Archiv


Vom Leben auf der anderen Seite

Als Immanuel Kant Swedenborgs gewaltiges Bibeldeutungswerk, die "Arcana coelestia", erworben und gelesen hatte, ärgerte er sich sehr. Herausgeworfenes Geld, vertane Lese- und Lebenszeit, dafür verlangte er eine Entschädigung. Er schrieb die "Träume eines Geistersehers", und seine Rache war erfolgreich. Seitdem weiß man in aufgeklärten Kreisen, was von Svedenborg zu halten ist, diesem Scharlatan und Phantasten, der Himmel und Erde, das gesamte Weltall, mit Geistern und Engeln vollgestopft hat, ein Gewimmel ohne Sinn und Verstand.

Joachim Büthe |
    Die Dichter sind gnädiger mit ihm umgegangen. William Blake beispielsweise war sein Anhänger, Goethe hat ihn mit Gewinn gelesen, Strindbergs "Traumspiel" wäre ohne ihn nicht denkbar. Für Olof Lagercrantz ist Swedenborg ein Pionier, der es gewagt hat, ins Unbekannte aufzubrechen. Darin sind alle Risiken eingeschlossen. "Vom Leben auf der anderen Seite" ist der Versuch, aus der ungeheuren Fülle der Schriften Swedenborgs - Monomanie war ihm in keiner Hinsicht fremd - ein Destillat herauszufiltern, das seine Gedankengänge so weit wie möglich plausibel macht. Kein Vademecum, sondern die Würdigung eines Lebenswerks, in dem Erkenntnisse versteckt sind, die heutigen Lesern leichter zugänglich sind als seinen Zeitgenossen.

    Im Unbekannten gibt es keine festen Markierungen. Es darf spekuliert werden, man muß sich seine Landkarte selbst erfinden. Denn, so Lagercrantz, eine falsche Karte ist immer noch besser als gar keine. Swedenborg ist ein glaubensstarker und gebildeter Mann mit einer soliden naturwissenschaftlichen Ausbildung. Entgegen dem ersten Anschein ist er kein Mystiker, dazu ist er viel zu ehrgeizig, seine Gesichte sind durchdacht. In Vermischung von Phantasie und systematischer geistiger Anstrengung ist er denen am nächsten, die freundlich zu ihm waren: den Dichtern.

    Swedenborg ist bereits 56 Jahre alt, ein hoher königlicher Beamter aus gutem Haus, als ihn die Traumkrise befällt. Er wird von einer Flut von Träumen überschwemmt, die ihn in tiefe Ratlosigkeit stürzen. Vermutlich ist es eine Nervenkrise, hervorgerufen durch unerfüllte wissenschaftliche Ambitionen, auf jeden Fall ist es der Wendepunkt seines Lebens. Er nimmt die Träume als seine Berufung an, als seine göttliche Auserwähltheit. Von nun an wird er die Träume suchen, die meisten erfährt er vor dem Erwachen, in einem Zustand, der die Unterscheidung zwischen Traum und Phantasie nicht zuläßt. Man kann diese Verfassung auch als Offenheit für Inspiration beschreiben.

    Der Gedanke an ästhetische Praktiken der Moderne liegt nahe. Die Geisteszustände, die Swedenborg als übersinnlich empfindet und beschreibt, können als verschiedene, hochsensible Seelenzustände aufgefaßt werden. Lange bevor die Erforschung des menschlichen Seelenlebens beginnt, kehrt Swedenborg sein Innerstes nach außen, die Welt wird zur Bühne des unbekannten inneren Kontinents. Wenn man mit Lagercrantz dieser Spur folgt, verliert das Werk Swedenborgs viel von seiner Absonderlichkeit. Es wird lesbar. Warum ihn jedoch diese Vermischung von Traum und Phantasie nie mehr losgelassen hat, warum er sich ein Zwischenreich eingerichtet hat, das nur ihm zugänglich ist, auf gutem Fuß mit Geistern und Engeln; warum er diese Bilderwelt gewählt hat, um sein Denken und Fühlen auszudrücken, kann niemand erklären. Auch Lagercrantz ist nicht so vermessen, einer wie Swedenborg hätte es versucht. Er will erklären, jeden seiner Träume und jedes seiner Gesichte. Weh dem, der keine Symbole sieht!

