Und jetzt ist man hier in diesem Haus seit Tagen immer in der schwierigen Situation: Wenn man über die italienische Ratspräsidentschaft redet, dann heißt das immer: Ja nun seid vorsichtig, dass ihr den Berlusconi nicht kritisiert wegen dem, was der in Italien tut, denn das hat ja hier im Europaparlament nichts verloren. Ja wieso, ist Italien nicht Mitglied der Europäischen Union?
Martin Schulz, Buchhändler aus Nordrhein-Westfalen und seit einiger Zeit Chef der deutschen SPD-Abgeordneten im Europäischen Parlament, war bis zu diesem Tag im Juli 2003 in Deutschland nicht sonderlich bekannt. Das änderte sich schlagartig, als der wütende Berlusconi sich zu einem seiner schlechten Witze verleiten ließ:
In Italien wird zur Zeit ein Film über Konzentrationslager vorbereitet. Herr Schulz, ich schlage Sie für die Rolle des Kapos, des KZ-Schergen vor.
Ungläubiges Schweigen im Europäischen Parlament nach diesem Nazi-Vergleich des amtierenden EU-Ratspräsidenten. Es folgten tumultartige Szenen im Straßburger Plenum, Proteste von allen Fraktionen, und schließlich die selbstbewusste Antwort des so persönlich angegriffenen deutschen Europaabgeordneten Martin Schulz:
Ich sage Ihnen nur eines dazu: Mein Respekt vor den Opfern des Faschismus verbietet mir, darauf auch nur mit einem Wort einzugehen. Aber mir ist klar geworden, dass es schwierig ist zu akzeptieren, dass ein Ratspräsident, der sein Amt ausübt, wenn er mit der geringsten widersprüchlichen Debatte konfrontiert wird, seine Contenance in dieser Form verliert.
Martin Schulz hatte Berlusconi in aller Öffentlichkeit vor laufenden Kameras und Mikrofonen demaskiert. Es war der Anfang einer völlig verkorksten Europäischen Ratspräsidentschaft des umstrittenen italienischen Regierungschefs. Der Herrscher über Italiens Medien stieß an seine Grenzen und musste erfahren, welches Selbstbewusstsein nicht nur hinter einzelnen Europaabgeordneten steckt, sondern hinter dem ganzen Europäischen Parlament. Vorbei die Zeiten, in denen nur die politischen Opas nach Straßburg geschickt wurden, die Versorgungsfälle. Für Martin Schulz und für eine Reihe anderer ist das EU-Parlament inzwischen zum politischen Sprungbrett geworden. Das Europäische Parlament ist nicht mehr nur beratendes Organ, ein bloßer Debattierclub oder - wie es bis vor kurzem noch Brüsseler Korrespondenten sahen - eine Quasselbude. Die Europaabgeordneten mischen inzwischen handfest mit im Machtdreieck zwischen der Europäischen Kommission in Brüssel, dem Ministerrat der nationalen Regierungen und eben dem Europäischen Parlament mit Sitz in Straßburg. Viel hat sich getan in den 25 Jahren seit der ersten Direktwahl 1979. Mit dabei damals wie heute der SPD-Abgeordnete Klaus Hänsch, in den neunziger Jahren Präsident des Europäischen Parlaments und eine seine herausragenden Persönlichkeiten:
Wenn ich mir überlege, wie das war, als wir anfingen, dass wir eben in den ersten Jahren in der Tat da ein reines Resolutionsparlament waren, das nichts anderes machen konnte als Resolutionen verfassen über alle möglichen Dinge in der Welt. Das hat sich ja alles dramatisch geändert. Wenn ich sehe, welche Aufmerksamkeit Interessengruppen aller Art der Arbeit des Europäischen Parlaments inzwischen zuwenden, nicht weil sie uns schön finden, sondern weil sie wissen, hier, nicht nur, aber auch hier fallen Entscheidungen, dann sind das alles Unterschiede wie Tag und Nacht zwischen 1979 und heute.
Gerade in den letzten zehn Jahren hat das Europäische Parlament an Macht und Einfluss enorm zugelegt. Der Ende 1993 in Kraft getretene Vertrag von Maastricht war ein Meilenstein. Zum ersten Mal wurde dem Parlament eingeräumt, nicht nur zu beraten, sondern auch mit zu entscheiden. Dieser Zuwachs an Kompetenz setzte sich auch bei den Verträgen von Amsterdam und Nizza kontinuierlich fort. In dieser Zeit wurde der Schritt von der nur beratenden Versammlung hin zu einem echten Parlament vollzogen, das kontrolliert und Gesetze maßgeblich mit vorbereitet und beschließt.
