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Vom Molotowcocktail zum Flächenbrand

Seit elf Nächten brennen in Frankreich die Vorstädte. Die Regierung schätzt die Lage ernst ein. Premierminister Villepin und Innenminister Sarkozy haben Reisen ins Ausland abgesagt. Während die französische Regierung versucht die Krawalle in den Griff zu kriegen, fragen sich die Franzosen, wie es soweit kommen konnte. Margit Hillmann stellte diese Frage in einem der Pariser Vororte.

    Am Lenin-Boulevard in Bobigny: Es ist Markt. Zwischen den Ständen drängen sich die Viertelbewohner und erledigen ihre Einkäufe. Es sind Männer und Frauen fast ausnahmslos arabischer und afrikanischer Herkunft. Sie wohnen in den umliegenden Sozialwohnungen, - steile Türme, die in den grauen Himmel über Paris ragen. "Notre cité", unsere Stadt, wird sie von allen genannt. Das Gefühl, zusammenzugehören, das gleiche Schicksal zu teilen, hat sich in den vergangenen Tagen eher noch verstärkt. Sie suchen Schutz in der Gemeinschaft. Wollen sich wehren gegen den schlechten Ruf ihrer Viertel.

    "Dass, was hier in den letzten Tagen passiert ist, sorgt natürlich für eine gewisse Spannung im Viertel. Aber insgesamt, und ich wohne ich hier schon seit vielen Jahren, läuft es eher gut."
    Der Mittvierziger wohnt nicht nur mit seiner Frau und seinem zehnjährigen Sohn in Bobigny. Er arbeitet auch in dem Pariser Vorort. Er ist Lehrer an einer Gesamtschule und hat jeden Tag mit Kindern und Jugendlichen des Viertels zu tun. Und auch da will er richtig stellen, ist nicht einverstanden mit dem, wie er sagt, üblichen Klischees über die Jugend aus den Vororten.

    "Es gibt viele Kinder, die gut klarkommen. Niemand hat das Recht sie als 'Pack' abzustempeln. Es gibt hier ein enormes Potenzial an jungen Leuten, die tolle Leistungen bringen: in der Schule, im Sport, in der Kultur. Junge Leute von hier haben sogar Olympiamedaillen geholt. Nur, um mal daran zu erinnern, dass die Menschen hier nicht nur eine Last, sondern auch eine Bereicherung für die Gesellschaft sind. "

    Und während der Lehrer von der politischen Verantwortung der Regierung spricht, die nicht nur die Vorstädte mit ihrem sozialen Elend und einer extrem hohen Jugendarbeitslosigkeit alleine lasse, sondern auch noch die Gewalt gezielt provoziert habe, bleiben immer mehr die Leute stehen, hören zu und nicken zustimmend. Doch unter ihnen ist auch eine Afrikanerin, die nun ihre schweren Einkaufstaschen abstellt, um zu sagen, dass sie ganz und gar nicht damit einverstanden ist. Nicolas Sarkozy erledige nur seinen Job, hält sie dagegen, er sorge für Ordnung. Und dann schimpft sie über Eltern, die ihre Kinder nicht im Griff hätten und sie nicht anständig erziehen würden.

    "Die Eltern müssen nicht wie Diktatoren ihre Kinder behandeln. Aber die Kinder brauchen Erziehung. Sie müssen lernen, zwischen gut und schlecht zu unterscheiden. Man muss ihnen auch früh genug Grenzen setzen. Man kann damit nichts anfangen, wenn sie 15 oder 16 Jahre alt sind."

    Die Mutter von zwei Kindern kann nicht verstehen, dass Eltern ihre Kinder bis in den späten Abend in den Strassen herumlaufen lassen: "Sogar jetzt, wenn es abends in den Strassen brennt, laufen kleine Kinder herum, ohne dass sich jemand darum kümmert".
    Das sei doch alles übertrieben, meint ein Algerier, Vater von vier Kindern, die hier in Bobigny geboren sind. Er kann die Kommentare über die Gewalt in den Vorstädten nicht mehr hören, sagt er. Vor allem, wenn immer wieder die Rede ist von der fehlgeschlagenen Integration, regt es ihn auf.

    "Wie kann man jemanden integrieren, der hier geboren ist, der in eine französische Schule gegangen ist? Immigranten, nennen sie uns. Wie soll ich einen solchen Unsinn meinen Kindern erklären. Damit sagt man ihnen doch, ihr seid hier nicht zuhause. Und sie sehen doch auch selbst, was los ist, beobachten, was um sie herum passiert. Du macht dein Diplom, denkst, du kannst arbeiten. Aber nein, nicht wenn du schwarz bist. "

    Ein paar Meter weiter schiebt eine Mutter ihren Kinderwagen eilig an den Marktständen vorbei. Sie wirkt müde und gestresst. Ja, sie mache sich große Sorgen, vor allem um die Zukunft ihrer Kinder.

    "Man muss sie schon ganz früh vor der Gewalt im Viertel schützen. Und das ist nicht einfach. Weil, wenn sie hier in dieser harten Atmosphäre aufwachsen, verlieren die Kinder schnell jedes Gefühl für Gefahr und haben bald vor nichts mehr Angst. Sie verlieren irgendwann jedes Maß und werden schließlich auch gefährlich."

    Aber auch sie selbst fühlt sich in ihrem Viertel nicht mehr wohl. Die Gewalt der vergangenen Tage sei nicht der einzige Grund. Es ist vor allem die Perspektivlosigkeit, die hier herrscht und die Atmosphäre vergiftet. "Ganz ehrlich", sagt sie, "ich frage mich, ob ich nicht wegziehen sollte".