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Vom kreativen Verrücktsein

In Siena beschäftigt sich eine Ausstellung mit der Verwandtschaft von Genie und Wahnsinn in der Kunst. Gezeigt wird unter anderem ein Bild Vincent Van Goghs - gemalt in einer Nervenheilanstalt.

Von Thomas Migge |
    Ein Mann steht vor einem knorrigen hohen Baum, mit den Händen in den Hosentaschen. Hinter ihm ist ein niedriges Gebäudes zu erkennen, nur ein Stockwerk hoch. Mit einem Portaleingang und darüber einem Balkon. Der Himmel ist azurblau, das Licht sonnendurchflutet hell. Vincent Van Gogh malte das Ölbild 1889. Der Maler stellt das Hospital Saint-Paul im südfranzösischen Saint-Remy-de-Provence dar. Ein Krankenhaus, eine Nervenheilanstalt. In das Gebäude, das fast wie ein ländliches Hotel anmutet, ließ sich der niederländische Maler im gleichen Jahr einweisen.

    Er wurde hier nicht weggeschlossen, sondern konnte en plain air arbeiten, schuf viele Werke, die seine nächste Umgebung und ihre Menschen zeigen. Das aus dem Musée d'Orsay in Paris ausgeliehene Gemälde ist sicherlich eines der Hauptwerke einer Kunstschau, die die Verbindung von Genie, Kunst und Geistesgestörtheit thematisiert. Kurator der Ausstellung ist der Kunsthistoriker und ehemalige Vizekulturminister Vittorio Sgarbi:

    "Mich interessieren die Themenkomplexe des Abnormen, der Exzentrizität, die entweder individuelle Veranlagung ist oder durch eine Pathologie verursacht wird. Künstler, die sich mit diesen Themen beschäftigten, versuchten immer wieder ihr Inneres wiederzugeben. Van Gogh ist vielleicht das berühmteste Beispiel dafür, aber es gibt viele Künstler, bei denen nicht eindeutig gesagt werden kann, inwiefern eine Nervenkrankheit ihr Schaffen beeinflusst hat oder nur ein Spleen. Ich nenne das die verrückte Kreativität."

    Vittorio Sgarbi ist ein Fachmann für Ausstellungen, die die Grenzbereiche künstlerischen Schaffens behandeln. 2005 sorgte die von ihm organisierte Kunstschau über das Böse in der Kunst, im Turiner Stupinigi-Schloss, für großes Aufsehen; stellte er doch Teufelsdarstellungen eines Fra Angelico direkt neben Bildern von Cartoon-Bösewichtern aus. Auch in Siena hebt Sgarbi die Grenzen der offiziellen Kunstwelt auf und zeigt Werke des, wie er es nennt, kreativen Verrücktseins von anerkannten Künstlern zusammen mit Gemälden von Patienten aus verschiedenen italienischen Psychiatrischen Anstalten:

    "Ich habe mich darum bemüht, das Verrücktsein in der Kunst nicht nur auf mehr oder weniger bekannte Künstler zu reduzieren. Ich suchte im wahrsten Sinne des Wortes verrückte Kunst überall, auch in Nervenheilanstalten, denn wer will eine Grenze ziehen zwischen gesunder und kranker Kunst? Ab wann waren Van Goghs Bilder der pure Ausdruck eines Kranken? Eine unsinnige Frage. War nicht auch Ligabue verrückt, malte er doch nur Madonnen, als die Avantgarden nur anderes im Sinn hatten."

    Die Ausstellungsbesucher müssen sich einen Reim auf die – auf den ersten Blick – kraus wirkende Gegenüberstellung der Themen "Das Gestörte in der Kunst", "Verrückte Maler" oder "Wo beginnt die Geistesstörung?" machen. Dafür ist es nötig, sich auf die Gemälde und auf die Beschreibungen der Künstler einzulassen, um zu entdecken, dass klare Definitionsgrenzen zwischen krank und vermeintlich gesund in der Malerei nicht existieren.

    Erinnern, fragt Sgarbi, Gemälde wie "Menschen in Trümmern" von Otto Dix, die hoffnungslosen Gestalten auf " Die Verdammten" von Felix Nussbaum oder auch der alte Mann mit dem weit aufgerissenen Mund auf dem Selbstporträt von Franz Karl Bühler sowie viele der ausgestellten Werke von Munch und einigen Surrealisten nicht verblüffend an die Bilder geistig gestörter Maler aus Nervenheilanstalten?
    Die Ausstellung konzentriert sich vor allem auf Werke des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die klinische Definition pathologischer Geisteszustände wie auch die Darstellung psychischer Zustände beginnt Sgarbi zufolge in jenem Jahrhundert, in dem Sigmund Freud die Grundlagen für die Psychoanalyse legte.

    Die Gegenüberstellung von Gemälden anerkannter Künstler mit denen unbekannter Patienten zeigt, wie schwierig es ist, bestimmte Sujets zu definieren, ohne die persönliche Geschichte des Malers, ob krank oder gesund oder irgendwo dazwischen, zu begreifen. Mit fortschreitender Abstraktion in der Kunst rücken Gefühlszustände immer deutlicher ins Zentrum der Darstellungen.

    Künstler lassen diesen Gefühlszuständen immer freieren Lauf und verwirren damit den Betrachter. Wer kann schon von sich behaupten, fragt die Ausstellung, die Werke Dalis zu verstehen? War er nicht auch ein wenig durchgeknallt, ohne dabei krank zu sein?

    "Arte, Follia, Genio" in Siena:
    Complesso Museale Siena Santa Maria della Scala (Bis 25. Mai)