Geht es um den Haushalt, den Binnenmarkt, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, Umwelt und Verbraucherschutz oder Forschung - ohne das Europäische Parlament läuft in diesen und anderen Bereichen inzwischen nichts mehr. Der Vizepräsident des Europäischen Parlaments, der CSU-Politiker Ingo Friedrich zur Machtfrage in der Europäischen Union:
Der Bürger denkt nach wie vor, dass es primär die Kommission ist. Also meine Machtverteilungsanalyse sagte eher: Die Kommission hat natürlich das Vorschlagsrecht, was sie nicht vorschlägt, kann nicht gemacht werden. Der Ministerrat ist nach wie vor sehr maßgeblich. Aber in diesem Dreier-Spiel würde ich inzwischen sagen: Ein Fünftel Einfluss der Kommmission und fünfzig Prozent Ministerrat mit abnehmender Tendenz. Und heute dreißig Prozent Europäisches Parlament. Eine ganz grobe Zielrichtung, ein Stand von heute.
Und die Zeit spielt weiter für die Europäische Volksvertretung. In der geplanten EU-Verfassung wird das Europäische Parlament auch nominell als Gesetzgeber in den gleichen Rang wie der Ministerrat gehoben. Die EU-Kommission wird dem Parlament noch stärker politisch verantwortlich, der Kommissionspräsident benötigt eine Mehrheit der Europaabgeordneten hinter sich. Das Europäische Parlament wird wieder einmal zu den klaren Gewinnern des neuen Vertragswerkes gehören. Und es hat auch selbst einiges dafür getan. Nicht nur, dass im Parlament schon seit Jahren von einer solchen Verfassung öffentlich geträumt wurde. Auch sofort nach dem offensichtlichen Misserfolg der Regierungskonferenz von Nizza im Dezember 2000, die die Europäische Union eigentlich schon fit machen sollte für die EU-Erweiterung, forderten die Europaparlamentarier Konsequenzen. Mit Hartnäckigkeit und Herz setzen sie sich dafür ein, die Methode des Gipfel-Geschachers bei den Zukunftsfragen der EU zu beenden. Ähnlich wie bei der Grundrechtecharta unter Roman Herzog sollte künftig auch bei den Vertragsreformen im Konvent beraten werden. Vor allem die Europäischen Christdemokraten ließen nicht locker. Ihr Fraktionschef im Europäischen Parlament, der deutsche CDU-Politiker Hans-Gert Pöttering schon wenige Wochen nach dem Gipfel von Nizza im Straßburger Plenum:
Die Systematik der Regierungskonferenz, einer Konferenz, die sich über Wochen und Monate hinschleppt, muss der Vergangenheit angehören. Und das ist kein Modell für die Zukunft - und wir sind entschiedene Gegner, am alten System festzuhalten. Zweitens: Wir fordern Sie auf, dass wir eine Konferenz einsetzen, die sich an der Methodik und an dem Modell des Konventes orientiert, unter starker Beteiligung des Europäischen Parlaments und natürlich der nationalen Abgeordneten, der Regierungen und vor allen Dingen auch der Kommission.
Und genauso, wie es EVP-Fraktionschef Pöttering im Januar 2001 beschrieben hatte, kam es dann auch. Ergebnis war der Verfassungskonvent unter der Leitung des Franzosen Giscard d'Estaing, die Grundlage für die geplante EU-Verfassung.
Gerne wird im Europäischen Parlament über die Institutionen und über die Zukunft Europas gesprochen, über die immer noch dürftige gemeinsame Außenpolitik oder über Verfahrensfragen. Aber die Europaabgeordneten reden nicht nur über die hohe Politik. Ihre Alltagsarbeit besteht darin, europäische Gesetze zu machen. Und hier müssen die EU-Parlamentarier konkret werden. Beispiel: Die Elektroschrott-Richtlinie. Der nordrhein-westfälische Europaabgeordnete Karl-Heinz Florenz, selbst gelernter Kaufmann und Landwirtschaftsmeister, trug im Umweltausschuss des Europäischen Parlaments entscheidend dazu bei, dass die Hersteller nun europaweit dafür verantwortlich sind, ihre Geräte - etwa bei den Elektroartikeln - auf eigene Kosten zu entsorgen. Der CDU-Politiker zur Bedeutung der Richtlinie:
Der Elektroschrott, sechs Millionen Tonnen im Jahr, birgt Riesen-Ressourcen an wieder verwertbaren Edelmetallen, aber auch an Kunststoffen. Und die wollen wir im Sinne der Nachhaltigkeit wiedergewinnen für die nächste Generation. Wir haben da, meiner Meinung nach, auch einen Beitrag für mehr Umweltschutz gemacht.
