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Vom Kinderwunsch zum Kind

Die Geburtenrate in Deutschland bleibt hinter dem Kinderwunsch insbesondere deutscher Frauen zurück. Doch je nach Berechnungsmethode der Geburtenrate ist nicht zwangsläufig ein demografisches Problem zu erwarten.

Von Ingeborg Breuer | 22.03.2012
    "Das Spannungsfeld ist die Konkurrenz zwischen der ökonomischen Situation der Familien, der Paare, der Partner auf der einen Seite und dem prinzipiell vorhandenen Kinderwunsch. Und die Problematik ist, inwieweit man dem im Prinzip vorhandenen Kinderwunsch Realität verleihen kann."

    Der Geburtenrückgang gehört zu den Hauptursachen für die demografischen Umbrüche unserer Zeit. Ihn aufzuhalten ist eine der vordringlichen Aufgaben der Politik. Dies versicherte auch Familienministerin Christina Schröder, die das Eröffnungsreferat auf der Berliner Tagung hielt. Zwar, so Schröder, könne es nicht um das Wecken von Kinderwünschen gehen. Doch in Deutschland bleibe die Geburtenrate nachweislich hinter dem Kinderwunsch zurück. Und deshalb sei die Aufgabe der Politik, dafür zu sorgen, dass aus Kinderwünschen wieder Kinder werden.

    Warum Wunsch und Wirklichkeit in Deutschland so weit auseinanderklaffen, versuchten wiederum die Wissenschaftler in Berlin zu analysieren. Professor Tilman Mayer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Demografie:

    "Wir haben es auch mit gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen zu tun, mit Bindungsschwäche, auch im gesellschaftlichen Bereich. Das kann man auch bei Kirchen, Gewerkschaften etc. beobachten, und insofern ist die Festlegung auf einen Partner durchaus eine Sache, die man sich zumindest in Deutschland mehr als früher überlegt. Und das hat auch Auswirkungen auf die Realisierung des Kinderwunsches."

    Ein Grund für den Geburtenrückgang, so eine verbreitete These, sei die Individualisierung der Gesellschaft. Die Zahl der Single-Haushalte nehme zu, weniger Ehen werden geschlossen und Partnerschaften werden instabiler. Dieser These ging Dr. Andrea Lengerer vom Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften genauer nach. Sie untersuchte den Wandel von Partnerschaften in den letzten 40 Jahren in Westdeutschland:

    "Und man kann sehen, dass tatsächlich das partnerschaftliche Leben zurückgeht, aber relativ moderat. Es geht bei Männern und Frauen zurück, es geht vor allem im unteren Altersbereich zurück, das heißt Partnerschaften werden relativ spät eingegangen. Auch im mittleren Bereich geht es zurück."

    Auch wenn mehr Menschen als früher im jungen und mittleren Lebensalter allein sind, will Andrea Lengerer nicht von einer Single-Gesellschaft sprechen. Denn die große Mehrheit der Deutschen zwischen 30 und 50 lebe immer noch in Partnerschaften. Und ältere Frauen seien sogar häufiger gebunden als früher. Allerdings stellt die Soziologin Unterschiede zwischen den sozialen Schichten fest.

    "Was Bildungsunterschiede angeht, da kann man plakativ sagen, dass Männer, die keinen Berufsabschluss haben und damit schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, dass die auch vergleichsweise wenig Chancen haben auf eine Partnerschaft, weil sie als Partner nicht sehr attraktiv sind. Inzwischen zeichnet sich eine Entwicklung ab, wo man sieht, dass Frauen, die sehr niedrig qualifiziert sind, auch nicht mehr so attraktiv als Partnerin sind."

    Hoch qualifizierte Männer gelten dagegen nach wie vor als attraktiv und sind oft partnerschaftlich gebunden. Anders hingegen bei den Frauen:

    "Da ist es klassischerweise so, dass die hochgebildeten Frauen eher partnerlos leben. Die Hauptursachen sind, glaube ich, ökonomische Rahmenbedingungen, die es ermöglichen, auch alleine zu leben auf einem hohem Wohlstandsniveau. Und das heißt, sie können Partnerschaften eingehen, sie können Kinder bekommen, aber sie haben auch Alternativen dazu."

