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Vom Nutzen der Wut
Wie Zorn Kraft gibt

Soziale Netzwerke haben ein Interesse an wütenden Nutzern, denn Emotionen bringen Klicks. Dabei ließe sich Wut viel sinnvoller nutzen als im Netz, sagt unsere Kolumnistin Marina Weisband - zum Beispiel, um die Welt tatsächlich zu verändern.

Von Marina Weisband | 20.11.2019
27.09.2019 - Berlin-Mitte: Schüler, Studenten und Klimaaktivisten demonstrieren im Invalidenpark im Regierungsviertel für das Klima, den Klimaschutz und eine bessere und saubere Umwelt. Die Schüler fordern mit ihren allwöchentlichen Protesten den sofortigen Kohleausstieg und eine Klimawende.
Demonstranten bei Fridays for Future in Berlin (www.imago-images.de)
Sprechen wir über Wut. Wie Trauer bei einer Beerdigung oder Freude bei einer Hochzeit, scheint Wut im Internet einfach irgendwie dazu zu gehören. In den letzten Monaten haben wir viel darüber gesprochen, was passiert, wenn diese Wut online und offline in Gewalt gegen marginalisierte Gruppen umschlägt. Doch Wut ist nicht immer so zersetzend. Sie ist omnipräsent.
Ich selbst habe Tage, an denen ich mich durch fünf Artikel klicke, um wirklich zu verstehen, warum dieser oder jene Politiker gerade ein totales Arschloch war. Fast alle Menschen, die regelmäßig online sind, regen sich dort regelmäßig auf. Warum eigentlich? Haben wir mit unserer Zeit nichts Besseres zu tun, als uns die dümmsten Ausfälle von Menschen zu schicken und uns über sie zu ärgern?
Die Taubheit unseres Alltags durchbrechen
Hierzu müssen wir zuerst festhalten, dass Wut eine wertvolle Ressource ist. Sie ist ein erweckendes, ein energetisierendes Moment, das die Taubheit unseres Alltags durchbrechen kann. Wut gibt Kraft, Kontrolle über das eigene Leben zu erlangen und Elemente zu verändern, die einen stören, zum Beispiel einen Job zu kündigen oder eine dysfunktionale Beziehung zu beenden.
Porträtfoto von Marina Weisband
Marina Weisband (Lars Borges)
Peter Sloterdijk hat in seinem Buch "Zorn und Zeit" wunderbar beschrieben, wie Zorn in einer Gemeinschaft gesammelt wurde – beispielsweise durch die Kirchen mit ihrem Konzept des heiligen Zorns – und wie er in Revolutionen in eine bestimmte Richtung gelenkt und eingesetzt wurde, um Verhältnisse zu ändern.
Suche nach Anerkennung
Doch Wut ist unbeliebt geworden. Sie hat einen schlechten Ruf. In unserer zivilisierten, hoch individualisierten Gesellschaft haben wir keinen Platz, wo sie erwünscht und gefordert ist. Je weniger wir gemeinsam haben, desto weniger bekommen wir etwas, das uns eigentlich sehr wichtig ist: Anerkennung für unsere Wut.
Ein Street-Art-Gemälde zeigt Donald Trump und Boris Johnson beim Küssen.
Gefährliche Win-win-win-Situation
Populisten wie Donald Trump und Boris Johnson scheinen immun gegen Skandale. Unsere Kolumnistin Marina Weisband gibt die Schuld auch den Medienhäusern: Sie profitieren vom hohen Unterhaltungswert der Politiker.
Wir wollen gesehen werden. Mit dem, was uns ärgert. Wahrgenommen. Doch die Freiheit, unser eigenes Leben entwerfen zu können, macht unsere Lebensentwürfe auch zunehmend unvergleichbar. Sodass es schwieriger ist, Anerkennung für unsere Wut zu finden.
Wut ist hochgradig klickbar
Auf dieses Vakuum, das ein Mangel an Gemeinschaft hinterlässt, tritt nun das Internet. Hier kann sich jeder in einem Forum empören – Rechte, Linke, Fußballfans, Veganer, Mütter, Impfgegner – und hoffen, Anerkennung zu bekommen. Doch das Internet hat als Verwerter von Wut eine ganz eigene Funktion. Die Plattformen haben ein direktes Interesse daran, dass wir wütend bleiben.
Gestellte Aufnahme zum Thema Hasskommentare: Neben dem Gefällt mir Button von facebook ist das Wort Lügenpresse zu sehen. 
Die Sprache des Online-Rechtsextremismus
Memes, Twitch, Incel-Foren – um zu verstehen, wie Radikalisierungsprozesse im Netz funktionieren, muss man diese Wörter kennen, meint unsere Kolumnistin Marina Weisband. Die öffentliche Debatte darüber scheitere oft an dem speziellen Vokabular.
Alle Studien zeigen, dass Inhalte, die emotional hoch erregend sind, mehr Aufmerksamkeit bekommen als emotional Neutrale. Wut ist hochgradig klickbar. Und da das Geschäftsmodell der Plattformen im Verkauf von Werbung liegt, müssen sie die Aufmerksamkeit fesseln.
Ein Hamsterrad aus Erregung
Nach einem Video, das uns wütend macht, bekommen wir also drei andere empfohlen, die uns noch viel wütender machen. Wir klicken und wir konsumieren und wir entwickeln in uns diese Erregung, mit der wir aber nicht so richtig irgendwo hin können. Oft genug wird sie in der nächsten Kommentarspalte ausgelassen. Dort wird sie gespiegelt, man schaukelt sich gegenseitig hoch – doch weder am eigenen Leben noch an der Welt verändert sich dadurch etwas.
Es ist ein Hamsterrad aus Erregung. Ständige Investition, die zu nichts führt, in der man selbst immer leer ausgeht. Wir alle sollten uns das häufiger in Erinnerung rufen. Denn Wut ist gesund und wichtig.
Wo uns wirklich Dinge stören, sollten wir uns häufiger wieder zusammensetzen und darüber reden. Und sie irgendwo hinlenken. Die Jugendlichen von Fridays for Future machen es uns vor – und tragen ihre Wut auf die Straße.