Gerade ist die Bundesregierung dabei, diese nach jahrelangen Beratungen zwischen der EU-Kommission, den nationalen Regierungen im Ministerrat und dem Europäischen Parlament zustande gekommene Elektroschrott-Richtlinie umzusetzen. Sei es bei der Abfallverwertung, beim Verbot von Tierversuchen für Kosmetika oder beim effizienten Vorgehen gegen BSE, SARS oder die Maul- und Klauenseuche. Die Europaparlamentarier setzen sich in der Regel wesentlich engagierter für den Schutz der europäischen Verbraucher, ihrer Interessen und ihrer Gesundheit ein, als dies die Vertreter der nationalen Regierungen im Brüsseler Ministerrat tun. Die Berliner SPD-Europaabgeordnete Dagmar Roth-Berendt etwa ist in Straßburg und Brüssel bei ihren europäischen Kollegen für ihre klare Sprache bekannt wie zuletzt in einer Debatte über die asiatische Hühnergrippe.
Was mich stört, ist die ewige Reaktion. Wir sind immer reaktiv. Wir haben eine Geflügelpest: Wir reagieren. Dann ist irgendwie lange Zeit nichts mehr oder gar nichts mehr... Wir sagen das immer wieder als Europäisches Parlament - dann wüsste ich gerne einmal: Wie wird das denn am Kommissionstisch diskutiert? Wenn wir Herrn Lamy bitten bei Diskussion zur Welthandelsorganisation, Verbraucherschutz, Hygienepolitik als eine der Prioritäten auch in den Verhandlungen mit Drittländern zu diskutieren, dann weiß ich, dass das Maximale das ist, ein warmes Lächeln zu bekommen, da können wir schon zufrieden sein.
Bei Gesundheit und Verbraucherschutz sind eher die Empfindlichkeiten der deutschen Bürger berührt. Entsprechend treten in diesen Debatten auch die deutschen Europaparlamentarier im Plenum stärker in Erscheinung. Bei Kosmetika oder Käse sind es die Franzosen, der Alpentransit regt vor allem die Österreicher auf, und die Schweden blockieren immer dann, wenn sie den von ihnen hoch geschätzten Sozialstaat in Gefahr sehen. Insgesamt verläuft die inhaltliche Arbeit im Europäischen Parlament aber immer weniger entlang der nationalen Grenzen. Die politischen Familien spielen auch in Europa eine immer wichtiger werdende Rolle. Da ist zum einen die christdemokratische Europäische Volkspartei, die EVP. Ihre Fraktion im EU-Parlament stellt mehr als ein Drittel der bislang 626 Abgeordneten. Der deutsche Fraktionschef Hans-Gert Pöttering von der CDU hat gerade jetzt im Vorfeld der Europawahl alle Hände voll zu tun, seine Formation zusammenzuhalten. Zur Europäischen Volkspartei gehören so unterschiedliche Gruppierungen wie die Berlusconis Forza Italia, die euroskeptischen Tories aus Großbritannien, US-freundliche spanische Konservative und die deutschen CDU- und CSU-Politiker. - Die andere große Fraktion ist die der Sozialdemokraten. Auch bei ihnen liegen manchmal Welten zwischen Blairs eher liberalen Labourabgeordneten und ihren gewerkschaftsnahen Kollegen in Frankreich oder Italien. Doch ob Sozialdemokraten, Europäische Volkspartei, Liberale, Grüne oder Vereinigte Linke, die Parteibündnisse werden immer wichtiger und tragen so wesentlich zur Europäisierung der Politik in der EU bei. Bekannte Gesichter helfen dabei. Die Grünen etwa im Europäischen Parlament sind nicht zuletzt wegen ihres umtriebigen Fraktionschefs Daniel Cohn-Bendit zu einer festen politischen Größe aufgestiegen. Der bislang für Frankreich im Parlament sitzende Deutsche ist bei der kommenden Europawahl grüner Spitzenkandidat in Deutschland und sorgt immer wieder für Stimmung im Parlament, etwa wenn er - wie kein anderer - dem EU-Kommissionspräsidenten eine Standpauke in Sachen Stabilitätspakt hält:
Herr Präsident Prodi, Sie waren ein Held, weil Sie gesagt haben, dieser Stabilitätspakt ist Unsinn. Ihre Entscheidung, den Rat anzugreifen, ist Unsinn...Eine Regel zu verteidigen, die nicht funktioniert, ist genauso dumm wie eine Regel, die dumm ist. Das müssen wir uns alle endlich 'mal sagen. Ich bedanke mich.