    Swedenborg ist ständig auf der Suche nach Entsprechungen, Korrespondenzen. Nichts in seiner Doppelwelt ist einfach nur vorhanden, es ist wie es bedeutet. Das gilt besonders für die Bibel. Jedes einzelne Wort in ihr ist Gottes Wort und muß auf seine symbolische Bedeutung abgeklopft werden. Das macht Swedenborgs Bibeldeutung so uferlos und als Ganzes unlesbar. Ähnlich wie in Lewis Carrolls ungleich schmalerem Werk sind bei ihm Pedanterie und Phantastik eng miteinander verknüpft. Wenn sein Hang zur Monomanie noch hinzukommt, trägt das Ergebnis monströse Züge. Das wird es seinen aufklärerischen Zeitgenossen zusätzlich erschwert haben, in ihm einen potentiellen Verbündeten zu sehen. Mit seinen politischen Vorstellungen rückt ihn Lagercrantz in deren Nähe. In seinen Utopien war er ihnen voraus.

    Daß es Leben auf dem Mars gibt, ist für Swedenborg keine Frage. Er ist bewohnt wie die anderen Sterne auch. Überraschender sind die Prinzipien, nach denen das Leben dort organisiert ist. Sie gleichen den Vorstellungen des Syndikalismus. Auch das All wird für Swedenborg zur Projektionsfläche, in diesem Fall für menschliche Glücksvorstellungen, die sich glücklicherweise auf Erden noch nicht recht entwickeln und zur Ideologie verdicken konnten. So etwas liest man gern, ebenso wie Swedenborgs menschenfreundliche Gottesvorstellungen. Seine Theologie beruht wesentlich auf dem Streben nach Selbstvervollkommnung mit der Erhebung des Menschen in den Status der Göttlichkeit als Zielvorstellung. Es gibt keine Erlösung von außen, auch keine Sünden im Geiste, nur die wirklich begangenen. Gott ist der beste anzunehmende Mensch. Lagercrantz zieht Parallelen zum Christusbild von Ernst Bloch, zu seiner Betonung von Jesus als Menschensohn.

    Swedenborg ist voller Widersprüche, Pedant und Phantast, Mitglied der Oberklasse und Ausgestoßener. Er, der die Selbstliebe als eines der Grundübel anprangert, die hervorgehobene Stellung der kirchlichen Heiligen aus demokratischen Gründen ablehnt, bleibt selbst von seiner Auserwähltheit überzeugt. Wie sollte er auch anders empfinden in seiner doppelten Ungleichzeitigkeit? Swedenborgs Geisterwelt ist auch eine ebenso handfest-radikale wie poetische Antwort auf die theologisch-praktische Frage, was mit den Seelen der Verstorbenen geschieht, in welcher Form sie weiterleben. Es ist jedoch eine Antwort, die, wörtlich genommen, zurückverweist in das voraufklärerische Zeitalter des Aberglaubens und der Dämonen. Zugleich erfindet er surreale Traumbilder und Geschichten, die Edgar Allan Poe vorwegzunehmen scheinen. Selbst das moderne Ungenügen an der Sprache, die Empfindung, daß der reine Klang ihr überlegen sei, ist bei ihm bereits vorhanden. Wer sich so in beide Richtungen aus seiner Gegenwart entfernt, kann zu Lebzeiten kaum mit verständigen Lesern rechnen.

    Über weite Strecken gelingt Lagercrantz die angestrebte Ehrenrettung des Denkers und Dichters Swedenborg. Er präpariert die sprachphilosophischen Grundlagen aus Swedenborgs Darlegungen zur Geistersprache heraus. Mit Sympathie und Vergnügen belegt er den erstaunlichen Einfallsreichtum in dessen phantastischen Geschichten, auch wenn er auf die aus ihnen folgende Moral mitunter gern verzichtet hätte. Bei Swedenborg kommt sie garantiert. Das schmälert seine innovativen Verdienste nicht. Selbst seine "Symbolgymnastik", diesen Ausdruck findet Lagercrantz im letzten Kapitel des Buches, entwickelt einen Sog, dem sich sein Interpret kaum entziehen kann. Jedenfalls nicht immer. Auf der letzten Seite kommt Lagercrantz zu einer Schlußbeurteilung, die entschieden reservierter ist.

    "Swedenborg hat etwas von einem robusten Karoliner, einem Soldaten Karls XII., der aus sibirischer Gefangenschaft zurückgekehrt ist und jetzt als Lehrer in einem winterlichen Schweden arbeitet. Die große Perspektive der Taiga fließt ein in seine Unterweisung, aber sie hat auch etwas Handgreifliches und Gefühlloses." Manchmal muß ihm Swedenborgs pedantische Deutungswut auch gehörig auf die Nerven gegangen sein.