    Zu dieser Analyse passten die Zahlen von Dr. Martin Bujard vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden. Frauen mit Hochschulabschluss, so sein Befund, bekommen die wenigsten Kinder.

    "Generell ist die Kinderzahl bei Akademikerinnen deutlich geringer, die Kinderlosenquote liegt bei 30, 31 Prozent bei Akademikerinnen."

    Kaum bekannt ist allerdings die Tatsache, dass Akademikerinnen immer schon weniger Kinder als der gesellschaftliche Durchschnitt bekamen. Dies wird aber erst zum Problem, wenn die Gruppe der Frauen mit Hochschulabschluss, wie in den letzten Jahrzehnten geschehen, deutlich anwächst.

    "Wenn man die Frauen vergleicht, die in den 1970er-Jahren in hoch qualifizierten Berufen waren, dann haben die im Durchschnitt 1,1, 1,2 oder 0,9 Kinder gehabt, um ein Kind, wobei viele von denen kinderlos waren. Wenn man sich die Gruppe anguckt, ist es nicht viel anders heute, teilweise sind die sogar minimal gestiegen. Aber Frauen, die in hoch qualifizierten Berufen arbeiten, die haben sich verfünf- oder versechsfacht in den letzten Jahrzehnten. Es hat durch die schiere Größe einen anderen Effekt."

    Allerdings, so Martin Bujard, lässt sich in der Gruppe der über 35-jährigen Akademikerinnen in den letzten Jahren ein deutlicher Anstieg der Geburtenraten verzeichnen:

    "Es gibt einen sehr interessanten Effekt bei den Akademikerinnen, der sich Recuperation nennt. Das ist der Anstieg der Geburten bei den über 35-jährigen Frauen und der ist bei den Akademikerinnen deutlich sichtbar. Da gibt's ganz gewaltige Bewegungen in den Geburtenraten in dieser Altersgruppe. Das heißt, die kriegen dreimal so viel Kinder als die über 35-jährigen Frauen mit einem niedrigeren Bildungsabschluss. Und wenn die Zahlen so weitergehen, ist möglich, dass die Geburtenraten für Akademikerinnen auch ansteigen in den nächsten Jahren."

    Gibt dies also Anlass zur Hoffnung, dass die Fertilität, also die Fruchtbarkeit, gerade in der umworbenen Gruppe der Bessergebildeten wieder ansteigt? Auch wenn das Elterngeld bislang wenig Effekte hatte, obwohl es 2007 nicht zuletzt deshalb eingeführt wurde, um gut verdienenden Akademikerinnen die Familiengründung zu erleichtern - Martin Bujard kann sich vorstellen, dass ein ganzer familienfreundlicher Maßnahmenkatalog langfristig durchaus zum Erfolgsmodell werden könnte.

    "Solche Veränderungen des Geburtenverhaltens, die sind immer langfristig und immer im Kontext mit anderen Maßnahmen. Das heißt eine Kombination des Elterngeldes mit dem Ausbau der Kindertagesstätten, auch mit Ganztagsschulen - wenn diese ganze Kombination an Zeitpolitik und Geldpolitik kombiniert wird, dann könnte man mittelfristig auch Effekte erwarten."

    Zweifelsohne ist eine Familienpolitik notwendig, die auf die gewandelten Bedürfnisse und Lebensformen heutiger Paare eingeht. Doch ob dies wirklich ausreicht, um wieder mehr Lust aufs Kind zu machen, bleibt noch die Frage. Dr. Isabel Häberling, Soziologin an der Universität Zürich, wies darauf hin, dass in der französischsprachigen Schweiz mehr Kinder als in der deutsch- und italienischsprachigen Schweiz geboren werden. Und dies, obwohl in der ganzen Schweiz der Wunsch nach einem Kind verbreitet und die familienpolitischen Voraussetzungen überall gleich sind.

    Muss man also von so etwas wie einer "Kultur" des Kinderkriegens, von unterschiedlichen regionalen oder nationalen Mentalitäten sprechen? Die Mentalität in Deutschland jedenfalls hat sich gewandelt, so Prof. Wolfgang Lutz, Direktor des Wittgenstein-Centers in Wien. Die Deutschen scheinen Kindern zunehmend distanzierter gegenüberzustehen.