Auch der guten Humor schätzende irische EU-Parlamentspräsident Cox schüttelt sich da vor Lachen. Diese rhetorischen Highlights entschädigen die Europaabgeordneten für die stundenlangen, oft gähnend langweiligen Spätsitzungen im Plenum oder für die endlosen Diskussionen in den Ausschüssen und Fraktionen. Aber auch für die Beschwerlichkeiten ihres Jobs. Stressfaktor Nummer eins ist der ewige Wanderzirkus zwischen Straßburg, Brüssel, den nationalen Hauptstädten und den heimatlichen Wahlkreisen. Doch obwohl immer mehr Europaparlamentarier keinen Hehl daraus machen, dass sie lieber nur in Brüssel tagen würden, waren alle bisherigen Angriffe gegen den vertraglich festgelegten Parlamentssitz Straßburg vergebens. Die Bürger wundert es, wenn sie etwa beim Besuch im Straßburger EU-Parlament außerhalb der Sitzungswochen in den leeren Plenarsaal starren. Der Prachtbau in der elsässischen Europastadt wird nur an 48 Tagen im Jahr wirklich von den Parlamentariern benutzt. Das kratzt am Image der europäischen Volksvertreter, die in dieser Hinsicht sowieso einen schweren Stand haben. Gerade in den letzten Monaten mussten sie sich in der deutschen Presse immer wieder den Vorwurf gefallen lassen, die Europaabgeordneten seien doch im Grunde nur hinter dem vielen Geld der europäischen Institutionen her. Reisekosten - das ist kein Geheimnis - werden bekanntermaßen äußerst großzügig abgerechnet, für eine Unterschrift in der täglichen Anwesenheitsliste gibt es 262 Euro, egal, was so ein Abgeordneter an seinem Tag genau macht, und dann wollten sich die Europaabgeordneten noch eine Einheitsdiät von rund 9.000 Euro gönnen. Auch wenn diese Vorwürfe oft aus dem Zusammenhang gerissen und manchmal wohl sogar bewusst verzerrt dargestellt wurden: Die Glaubwürdigkeit der Europaabgeordneten hat Schaden genommen. Das ärgert die vielen fleißigen Parlamentarier, etwa die baden-württembergische Grüne Heide Rühle:
Also normalerweise arbeitet ein Abgeordneter, der seine Arbeit ernst nimmt, hier siebzig bis achtzig Stunden in der Woche. Wir sind ja nicht nur hier in Brüssel und Straßburg. Wir machen am Wochenende dann die Arbeit zu Hause, in den Wahlkreisen, in der Partei. Also wir haben keinen Feierabend.
Vielen ist klar, dass es in den europäischen Institutionen und auch beim EU-Parlament Grauzonen gibt, dass die Spesenpraxis und die Abgeordnetendiäten unbefriedigend geregelt sind. Trotzdem werfen die Abgeordneten gerade der deutschen Presse vor, durch pauschalisierende und verzerrte Darstellungen den Ruf der Europaabgeordneten nachhaltig beschädigt zu haben. Der Europaabgeordnete Klaus Hänsch:
Was eben einen viel größeren Schaden stiftet, das ist das kampagnenmäßige Vorgehen einiger Presseorgane, das nicht zum Ziel hat, Missstände zu beseitigen, sondern das Europäische Parlament und damit ein demokratisch gewähltes Organ in der Europäischen Union schlichtweg zu diskreditieren.
Gerade bei der Diskussion ums Geld wird deutlich, dass in den europäischen Institutionen immer wieder verschiedene politische Kulturen aufeinander stoßen. Während die Deutschen, aber auch Niederländer aufs Sparen drängen, die Skandinavier möglichst viel Transparenz wollen, ist es in Großbritannien kein Problem, Familienangehörige auf Parlamentskosten zu beschäftigen. Die Spesen sind in Frankreich kein Thema, und in Italien streichen die Europaabgeordneten mit rund elftausend Euro die fettesten Abgeordnetendiäten ein. Diese kulturellen Unterschiede werden sich nun noch verstärken. Mit den zehn neuen Mitgliedern aus Süd- und Osteuropa werden die Differenzen nicht nur beim Geld noch krasser. Das Parlament wächst auf über 700 Abgeordnete an. Alle Redner, alle Dokumente müssen in zwanzig Amtssprachen übersetzt werden. Und auch bei der politischen Arbeit wird sich zunächst etwas verändern. Die Parlamentarier aus den Beitrittsstaaten sind selbstbewusst. Das haben sie in dem einen Jahr gezeigt, das sie bereits vor der Erweiterung als Beobachter im Parlament verbracht haben - wie etwa der erst 29 Jahre alte Zoltan Bagó von der christdemokratischen ungarischen Volkspartei Fidesz. In seinem kleinen Straßburger Parlamentsbüro beschreibt er, warum die Aufnahme Ungarns ein Gewinn für das Europäische Parlament ist:
Das ungarische Volk - ein sehr stolzes Volk mit sehr großer und sehr interessanter Historie. Wir sind energisch. Wir sind ein sehr kreatives Volk, ein sehr innovatives Volk, und wir haben sehr große und sehr starke Traditionen.
