Archiv


Vom individuellen Schicksal bis zur Landschaftsformation

In Hamburg wurde 1980 die erste Geschichtswerkstatt Deutschlands gegründet, inzwischen sind es 19 ihrer Art. Für ihre Verdienste um die Lokalgeschichtsschreibung werden die Hamburger Geschichtswerkstätten jetzt mit dem Max-Brauer-Preis geehrt.

Von Ursula Storost |
    Der Historiker Hakim Raffat spaziert am Eppendorfer Park vorbei. Der Hamburger Stadtteil Eppendorf wurde bereits im 12. Jahrhundert namentlich erwähnt, erzählt er. Mächtig gebaut wurde allerdings erst Ende des 19. Jahrhunderts, als zehntausende Arbeitssuchende aus der Provinz nach Hamburg strömten. Die Innenstadt platzte aus allen Nähten.

    "Und außen waren Dörfer und Felder. Man hat also beschlossen außerhalb de Stadt zu bauen. Und das Ergebnis war, dass in der Zwischenzeit massenweise in diesen Teilen gebaut wurde, wo auch billige Grundstücke vorhanden waren."

    Rund um die heutige Martinistraße, entstand auf Wiesen und Äckern ein Viertel der Wohltätigkeit. Wohnstifte für arme Witwen und Waisenkinder, sagt der in Kabul geborene Historiker, der seit Studientagen in Hamburg lebt. Er zeigt auf ein rot-weißes Gründerzeithaus mit geschnitztem Giebel. Einst ein Heim für sittlich gefährdete Frauen und Mädchen.

    "Vor allem junge Mädchen haben in den Häusern als Dienstmädchen gearbeitet. Und da gab es sehr harte Bedingungen. Beispielsweise war es so, dass Dienstmädchen, die schwanger wurden, entlassen wurden. Oder sie gerieten durch andere Zusammenhänge in den Bereich der Prostitution. Und die Kirche hatte zum Ziel gesetzt, diese Menschen nicht zu verurteilen, sondern sie zu sammeln."

    "Um dieselbe Zeit entstand auch das heutige Universitätsklinikum. Ebenfalls Bestandteil des Viertels der Wohltätigkeit. Man muss natürlich immer wieder betonen, das es eine sehr löbliche Maßnahme war. Aber wirklich viel zu klein, um dies Elend der Wilhelminischen Gesellschaft in irgendeiner Weise wirklich zu beseitigen."

    Hakim Raffat ist Mitarbeiter des Eppendorfer Stadtteilarchivs, das gleich um die Ecke ein Büro hat. Das Stadtteilarchiv gehört zu den Hamburger Geschichtswerkstätten.

    "Entscheidend bei dem Konzept der Geschichtswerkstatt ist, dass das Biografische im Vordergrund steht. Das heißt, es müssen Menschen im Vordergrund stehen. Ihre Lebenserfahrungen, ihre Erfahrung auch mit der Straße usw. Das ist der Schwerpunkt."

    Das Gesicht der Gentrifizierung
    Im Eppendorfer Stadtteilarchiv geht es derzeit um die Geschichte der Erikastraße, so benannt nach dem Heidekraut, das Ende des 19. Jahrhunderts noch hier blühte. Damals entstand die Straße mit ihren viergeschossigen Bürgerhäusern, kleinen Läden und Gaststätten. Einige gibt es bis heute. Fossilien neben Nobelläden, einem Discounter und schicken Neubauten. Eigentumswohnungen mit Glasfassade und großen Terrassen. Das Gesicht der Gentrifizierung, sagt Hakim Raffat.

    "Es ist ein politischer Prozess. Und auch da ist wiederum, was in Eppendorf stattfindet, nicht typisch Eppendorf, sondern findet in ganz Hamburg statt. Das findet auch in Berlin statt und anderen großen Städten. Was aber wichtig ist, ist in diesem Zusammenhang noch mal zu betonen, dass man als Geschichtswerkstatt, als Stadtteilarchiv, in einen politischen Prozess eingreift. Das heißt, wir mischen uns ein in diese Diskussion."