    "Es zeigt sich aber auch in Studien von jungen Leuten speziell in den deutschsprachigen Ländern, dass hier eine deutliche Zunahme des Anteils gerade bei den jüngeren Männern ist, die sagen, sie wollen überhaupt kein Kinder. Die sagen, warum sollen sie sich das antun, früher haben Kinder sozialen Status gebracht, heute bringen sie nur Probleme. Das ist anders als bei den jungen Frauen, da ist der theoretische Kinderwunsch stärker ausgeprägt."
    Die Menschen, so meint Wolfgang Lutz, richten ihre Kinderwünsche an dem aus, was sie in ihrer Umgebung sehen. Gibt es in einer Gesellschaft also wenig Kinder, so präge das die Familienvorstellungen der nächsten Generation.

    "Das lässt sich ganz deutlich für chinesische Städte belegen. Da gab es ja ein Experiment, dass es durch die Ein-Kind-Politik der chinesischen Regierung in den Städten nur Paare mit einem Kind gibt. Jetzt dürfen nach neuer Gesetzgebung Paare wieder zwei Kinder haben, wenn sie selbst Einzelkinder sind. Aber es zeigt sich, dass die wenigsten das wollen. Und da hat man Studien gemacht und gefragt: Wenn Sie frei wählen könnten, was wäre die ideale Kinderzahl? Und da sagen fast 80 Prozent, das kommt mir fast pervers vor, weil ich kennen niemandem, der zwei Kinder hat."
    Für Wolfgang Lutz sind solche Ergebnisse allerdings kein Grund zur Aufregung. Die Überzeugung der Demografen, derzufolge zwei Kinder pro Frau für eine Gesellschaft ideal seien, weil die Gesellschaft dann weder wachse noch schrumpfe, hält er für falsch.

    "Es geht darum, was für unsere Gesellschaft, die gegebene Altersstruktur und auch die gegebene Struktur nach Bildung, nach Erwerbstätigkeit, was da optimal ist. Und da haben wir interessante Berechnungen angestellt. In der Regel sind Leute mit einer besseren Bildung auch produktiver, sie tragen in höherem Ausmaß zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Gesellschaft bei. Und wenn wir das mit einrechnen, dann zeigt sich, dass in der Tat für eine Gesellschaft wie Deutschland das Optimum nicht bei zwei Kindern liegt, sondern bei 1,6 - 1,8."

    Lutz' Ausführungen erstaunen. Offensichtlich können auch die vermeintlich harten Zahlen der Demografen in verschiedene Richtungen interpretiert werden. Dies gilt übrigens auch für die - komplizierte - Berechnung der deutschen Geburtenraten. Denn einmal werden die Geburtenraten pro Frau innerhalb eines Jahres berechnet - dann bekommt jede Frau in Deutschland im Schnitt etwas weniger als 1,4 Kinder. Oder man berechnet die sogenannte "Kohortenfertilität". Das ist die Anzahl der tatsächlich geborenen Kinder pro Frau am Ende ihrer Fruchtbarkeit. Diese Zahl liegt dann aber bei 1,55 Kindern pro Frau.

    "Es gibt die Kohortengeburtenrate und die sagt aus, wie viele Kinder eine Kohorte später hat. Also Frauen mit 45 Jahren, wenn sie keine Kinder mehr bekommen. Die Kohortengeburtenrate, die liegt konstant bei 1,55 und die ist deutlich höher als die Periodenfertilitätsrate, die aber meistens betrachtet wird, weil sie aktueller ist. Aber sie ist ein künstlicher Querschnitt, der die Geburten unterschätzt."

    Geht man aber von 1,55 Kindern pro Frau aus, dann könnte man nach den Berechnungen von Wolfgang Lutz- fast - Entwarnung geben. Ein demografisches Problem ist dann nicht zwangsläufig zu erwarten. Vorausgesetzt Deutschland investiert genug in die Bildung seiner Jugend.