Mit den Parlamentariern aus den neuen Mitgliedsländern könnten sich die nationalen Töne in Fraktionen, Ausschüssen oder im Plenum zunächst einmal verstärken. Das Europäische Parlament wird einige Jahre brauchen, um die Bürgervertreter aus Ungarn, Polen, Litauen oder Malta die Kunst des europäischen Kompromisses zu lehren. Doch das ist eine Grunderfahrung durch die auch die Gründungsmitglieder der Europäischen Gemeinschaft damals selbst durchmussten. Parlamentsvizepräsident Ingo Friedrich, seit 25 Jahren in Straßburg und Brüssel dabei, zu seinen ersten Erfahrungen auf dem Parkett des Europäischen Parlaments:
Also ich kann mich noch erinnern, in den ersten Jahren war für uns damals der italienische Stil, zu diskutieren, fast unglaublich. Für einen preußisch schnell redenden Menschen aus Bayern waren italienische Beiträge oft gekennzeichnet vom unglaublichen ständigen Reden um den heißen Brei ohne zum Kern zu kommen. Umgekehrt haben die italienischen Freunde uns oft wie Panzer verstanden, die ohne Rücksichtnahme - zack - sofort in den Kern vorstoßen, ohne irgendwelche höfliche Floskeln da von sich zu geben. Die neuen Kollegen neigen dazu, sehr aus nationaler Sicht zu reden. Ich gehe aber davon aus, dass das ein Lernprozess ist, dass man hier überzeugen eigentlich nur kann, wenn man auch die europäische Dimension mit einbaut und nicht nur auf ein einziges Land rekuperiert.
Dem Europäische Parlament kommt nicht nur gesetzgeberisch, sondern auch bei der Angleichung der politischen Kulturen eine Schlüsselfunktion im zusammenwachsenden Europa zu. Viele lang gehegte Vorurteile gegenüber den europäischen Nachbarn werden schon dadurch aus der Welt geschafft, dass man sich regelmäßig trifft, zusammen arbeitet oder auch feiert. Anders als der hierarchisch strukturierte Beamtenapparat der EU-Kommission und der von nationalen Egoismen dominierte Ministerrat wirkt im EU-Parlament eine wirklich europäische Kraft. Mit jedem Schritt, mit dem das Europäische Parlament weiter ins Zentrum der EU-Politik rückt, wird die jetzige 25er-Gemeinschaft ein Stück europäischer.
Martin Schulz, Buchhändler aus Nordrhein-Westfalen und seit einiger Zeit Chef der deutschen SPD-Abgeordneten im Europäischen Parlament, war bis zu diesem Tag im Juli 2003 in Deutschland nicht sonderlich bekannt. Das änderte sich schlagartig, als der wütende Berlusconi sich zu einem seiner schlechten Witze verleiten ließ:
In Italien wird zur Zeit ein Film über Konzentrationslager vorbereitet. Herr Schulz, ich schlage Sie für die Rolle des Kapos, des KZ-Schergen vor.
Ungläubiges Schweigen im Europäischen Parlament nach diesem Nazi-Vergleich des amtierenden EU-Ratspräsidenten. Es folgten tumultartige Szenen im Straßburger Plenum, Proteste von allen Fraktionen, und schließlich die selbstbewusste Antwort des so persönlich angegriffenen deutschen Europaabgeordneten Martin Schulz:
Ich sage Ihnen nur eines dazu: Mein Respekt vor den Opfern des Faschismus verbietet mir, darauf auch nur mit einem Wort einzugehen. Aber mir ist klar geworden, dass es schwierig ist zu akzeptieren, dass ein Ratspräsident, der sein Amt ausübt, wenn er mit der geringsten widersprüchlichen Debatte konfrontiert wird, seine Contenance in dieser Form verliert.
