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Vom "idealen" Mann

Die Körperbilder der SS waren Vorbilder, Idealbilder und Machtbilder zugleich, eine Visualisierungsfolie für die Utopie des Ariers. Die tatsächlichen SS-Männer hingegen kamen dieser Utopie nur in Ausnahmefällen nahe. Vielfach waren sie weder groß noch blond noch blauäugig. Paula Diehl untersucht in ihrem Buch, mit welchen Bild- und Inszenierungsstrategien die Nazis diese Beschränkungen der Realität zu kompensieren suchten.

Hermann Theißen im Gespräch mit Paula Diehl | 23.01.2006
    Paula Diehl: Der Ausgangspunkt für diese Überlegungen war ein Phänomen, das ich in meiner Kindheit erlebt habe. Wir mussten als Kinder in Brasilien Plakate bilden mit den Helden, und da konnte man Aufkleber kaufen. Und eines dieser Bilder war von einem Helden, einem der wenigen revolutionären Helden in Brasilien. Und der sah so aus wie Jesus, und ich habe es erst später im Geschichtsunterricht mitgekriegt, dass er eigentlich ein Mulatte war. Aber davon gab es keine Bilder. Und darüber gibt es einige Studien jetzt in Brasilien, wie so etwas funktioniert. Jedenfalls eine ganze Nation sieht diesen Helden als Jesus. Ich weiß, dass er nicht so aussieht, aber wenn ich daran denke, denke ich an Jesus. Und das ist die Art, wie Bilder dann aneinander kleben. Das heißt nicht, dass man es nicht weiß, aber das bringt teilweise dann nicht so viel.

    Paula Diehl sagt das. Die junge Politologin untersucht in ihrer "Macht – Mythos – Utopie" überschriebenen Studie die "Körperbilder der SS-Männer". Die Inszenierung von Heinrich Himmlers Eliteeinheit, so die Autorin, lasse sich als wesentlicher Bestandteil jener politisch propagandistischen Strategie deuten, mit deren Hilfe die Nationalsozialisten ihren totalen Herrschaftsanspruch durchsetzen und den Mythos "Volksgemeinschaft" internalisieren wollten. Auch hierbei spielt der neue Mensch, diesmal rassistisch als Arier konzipiert, eine zentrale Rolle. Die Körperbilder der SS seien Vorbilder, Idealbilder und Machtbilder zugleich gewesen, eine Visualisierungsfolie für die Utopie des Ariers. Die tatsächlichen SS-Männer hingegen kamen dieser schrecklichen Utopie nur in Ausnahmefällen nahe. Vielfach waren sie weder groß noch blond noch blauäugig. Paula Diehl untersucht in ihrem Buch auch, mit welchen Bild- und Inszenierungsstrategien die Nazis diese Beschränkungen der Realität zu kompensieren suchten. Zu ihren Quellen gehört unter anderem "Triumph des Willens", Leni Riefenstahls Propagandafilm über den Nürnberger Parteitag der NSDAP vom September 1934.

    Hermann Theißen: Am Anfang des Films sieht man das Flugzeug von Hitler. Man fliegt sozusagen mit durch dunkle Wolken, die irgendwann aufgerissen werden. Man hat den Blick auf Nürnberg, und die Stadt wird monumental inszeniert. Unten paradieren schon die Truppen oder finden sich ein. Hitler landet, fährt vorbei an den jubelnden Massen, nimmt ein Kind in den Arm, und erst bevor er dann ins Hotel geht, kommen erstmals die SS-Leute ins Bild.

    Wenn Sie diese Bilder sehen, von diesen SS Leuten, was sehen Sie dann in dieser Inszenierung?

    Paula Diehl: Ja, man sieht bei der Passage auch gleich eine Einführung, auch eine Meta-Einführung zu der Trennung zwischen Zuschauern und Akteuren. Diese Trennung sind gerade die SS-Männer, die diese Trennung vollziehen. Es gab bei der SS schon die Aufgabenverteilung, dass die Leibstandarte Adolf Hitler, das war die Repräsentationstruppe der SS, das war die einzige Truppe, in der SS die rassischen Kriterien tatsächlich nach Wunsch Himmlers durchziehen konnten bei der Musterung.

    Hermann Theißen: Aber diese Trennung zwischen Bühne, Straße in dem Fall, und Zuschauer, die hält die Zuschauer weg, aber die symbolisiert noch keine Nähe zu Hitler.

    Paula Diehl: Nee, noch nicht. Die Trennung ist ganz eindeutig, und die muss auch so sein, weil Hitler eigentlich nicht erreichbar ist, und was dazwischen ist, ist die Figur des SS-Mannes, was eine Art Vermittlung darstellt.

    Hermann Theißen: Und dann geht der Film ja, nachdem man die Totale gesehen hat, auf eine Großaufnahme von einem idealtypischen SS-Mann. Was lesen Sie in seinem Gesicht?

    Paula Diehl: Genau. Also erst Mal das Ganzkörperbild der SS-Männer, die wir dann sehen. Wir sehen, wie groß sie sind. Meistens waren in dieser Repräsentationstruppe größere Männer als 1,80 Meter, und dann sieht man eine Aufnahme von einem Gesicht eines SS-Mannes mit dem Stahlhelm. Diese Aufnahme ist von unten, schräg von der Seite, und er dreht gerade sein Gesicht zu einer Seite, und die Kamera kommt mit. Das heißt, man sieht als Zuschauer dieses Gesicht von unten aufgenommen, sehr kantig, weil durch den Helm sind die Proportionen anders dargestellt. Man sieht die Augen nicht, und das ist einer der ästhetischen Effekte des Helms, und man sieht vor allem durch die Beleuchtung eine Art Abstraktion des Gesichts, und das waren typische Bilder der SS-Männer, die verwendet worden sind, um das Ideal der SS darzustellen. Also man erkennt keine individuellen Züge in diesen Gesichtern.