    In der Zeißstraße 22, einer ehemaligen Drahtstiftefabrik, hat das Ottenser Stadtteilarchiv sein Domizil. In den ein- bis zweigeschossigen Wohnhäusern der engen Straße lebten früher Arbeiter und kleine Leute.

    "Die ganze Zeißstraße steht unter Denkmalschutz, weil wir hier zuerst mit unserem Ensemble, die beiden Vorderhäuser und der Fabrik den Denkmalschutz erwirkt haben. Die ganze Straße steht als ein Beispiel frühen industriellen Wohnungsbaus unter Denkmalschutz. Das heißt, es durfte nicht abgerissen werden, es mussten sehr rote Häuser erhalten oder wenn in der kleinen Struktur wieder aufgebaut werden. Da sind wir sehr stolz drauf."

    Brigitte Abramowski, Leiterin und Gründungsmitglied des Ottenser Stadtteilarchivs erinnert sich. Seinerzeit, als Planungen zur Neugestaltung der City West vorlagen, standen die Spekulanten schon in den Startlöchern.

    "Als dann die Entscheidung fiel für Erhalt und Sanierung und dann noch für Denkmalschutz, haben sich einige Renditeerwartungen überhaupt nicht erfüllt."

    Abgabe von persönlichen Erinnerungsstücken
    Das Stadtteilarchiv Ottensen ist die älteste Geschichtswerkstatt in Deutschland. Gegründet wurde es 1980 anlässlich einer Ausstellung im nahe gelegenen Altonaer Museum über die Geschichte des Stadtteils. Und die Anwohner waren aufgerufen, sich mit Fotos, Dokumenten und Erinnerungen daran zu beteiligen. Die Geschichtswerkstatt diente damals als Abgabestelle für die persönlichen Erinnerungsstücke, sagt Brigitte Abramowski.

    "Es ging vom Dorf bis zur Industriestadt und zum Sanierungsgebiet, diese Spanne. Und alte Industrieobjekte wurden ausgestellt und, und, und. Also die Museumsleitung raufte sich die Haare, weil in den Augen der Musealen Sperrmüll in ein Museum getragen wurde."

    Aber die Resonanz bei den Anwohnern war riesengroß.

    "Es fanden Klassentreffen in dieser Ausstellung statt. Und viel Material ist erst zusammen gekommen, als die Ausstellung schon stand. Da sagten die, das haben wir auch. Und da haben wir doch noch, und dies haben wir noch und die alten Konfirmationsbilder von Elschen haben wir doch noch."

    Brigitte Abramowski ist auch Zeitzeugin des Wandlungsprozesses im Stadtteil. Als Lehramtsstudentin zog sie in den 70er-Jahren hierher. Ein heruntergekommener Stadtteil. Damals lebten hier Ausländer, Auszubildende, Aussteiger und eben Studenten, sagt sie. Sie siedelten sich in aufgegebenen Industriebrachen an und setzten kreative Ideen um. Tanz und Kunst, Sozialarbeit und Geschichtsprojekte. Und sie kämpften für ein lebenswerteres Umfeld.

    Spekulanten nein, Verbesserungen ja
    "Letztendlich ist man dann also selber zum Gentrifier geworden als derjenige, der sich damals so engagiert hat für dieses Viertel. Wenn jetzt darüber geklagt wird, es ist zu schick, es ist zu teuer, was so auch stimmt. "

    Brigitte Abramowski ist kämpferisch. Dass die neuen Bewohner, die viel Geld für ihre Wohnungen zahlen, als Schicki-Mickis diskriminiert werden, findet sie falsch. Die Politiker müssten in die Pflicht genommen werden. Spekulanten nein, Verbesserungen ja.