Martin Schulz hatte Berlusconi in aller Öffentlichkeit vor laufenden Kameras und Mikrofonen demaskiert. Es war der Anfang einer völlig verkorksten Europäischen Ratspräsidentschaft des umstrittenen italienischen Regierungschefs. Der Herrscher über Italiens Medien stieß an seine Grenzen und musste erfahren, welches Selbstbewusstsein nicht nur hinter einzelnen Europaabgeordneten steckt, sondern hinter dem ganzen Europäischen Parlament. Vorbei die Zeiten, in denen nur die politischen Opas nach Straßburg geschickt wurden, die Versorgungsfälle. Für Martin Schulz und für eine Reihe anderer ist das EU-Parlament inzwischen zum politischen Sprungbrett geworden. Das Europäische Parlament ist nicht mehr nur beratendes Organ, ein bloßer Debattierclub oder - wie es bis vor kurzem noch Brüsseler Korrespondenten sahen - eine Quasselbude. Die Europaabgeordneten mischen inzwischen handfest mit im Machtdreieck zwischen der Europäischen Kommission in Brüssel, dem Ministerrat der nationalen Regierungen und eben dem Europäischen Parlament mit Sitz in Straßburg. Viel hat sich getan in den 25 Jahren seit der ersten Direktwahl 1979. Mit dabei damals wie heute der SPD-Abgeordnete Klaus Hänsch, in den neunziger Jahren Präsident des Europäischen Parlaments und eine seine herausragenden Persönlichkeiten:
Wenn ich mir überlege, wie das war, als wir anfingen, dass wir eben in den ersten Jahren in der Tat da ein reines Resolutionsparlament waren, das nichts anderes machen konnte als Resolutionen verfassen über alle möglichen Dinge in der Welt. Das hat sich ja alles dramatisch geändert. Wenn ich sehe, welche Aufmerksamkeit Interessengruppen aller Art der Arbeit des Europäischen Parlaments inzwischen zuwenden, nicht weil sie uns schön finden, sondern weil sie wissen, hier, nicht nur, aber auch hier fallen Entscheidungen, dann sind das alles Unterschiede wie Tag und Nacht zwischen 1979 und heute.
Gerade in den letzten zehn Jahren hat das Europäische Parlament an Macht und Einfluss enorm zugelegt. Der Ende 1993 in Kraft getretene Vertrag von Maastricht war ein Meilenstein. Zum ersten Mal wurde dem Parlament eingeräumt, nicht nur zu beraten, sondern auch mit zu entscheiden. Dieser Zuwachs an Kompetenz setzte sich auch bei den Verträgen von Amsterdam und Nizza kontinuierlich fort. In dieser Zeit wurde der Schritt von der nur beratenden Versammlung hin zu einem echten Parlament vollzogen, das kontrolliert und Gesetze maßgeblich mit vorbereitet und beschließt.
Geht es um den Haushalt, den Binnenmarkt, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, Umwelt und Verbraucherschutz oder Forschung - ohne das Europäische Parlament läuft in diesen und anderen Bereichen inzwischen nichts mehr. Der Vizepräsident des Europäischen Parlaments, der CSU-Politiker Ingo Friedrich zur Machtfrage in der Europäischen Union:
Der Bürger denkt nach wie vor, dass es primär die Kommission ist. Also meine Machtverteilungsanalyse sagte eher: Die Kommission hat natürlich das Vorschlagsrecht, was sie nicht vorschlägt, kann nicht gemacht werden. Der Ministerrat ist nach wie vor sehr maßgeblich. Aber in diesem Dreier-Spiel würde ich inzwischen sagen: Ein Fünftel Einfluss der Kommmission und fünfzig Prozent Ministerrat mit abnehmender Tendenz. Und heute dreißig Prozent Europäisches Parlament. Eine ganz grobe Zielrichtung, ein Stand von heute.
Und die Zeit spielt weiter für die Europäische Volksvertretung. In der geplanten EU-Verfassung wird das Europäische Parlament auch nominell als Gesetzgeber in den gleichen Rang wie der Ministerrat gehoben. Die EU-Kommission wird dem Parlament noch stärker politisch verantwortlich, der Kommissionspräsident benötigt eine Mehrheit der Europaabgeordneten hinter sich. Das Europäische Parlament wird wieder einmal zu den klaren Gewinnern des neuen Vertragswerkes gehören. Und es hat auch selbst einiges dafür getan. Nicht nur, dass im Parlament schon seit Jahren von einer solchen Verfassung öffentlich geträumt wurde. Auch sofort nach dem offensichtlichen Misserfolg der Regierungskonferenz von Nizza im Dezember 2000, die die Europäische Union eigentlich schon fit machen sollte für die EU-Erweiterung, forderten die Europaparlamentarier Konsequenzen. Mit Hartnäckigkeit und Herz setzen sie sich dafür ein, die Methode des Gipfel-Geschachers bei den Zukunftsfragen der EU zu beenden. Ähnlich wie bei der Grundrechtecharta unter Roman Herzog sollte künftig auch bei den Vertragsreformen im Konvent beraten werden. Vor allem die Europäischen Christdemokraten ließen nicht locker. Ihr Fraktionschef im Europäischen Parlament, der deutsche CDU-Politiker Hans-Gert Pöttering schon wenige Wochen nach dem Gipfel von Nizza im Straßburger Plenum:
Die Systematik der Regierungskonferenz, einer Konferenz, die sich über Wochen und Monate hinschleppt, muss der Vergangenheit angehören. Und das ist kein Modell für die Zukunft - und wir sind entschiedene Gegner, am alten System festzuhalten. Zweitens: Wir fordern Sie auf, dass wir eine Konferenz einsetzen, die sich an der Methodik und an dem Modell des Konventes orientiert, unter starker Beteiligung des Europäischen Parlaments und natürlich der nationalen Abgeordneten, der Regierungen und vor allen Dingen auch der Kommission.