    "Es ist nicht klar, dass Deutschland ein demografisches Problem haben wird. Es zeigt sich ja, dass wir eine Tendenz haben, viele Arbeitsprozesse zu automatisieren, und ich habe kürzlich mit einem amerikanischen Ökonomen gesprochen, der gesagt hat, die niedrige Geburtenrate ist das Beste, was euch in Deutschland passieren konnte. Weil darüber vermeidet ihr Massenarbeitslosigkeit bei jungen Leuten. In Zukunft können wir den gleichen Wohlstand mit weniger Menschen realisieren, aber die Menschen die wir dafür brauchen, die müssen optimal ausgebildet sein, damit sie die komplizierten Maschinen auch benützen können."

    Können wir also doch gelassen in die Zukunft schauen, vorausgesetzt wir arbeiten an der Bildung der zukünftigen Generationen, erhöhen das Rentenalter und werben dazu noch Fachkräfte aus dem Ausland an? Nein, nein und nochmals nein, entrüstete sich da Professor Hermann Adrian, Physiker an der Universität Mainz. Denn der demografische Wandel führe vor allem zu einem Gerechtigkeitsproblem in Deutschland.

    Während nämlich die ökonomische wie auch die zeitliche Last der Kindererziehung den Eltern aufgebürdet werde, profitierten am Ende die Kinderlosen davon. Denn die nachfolgende Generation, zu deren Erziehung die Kinderlosen kaum etwas beigetragen haben, müsse ja schließlich für deren Altersversorgung aufkommen. Warum aber sollen junge Menschen Geld für kinderlose Alte zahlen, denen sie eigentlich zu nichts verpflichtet sind?

    "Wenn es keine Sozialversicherung gäbe, dann müssten wir uns auf privater Basis um unsere alten Eltern kümmern, weil unsere Eltern sich um uns in der Kindheit gekümmert haben. Das machen wir heute durch Beitragszahlungen. Wenn man keine Rentenversicherung hätte, dann müssten kinderlose Erwachsene neben ihren Eltern sich selbst noch kapitalgedeckt versorgen. Und diesen zweiten Teil, den schenkt ihnen der Staat heute. Zum zweiten Teil, sagt der Staat, ihr müsst nicht für euch selber vorsorgen, sondern wir zwingen die Kinder der Familien, euch zu versorgen. Und das ist Ausbeutung!"

    Auch wenn Kinderkriegen eine private Entscheidung ist, so Adrians nicht unberechtigte Überlegung: Die Folgen dieser privaten Entscheidung sind durchaus gesellschaftlicher und ökonomischer Art. Und folgerichtig fordert er, dass Kinderlose höhere Abgaben zahlen müssen, um für ihre Renten selbst aufzukommen.

    "Es gibt keine moralische Rechtfertigung, warum junge Erwachsene, die selbst eine Familie gründen wollen, fremde alte Kinderlose finanzieren sollen, die selbst gut verdient haben, die der Staat hätte zwingen müssen: Leute, wenn ihr keine Kinder habt, dann müsst ihr den Anteil eures Einkommens, den ihr durch Kinderlosigkeit spart, den könnt ihr nicht durch Luxuskonsum verbrauchen, sondern den müsst ihr kapitalgedeckt anlegen, um im Alter Sozialkosten aus eurem eigenen Kapital zu bezahlen."

    Politisch, das sieht der Physikprofessor aus Mainz realistisch, ist sein Vorschlag kaum durchsetzbar. Vor kurzem griffen junge Vertreter der CDU Adrians Idee auf und forderten finanzielle Abgaben für kinderlose Menschen ab 25. Der Vorschlag war schnell vom Tisch. Die Kanzlerin fand ihn "nicht zielführend".

    Und Familienministerin Christina Schröder zieht vor, Kinderwünsche zu befördern, statt eine "Strafsteuer" für Kinderlose einzurichten. Dies war wohl auch die Meinung vieler Tagungsteilnehmer. Doch ob sich dann die Hoffnungen, die Tilman Mayer äußerte, erfüllen werden? Berechnen können das die Demografen jedenfalls nicht.

    "Es ist durchaus möglich, dass wir in der BRD eine andere Geburtenentwicklung erreichen, also dieser Optimismus steht im Raum. Es ist kein Schicksal, dass Deutschland ein Drittel unter Erhaltungsniveau, was die Geburtenzahl betrifft, liegt und Frankreich auf einem anderen Niveau ist. Da ist Spielraum für die Politik und das muss sie nutzen."