    Ich glaube, dass diese ganze Abstraktionskraft, die aus diesen Bildern rauskommt, gerade die zentrale Funktion dieser Bilder ist, und zwar den Arier darzustellen. Und in dem Moment passiert einer der wichtigsten Mechanismen der NS-Propaganda, nämlich die Projektion einer Abstraktion. Die Abstraktion des Ariermythos auf eine andere Abstraktion, die Abstraktion des SS-Mannes. Das heißt, man hat erstmal nicht mit individuellen SS-Männern zu tun, sondern mit einer Abstraktion der SS-Männer zu tun, und gleichzeitig wird das eingebettet in einen Diskurs, wo das überhöht wird, und dadurch gewinnt dieser Charakter des Ariers, der die ganze Zeit in dem Diskurs über die rassische Auslese innerhalb der SS und außerhalb der SS in der NS-Propaganda stattfindet, eine ganz andere Qualität. Insofern haben wir es mit doppelten Projektionsmechanismen und doppelter Abstraktion zu tun.

    Hermann Theißen: Aber das bedeutet auch, dass die Inszenierung der SS-Körper auch eine Integrationsfunktion hatte.

    Paula Diehl: In dem Sinne, dass es dann das Idealbild für alle verkörpert, ja, aber nicht in dem Sinne, dass es die individuellen Bedürfnisse verkörpert, das nicht. Also insofern ist die Integration eher wie ein Mythos.

    Hermann Theißen: Aber der auf der Bildebene Entsprechungen hat. Also wenn ich Familienalben durchblättere aus der Zeit, dann sehe ich häufig Fotos von Menschen in Uniform, die versuchen, das zu kopieren.

    Paula Diehl: Ja, ja, also wenn man dann mit Idealkörpern zu tun hat, dann ist diese Vorbildfunktion da auch gleichzeitig eines der größten Probleme, nicht nur für die allgemeine Bevölkerung, auch für die SS-Männer selbst, diesem Ideal zu entsprechen. Das ist auch einer der größten Widersprüche, und deshalb brauchen wir so viele Bilder.

    Hermann Theißen: Das schreiben Sie ja auch, dass die SS und ihre Inszenierung quasi eine Folie ist für das, was utopisch gedacht ist mit dem Neuen Menschen, mit dem Arier. Kann man das konkretisieren? Was ist damit gedacht?

    Paula Diehl: Damit gedacht ist ein Widerspruch zwischen Ziel als erreichbarem Ziel und einem Mythos, den man nicht erreichen kann. Als Ziel wurde ein Zuchtprojekt gedacht, ganz rational überlegt. Durch Zucht, wie Himmler selbst ausformuliert und mehrmals formuliert hat. Man sieht das in verschiedenen Bereichen der SS. Es fängt mit der Musterung an, dass man versucht, bestimmte Kriterien darzulegen, wie man auszusehen hatte, wie die Vorfahren sein sollten. Keine so genannte rassische Vermischung, aber es gab auch den Heiratsbefehl, d.h. als eine Art Musterung bei den künftigen Ehefrauen. Eine andere Überlegung von Himmler zu der positiven Eugenik, also wie man Zucht, rassische Zucht, durchführen konnte, war die Lebensborn e.V., eine dritte Überlegung von Himmler, die aber nicht zustande kam, war die Bigamie. Himmler selber hatte zwei Frauen, er hatte seine Ehefrau und eine zweite Lebensgefährtin, mit der er nicht verheiratet war. Aber diese Überlegung der Bigamie, die kam aus seinen Zeiten als aktives Mitglied der Lebensreformbewegung. Der hat sich auch einige Projekte angeguckt, nicht nur die Atamanen, wo er tätig war. Und es gab eben Versuche von Kolonien mit Polygamie und Bigamie, damit die Kinderproduktion erhöht wird. Das alles gehört dann zu einem ganz rationalen Projekt der Züchtung. Auf der anderen Seite gibt es dann eine Idealisierung von einem neuen Menschen, der eigentlich vollkommen sein soll. Da die Vollkommenheit nicht erreicht werden kann, bleibt der Mythos und diese Figur des neuen Menschen unerreichbar und in einem Ewigkeitszustand. Und das ist ja wieder ein neuer Widerspruch in der NS-Propaganda und in der SS, weil man beides bedienen muss. Wie schafft man gleichzeitig, einen Körper darzustellen und zu konstruieren, der unerreichbar bleibt, vollkommen aber noch nicht verwirklicht ist. Das Problem ist eigentlich effizient für die NS-Propaganda, weil ständig mit der Angst gearbeitet wird. Die Angst, dem Ideal nicht gerecht zu werden.

    Soweit Paula Diehl. Ihre Studie "Macht – Mythos – Utopie. Die Körperbilder der SS-Männer" ist in der von Herfried Münkler herausgegebenen Reihe "Politische Ideen" im Berliner Akademie Verlag erschienen. Der mit vielen Abbildungen ausgestattete Band hat 300 Seiten und kostet 49 Euro 80.