Und genauso, wie es EVP-Fraktionschef Pöttering im Januar 2001 beschrieben hatte, kam es dann auch. Ergebnis war der Verfassungskonvent unter der Leitung des Franzosen Giscard d'Estaing, die Grundlage für die geplante EU-Verfassung.
Gerne wird im Europäischen Parlament über die Institutionen und über die Zukunft Europas gesprochen, über die immer noch dürftige gemeinsame Außenpolitik oder über Verfahrensfragen. Aber die Europaabgeordneten reden nicht nur über die hohe Politik. Ihre Alltagsarbeit besteht darin, europäische Gesetze zu machen. Und hier müssen die EU-Parlamentarier konkret werden. Beispiel: Die Elektroschrott-Richtlinie. Der nordrhein-westfälische Europaabgeordnete Karl-Heinz Florenz, selbst gelernter Kaufmann und Landwirtschaftsmeister, trug im Umweltausschuss des Europäischen Parlaments entscheidend dazu bei, dass die Hersteller nun europaweit dafür verantwortlich sind, ihre Geräte - etwa bei den Elektroartikeln - auf eigene Kosten zu entsorgen. Der CDU-Politiker zur Bedeutung der Richtlinie:
Der Elektroschrott, sechs Millionen Tonnen im Jahr, birgt Riesen-Ressourcen an wieder verwertbaren Edelmetallen, aber auch an Kunststoffen. Und die wollen wir im Sinne der Nachhaltigkeit wiedergewinnen für die nächste Generation. Wir haben da, meiner Meinung nach, auch einen Beitrag für mehr Umweltschutz gemacht.
Gerade ist die Bundesregierung dabei, diese nach jahrelangen Beratungen zwischen der EU-Kommission, den nationalen Regierungen im Ministerrat und dem Europäischen Parlament zustande gekommene Elektroschrott-Richtlinie umzusetzen. Sei es bei der Abfallverwertung, beim Verbot von Tierversuchen für Kosmetika oder beim effizienten Vorgehen gegen BSE, SARS oder die Maul- und Klauenseuche. Die Europaparlamentarier setzen sich in der Regel wesentlich engagierter für den Schutz der europäischen Verbraucher, ihrer Interessen und ihrer Gesundheit ein, als dies die Vertreter der nationalen Regierungen im Brüsseler Ministerrat tun. Die Berliner SPD-Europaabgeordnete Dagmar Roth-Berendt etwa ist in Straßburg und Brüssel bei ihren europäischen Kollegen für ihre klare Sprache bekannt wie zuletzt in einer Debatte über die asiatische Hühnergrippe.
Was mich stört, ist die ewige Reaktion. Wir sind immer reaktiv. Wir haben eine Geflügelpest: Wir reagieren. Dann ist irgendwie lange Zeit nichts mehr oder gar nichts mehr... Wir sagen das immer wieder als Europäisches Parlament - dann wüsste ich gerne einmal: Wie wird das denn am Kommissionstisch diskutiert? Wenn wir Herrn Lamy bitten bei Diskussion zur Welthandelsorganisation, Verbraucherschutz, Hygienepolitik als eine der Prioritäten auch in den Verhandlungen mit Drittländern zu diskutieren, dann weiß ich, dass das Maximale das ist, ein warmes Lächeln zu bekommen, da können wir schon zufrieden sein.
