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Vom orthopädischen Problem zur nationalen Schicksalsfrage

Was Hedgefonds sind, wie Leerverkäufe funktionieren, wo "short seller" sitzen, warum Credit Default Swaps weh tun können oder vielleicht doch heilsam sind, das verstehen in Deutschland und Berlin sicher viele nicht. Aber was ein Sprunggelenk ist, wo das Syndesmoseband sitzt, wie es zwischen Schienbein und Wadenbein funktioniert und warum der Riss des Bandes einen Fußballer acht Wochen vom Platz schickt, das wissen Millionen von deutschen Fußballtrainern und Mannschaftsärzten ganz genau.

Von Hubert Maessen |
    Denn seit der Kapitän der deutschen Fußballnationalelf samstags bös' gefoult wurde und montags mit einer niederschmetternden Diagnose am Stock ging, seitdem hat die Nation das Sprunggelenk Michael Ballacks genauestens untersucht und bei sich selber als Kollateralschaden einen schweren Schockzustand diagnostiziert.

    Die Kapitäns-Krise, die damit verbundene mögliche Schwächung der deutschen Mannschaft bei der bevorstehenden Fußballweltmeisterschaft in Südafrika, dieses ambulante Geschehen hat die Eurokrise tagelang zur unwichtigsten Nebensache der Welt degradiert, Rettungspakte zur Postwurfsendung, 750 Milliarden zu Peanuts. Jedenfalls wirkte das so länger als eine Halbzeit in entscheidenden meinungsbildenden Medien; auch in der Glotze. Dass Bild und "BamS" dies Thema so platt walzten wie den Rasen auf Schalke, so platt wie zuvor die garstigen Griechen nimmt weniger Wunder, Fußball ist schließlich unser Leben. Aber dass die ARD nach der amtlichen Tagesschau die Fußband-Affäre mit einem "Brennpunkt" adelte, das kann auch schockieren. Zeigt es doch, dass Maßstäbe in die Südkurven verrutschen, wenn Spiele wichtiger werden als Brot.

    Zuletzt war das zu besichtigten nach dem Freitod des Torhüters Enke aus Hannover. Die größte Nationaltrauer seit Konrad Adenauer sei das, hieß es im vorigen November. Die auf mehreren auch öffentlich-rechtlichen Fernsehkanälen übertragenen Bilder aus dem Fußballstadion mit dem Sarg in der Mitte auf dem Anstoßpunkt, die hatten bei aller suggestiven Kraft der emotionalen Großinszenierung auch eine unheimliche Geschmacklosigkeit; es war zu viel, zu groß, hier imitierte das Kleinbürgertum den Heimgang der Herrscher; es zeigte sich grotesk, was dabei herauskommt, wenn man das Wort vom König Fußball ernst nimmt und sich nicht scheut, vom Fußballgott und Fußballgöttern zu blasphemisieren.

    Nun ist, das muss man allerdings zugeben und berücksichtigen, die Geschichte der Bundesrepublik eng mit dem Fußball verknüpft. Kaum jemand erinnert sich an die wesentlichen politischen Etappen der Anfangsjahre dieses Staates, an den so überaus schweren und schwierigen Prozess der Rehabilitation der Deutschen und ihre Rückkehr ins Leben der internationalen Gemeinschaft. Das 3:2 aber, mit dem das westliche Deutschland 1954 Weltmeister wurde, das kennt noch jeder, das ist fürs Bewusstsein der neuen Nation bis heute in Wahrheit konstituierender als das Grundgesetz. Für die damals zweite deutsche Nation war ein 1:0 gegen den Klassenfeind Bundesrepublik von ähnlicher Qualität; es erhob bei der Weltmeisterschaft 1974 den Magdeburger Stürmer Jürgen Sparwasser zum Helden des Strebens nach Anerkennung der DDR. Und das Sommermärchen der Klinsmänner von 2006 machte das ungehemmte Präsentieren der Schwarz-Rot-Goldenen Flaggen und Gefühle möglich, ohne an "Deutschland über alles" zu denken.

    Fußball ist also wichtig. Aber noch wichtiger ist es, ihn nicht so wichtig zu nehmen, dass ein 33 Jahre altes männliches Sprunggelenk vom orthopädischen Problem zur nationalen Schicksalsfrage wird. Am Ende haben wir dann nämlich alles verloren: Den Kapitän, die Weltmeisterschaft, den Überblick und den Euro, weil wir gerade abseits gestanden haben, als die Politik ihn verschossen hat.