit schwelender Gewalt. Stadtplaner betrachten die Banlieues, Shantytowns, Favelas oder Slums gerne als Krebsgeschwulste in den äußeren Gliedmaßen einer ansonsten gesunden Stadt.

    Dass Saunders von dieser negativen Konnotation wegkommen möchte, macht er schon im Titel des Buches klar. Die oft zunächst improvisierten und illegalen Siedlungen nennt er Arrival Citys oder "Ankunftsstädte". Das Wort signalisiert einen Durchgang: Sie sind Ausgangspunkt für ein besseres Leben, Zusammenballungen von Energie, weil ihre Bewohner mit aller Macht um ein besseres Leben kämpfen. Ob sie ihr Ziel erreichen, hängt vor allem auch von den etablierten Stadtbewohnern ab. Das ist die eigentliche Botschaft des Buches: Ankunftsstädte werden zum Lackmustest für den Integrationswillen der Mehrheit – und im Idealfall zu Keimzellen einer neuen Mittelschicht.

    Doch wenn es schief geht? Vom Feld in die Favela – wo liegt da der Fortschritt? Zunächst verbessert die Verstädterung der Dorfbewohner, so die Beobachtung des Autors, nicht ihr Leben, sondern nur das ihrer Angehörigen im Dorf: durch regelmäßige Rücküberweisungen.

    Doch auch den Städten nutzen die Zugezogenen, denn sie stellen dringend gebrauchte Arbeitskräfte. Amerika könne ohne indische Akademiker und philippinische Kindermädchen einpacken, Europa ohne polnische Metzger und ukrainische Altenpflegerinnen.

    "Wer nur städtische, an der Universität ausgebildete Eliten ins Land lässt, um diese Lücken zu füllen, verschwendet menschliches Potenzial und betreibt eine falsche Außenpolitik. Die gesamte Entwicklungspolitik wird konterkariert, wenn die Absolventen dieser Bildungsprogramme später dann in den Großstädten westlicher Länder als Hotelempfangschefs und Dachdecker arbeiten. 41 Prozent der "dauerhaft armen" Einwanderer in Kanada haben einen Universitätsabschluss."

    Abseits dieser Schelte der klassischen Einwanderungspolitik verlegt sich Saunders darauf, das Positive des wilden Zuzugs herauszustreichen. Die Einwanderer, dicht gedrängt in ihren provisorischen Randbezirken der Stadt, seien auch ökologische Vorbilder. Klingt das zynisch? Wer eng beisammen wohne und nicht mehr auf Autos angewiesen sei, senke seinen Spritverbrauch und seinen CO2-Ausstoß. Außerdem verteilt Saunders einen klaren Seitenhieb gegen die Malthus-Jünger, denen zufolge die Banlieues oder Dritte-Welt-Slums Orte des wilden Bevölkerungswachstums sind. Das Gegenteil ist nach Saunders der Fall: Hier wachse bei ehemaligen Landbewohnern ein Gefühl dafür, dass es besser sei, weniger Kinder zu bekommen, diesen aber eine bessere Ausbildung zukommen zu lassen.

    "Die Ankunftsstädte sind nicht die Ursache des Bevölkerungswachstums, in Wirklichkeit setzen sie dem ein Ende. Die Weltbevölkerung würde ohne die massive Abwanderung vom Land in die Stadt noch sehr viel schneller wachsen."

    Der Autor insistiert darauf, dass die Ankunftsstädte – anders als bislang - städteplanerisch ernst genommen werden müssten, weil sie Infrastruktur brauchten und ihre Bewohner volle staatsbürgerliche Rechte.

    "Anstatt Mittel wie Hausbesitz, Bildung, Sicherheit, Möglichkeiten zur Unternehmensgründung und Anbindung an die Gesamtwirtschaft an die Hand zu bekommen, werden sie als völlig verarmte Orte behandelt, die Nicht-Lösungen wie Sozialarbeiter, Sozialwohnungsblocks und von Stadtplanern eingeleitete Sanierungen benötigen."

    Saunders hat drei Jahre lang an den Rändern von Mumbai, in Chongqing in China und den Favelas von Rio de Janeiro recherchiert. Er porträtiert mehr als 20 Orte, die von der Migrantenschwemme die größte Welle abbekommen; sie liegen auch in den ausfransenden Rändern von Los Angeles oder Paris. Die meisterhaften Schilderungen der Lebensbedingungen in den Armenvierteln und die Unmittelbarkeit seiner Einzelporträts von Slumbewohnern machen das Buch besonders lesenswert.

    Saunders' Blick hebt sich erfrischend von den gängigen Untergangsszenarien ab – aber der Autor vergisst auch nicht, mit welchen Entbehrungen der Weg der Neu-Städter verbunden ist.

    "Das Leben ist hier, wie überall, eine Wette auf die Zukunft der Kinder. Ankunftsstädte sind Orte des generationenbedingten Bedürfnisaufschubs, in denen ganze Lebensläufe oft unter schrecklichen Bedingungen geopfert werden, um einem Kind bessere Chancen zu eröffnen."

    Die Stärke des Buches – die Wucht der Reportagen und ihr anekdotischer, unmittelbarer Zugang – ist zugleich aber auch eine Schwäche. Manchmal stehen Breite und Tiefe der Recherche in einem ungesunden Verhältnis. Will heißen: Das Buch bleibt oft flach in dem Sinne, dass es zwar die wichtigste Literatur verarbeitet und mit anschaulichen Reportagen verbindet, aber zu keiner Conclusio kommt außer der, die schon als These voranging: dass wir Ankunftsstädte nicht nur als verlorene Slums betrachten sollten.

    Das allerdings bleibt verkraftbar, denn dafür hat das Buch eine handfeste politische Botschaft parat mit genauer Gebrauchsanweisung. Jetzt entscheidet sich, an unserer aktuellen Politik, ob die Ankunftsstädte eine Wiege des Wohlstandes werden oder des sozialen Aufstandes.

    Doug Saunders: "Arrival City", Carl Blessing Verlag, 573 Seiten, 22,95 Euro. ISBN: 978-3-896-67392-3