    "Natürlich muss modernisiert werden. 1970, ich hatte die Toilette in der Küche, ich hatte kein Badezimmer. Ich musste ins Schwimmbad gehen zum Duschen. Das sind keine Standards, wo ich sag, das will ich wieder haben. Das geht gar nicht."

    Veränderungen müssen sein, sagt Brigitte Abramowski und zeigt den zweiten Hinterhof der ehemaligen Drahtstiftefabrik.

    "Und hier sieht man so die Dichte der Industrie innerhalb eines Wohngebietes, das es hier eigentlich war. Hier ist die Drahtstiftefabrik, dort der vierkantige Schornstein, eine Fischräucherei, Fischräucherei Bartlel. Und das Kesselhaus, das war das Kesselhaus der Dampfsägerei Haren. Und die Anwohner haben gesagt, das war toll hier zu leben. Die Drahtstiftefabrik hat den Lärm gemacht, die Fischräuchereien stanken und die Sägerei den Staub."

    In Ottensen zu leben war damals lebensgefährlich.

    "Nicht umsonst heißt Ottensen Mottenburg, denn Motten konnte man sich hier holen zur Zeit der Industriegeschichte. Das waren Löcher in der Lunge. Diese typische Proletarierkrankheit Tuberkolose."

    Im Stadtteilarchiv St. Pauli arbeitet seit mehr als 20 Jahren Gunhild Ohl-Hinz. Das Archiv hat dafür gesorgt, dass die Bewohner des ehemaligen Chinatown im Stadtteil eine Erinnerungstafel bekamen.

    "Also die meisten sind früher zur See gefahren, häufig als Wäscher oder Heizer und haben sich dann hier peu à peu niedergelassen und haben vor allem die chinesischen Seemänner, die dann nach Hamburg kamen versorgt. Mit dem, was die brauchten. Also mit Lebensmitteln, asiatischer Küche und Opium eben auch."

    Die Nazis benutzten das Chinesenviertel als Aushängeschild für deutsche Internationalität. Als China 1944 in den Krieg eintrat, wurden die Chinesen in Arbeitslager verschleppt. 17 von ihnen starben. Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus ist ein Schwerpunkte aller Stadtteilarchive. Auch in St. Pauli.

    "Es ist viel Arbeit. Und die Ergebnisse waren vergleichsweise gering. Weil wir ja eben auf St, Pauli eher die kleineren Leute haben, wie an so schön sagt. Und die hinterlassen bekanntermaßen weniger Spuren als große Kaufmannsfamilien oder eben bürgerliche Familien. "

    Immer teurer, immer schicker, immer eintöniger
    Einer, der sich vom Stadtteilarchiv Informationen holt, ist Günter Pingel. Der verrentete Sozialpädagoge führt Besucher durch den Stadtteil. Ehrenamtlich für die Kurverwaltung St. Pauli. Einem eingetragenen Verein, der mit seinen Einkünften soziale und kulturelle Projekte unterstützt. Günter Pingel, geboren in Altona, lebt seit den 70er-Jahren auf dem Kietz. Und kennt sich aus.

    "Um neunzehnhundert sind die Hamburger und Altonaer auf den Kiez geströmt auf den Spielbudenplatz. Weil da war was los. Da waren Schausteller, da waren Artisten, da waren Seiltänzer. Da war es richtig volkstümlich. Und die sind dann ausgegangen in die umliegenden Lokalitäten. Da waren Buden und Artisten, Kasperbuden zum Beispiel. Deshalb heißt der Platz ja auch Spielbudenplatz. "

    Der engagierte Hamburger beobachtet die gravierenden Veränderungen in seinem Stadtteil. Immer teurer, immer schicker, immer einförmiger, sagt er. Die Geschichtswerkstatt ist da wie ein Anker.

    "Ich finde, die bewahren die alte Seele von St. Pauli auf."