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"Vom Manisch-Verrückten bleibt da nichts mehr übrig"

Laut Deutschlandfunk-Redakteur Stefan Koldehoff zerstört die neue Edition der Briefe Vincent van Goghs das Bild vom "völlig impulsiv, völlig unbedacht, völlig unintellektuell, manisch-wütenden, besessenen Maler". Van Gogh habe sehr reflektiert gearbeitet. Das gehe aus den Briefen hervor.

Stefan Koldehoff im Gespräch mit Dina Netz |
    Dina Netz: Wie sehr soll man sich mit der Biografie, mit den Äußerungen eines Künstlers beschäftigen, oder muss die Kunst einfach für sich stehen können? Diese Frage wird immer wieder diskutiert, besonders bei schillernden oder problematischen Künstlerpersönlichkeiten. Vincent van Gogh ist so eine Person gewesen, wo sich Kunst und Leben untrennbar vermischt haben. Eine Quelle für beides, für Informationen über Leben und Werk, waren immer schon die Briefe van Goghs, Briefe vor allem an den Bruder Theo, aber auch an andere Verwandte, Freunde, Kollegen. Nur waren diese Briefe bisher schlecht erschlossen, gekennzeichnet von Auslassungen, Fehlübersetzungen, Fehlinterpretationen. Jetzt liegt eine neue, sechsbändige Edition der Briefe van Goghs vor, die in 15-jähriger Arbeit am Van Gogh Museum in Amsterdam erarbeitet wurde. Frage an Stefan Koldehoff: Hat sich die Mühe gelohnt?

    Stefan Koldehoff: Ja, man kann schon sagen, ohne zu übertreiben: Das ist eine Jahrhundertedition, die 15 Jahre des Wartens haben sich gelohnt, denn zum einen gibt es eine Fülle von Briefen, die man bisher überhaupt nicht kannte, weil sie einfach in den vergangenen Jahrzehnten auf Auktionen, auf Speichern wieder aufgetaucht sind, und zum anderen sind diese Briefe nun zum ersten Mal nicht nur vernünftig ediert, sondern auch vernünftig erklärt. Das heißt, es gibt zu dieser sechsbändigen Ausgabe Anmerkungen, die in der Buchform relativ sparsam, so nötig wie möglich ausgefallen sind, damit die Briefe noch lesbar bleiben, die aber im Internet auf einer kostenlosen Webseite fast denselben Umfang haben, nämlich rund eine Million Worte, wie die Briefe selbst. Und da wird wirklich alles erklärt, was man zu van Goghs intellektuellem Hintergrund wissen muss, da wird jedes Bild, auf das er anspielt – sei es nun ein eigenes oder ein fremdes, das er irgendwo gesehen hat –, jeder Roman, den er gelesen hat, jeder Zeitschriftenaufsatz, der ihn beschäftigt hat, nicht nur erläutert, sondern lesbar gemacht. Und sowas habe ich, ehrlich gesagt, noch nicht erlebt in der philologischen Welt.

    Netz: Das klingt aber – zumindest, was die Internetveröffentlichung angeht – auch ein bisschen unübersichtlich, oder ist das gut nutzbar als Ergänzung zur Buchausgabe?

    Koldehoff: Das ist sicherlich eine Sache für die Fachleute. Aber es ist schon ganz spannend, wenn man da Briefe liest, in denen van Gogh sagt, ich bin ganz fürchterlich beeindruckt vom Besuch in diesem und jenem Museum, weil ich diese und jene Bilder dort gesehen habe, und dann klickt man sich die an und stellt fest, das war gar nicht progressiv, was er da gesehen hat, das waren ganz klassische Bilder der holländischen Schule – und so was soll van Gogh gefallen haben? Na ja.

    Netz: Was erfährt man denn ... Sie haben gerade schon gesagt, es sind einige unbekannte Briefe jetzt auch zum ersten Mal veröffentlicht. Was erfährt man denn aus denen Neues?

    Koldehoff: Man erfährt beispielsweise, wie stark zu einer bestimmten Zeit der junge van Gogh von der Bibel inspiriert gewesen ist, dass er seitenlang biblische Zitate in seinen Briefen verarbeitet, beispielsweise in einem Kondolenzbrief an einen frühen Arbeitgeber, dessen Tochter gestorben war. Vieles von dem, was er da schreibt, ist nämlich gar nicht als Zitat gekennzeichnet, sondern man dachte, das sind die eigenen Worte van Goghs. Tatsächlich hat dieses Team, das Sie gerade schon genannt haben, herausgefunden, dass er da zum Teil wörtlich zitiert und diese Zitate jetzt als solche auch kenntlich gemacht. Oder es gibt durchaus auch zensorische Eingriffe in den letzten Jahrzehnten, was diese Briefe angeht. Diejenige, die sich darum gekümmert hat, war die Schwägerin von van Gogh, die Frau, die Witwe seines Bruders. Die hat schon sehr darauf geachtet bei den frühen und auch bei den späteren Editionen, dass bestimmte Dinge nicht so deutlich zum Vorschein kamen.

    Netz: Was für Dinge?

    Koldehoff: Na, wenn es beispielsweise darum ging, dass das Verhältnis zwischen Vincent und Theo van Gogh gar nicht so ungetrübt war, sondern es recht regelmäßig Streit zwischen den beiden Brüdern gegeben hat, oder wenn van Gogh über einen befreundeten Soldaten, mit dem er die Bordelle in Arles besucht hat in Südfrankreich, schreibt, nachdem er zurückkehren musste zu seiner Einheit. "Der Schwanz ist jetzt zurück in die Garnison gekehrt", das waren Sachen, die man kurz nach der Jahrhundertwende nicht so gerne gedruckt haben wollte.

    Netz: Das sind vielleicht auch Sachen, die man jetzt nicht so unbedingt im Detail wissen muss. Aber was entsteht durch diese gesamte Edition denn für ein neues Gesamtbild von van Gogh – wenn ein neues entsteht?

    Koldehoff: Es ist sicherlich a) ein Bild, das zerstört wird, nämlich das vom völlig impulsiv, völlig unbedacht, völlig unintellektuell, manisch-wütenden, besessenen Maler. Das war er nicht. Er hat sehr reflektiert gearbeitet, das geht aus den Briefen hervor, in denen er manchmal seitenlang beschreibt, woran er gerade arbeitet, warum er so und so bestimmte Motive auffasst. Und was dadurch entsteht, ist tatsächlich das Bild eines Künstlers, der nicht nur auf der Höhe des Kunstschaffens seiner Zeit war, sondern sehr genau sich auch dafür interessierte, was die Kollegen so gemacht haben und in welche Tradition er sich einordnete. Also, vom Manisch-Verrückten bleibt da nichts mehr übrig.

    Netz: Die Einschätzung von Stefan Koldehoff. Ab morgen ist die Internetseite mit der Briefedition freigeschaltet, die Buchausgabe ist seit heute erhältlich