Bei Gesundheit und Verbraucherschutz sind eher die Empfindlichkeiten der deutschen Bürger berührt. Entsprechend treten in diesen Debatten auch die deutschen Europaparlamentarier im Plenum stärker in Erscheinung. Bei Kosmetika oder Käse sind es die Franzosen, der Alpentransit regt vor allem die Österreicher auf, und die Schweden blockieren immer dann, wenn sie den von ihnen hoch geschätzten Sozialstaat in Gefahr sehen. Insgesamt verläuft die inhaltliche Arbeit im Europäischen Parlament aber immer weniger entlang der nationalen Grenzen. Die politischen Familien spielen auch in Europa eine immer wichtiger werdende Rolle. Da ist zum einen die christdemokratische Europäische Volkspartei, die EVP. Ihre Fraktion im EU-Parlament stellt mehr als ein Drittel der bislang 626 Abgeordneten. Der deutsche Fraktionschef Hans-Gert Pöttering von der CDU hat gerade jetzt im Vorfeld der Europawahl alle Hände voll zu tun, seine Formation zusammenzuhalten. Zur Europäischen Volkspartei gehören so unterschiedliche Gruppierungen wie die Berlusconis Forza Italia, die euroskeptischen Tories aus Großbritannien, US-freundliche spanische Konservative und die deutschen CDU- und CSU-Politiker. - Die andere große Fraktion ist die der Sozialdemokraten. Auch bei ihnen liegen manchmal Welten zwischen Blairs eher liberalen Labourabgeordneten und ihren gewerkschaftsnahen Kollegen in Frankreich oder Italien. Doch ob Sozialdemokraten, Europäische Volkspartei, Liberale, Grüne oder Vereinigte Linke, die Parteibündnisse werden immer wichtiger und tragen so wesentlich zur Europäisierung der Politik in der EU bei. Bekannte Gesichter helfen dabei. Die Grünen etwa im Europäischen Parlament sind nicht zuletzt wegen ihres umtriebigen Fraktionschefs Daniel Cohn-Bendit zu einer festen politischen Größe aufgestiegen. Der bislang für Frankreich im Parlament sitzende Deutsche ist bei der kommenden Europawahl grüner Spitzenkandidat in Deutschland und sorgt immer wieder für Stimmung im Parlament, etwa wenn er - wie kein anderer - dem EU-Kommissionspräsidenten eine Standpauke in Sachen Stabilitätspakt hält:
Herr Präsident Prodi, Sie waren ein Held, weil Sie gesagt haben, dieser Stabilitätspakt ist Unsinn. Ihre Entscheidung, den Rat anzugreifen, ist Unsinn...Eine Regel zu verteidigen, die nicht funktioniert, ist genauso dumm wie eine Regel, die dumm ist. Das müssen wir uns alle endlich 'mal sagen. Ich bedanke mich.
Auch der guten Humor schätzende irische EU-Parlamentspräsident Cox schüttelt sich da vor Lachen. Diese rhetorischen Highlights entschädigen die Europaabgeordneten für die stundenlangen, oft gähnend langweiligen Spätsitzungen im Plenum oder für die endlosen Diskussionen in den Ausschüssen und Fraktionen. Aber auch für die Beschwerlichkeiten ihres Jobs. Stressfaktor Nummer eins ist der ewige Wanderzirkus zwischen Straßburg, Brüssel, den nationalen Hauptstädten und den heimatlichen Wahlkreisen. Doch obwohl immer mehr Europaparlamentarier keinen Hehl daraus machen, dass sie lieber nur in Brüssel tagen würden, waren alle bisherigen Angriffe gegen den vertraglich festgelegten Parlamentssitz Straßburg vergebens. Die Bürger wundert es, wenn sie etwa beim Besuch im Straßburger EU-Parlament außerhalb der Sitzungswochen in den leeren Plenarsaal starren. Der Prachtbau in der elsässischen Europastadt wird nur an 48 Tagen im Jahr wirklich von den Parlamentariern benutzt. Das kratzt am Image der europäischen Volksvertreter, die in dieser Hinsicht sowieso einen schweren Stand haben. Gerade in den letzten Monaten mussten sie sich in der deutschen Presse immer wieder den Vorwurf gefallen lassen, die Europaabgeordneten seien doch im Grunde nur hinter dem vielen Geld der europäischen Institutionen her. Reisekosten - das ist kein Geheimnis - werden bekanntermaßen äußerst großzügig abgerechnet, für eine Unterschrift in der täglichen Anwesenheitsliste gibt es 262 Euro, egal, was so ein Abgeordneter an seinem Tag genau macht, und dann wollten sich die Europaabgeordneten noch eine Einheitsdiät von rund 9.000 Euro gönnen. Auch wenn diese Vorwürfe oft aus dem Zusammenhang gerissen und manchmal wohl sogar bewusst verzerrt dargestellt wurden: Die Glaubwürdigkeit der Europaabgeordneten hat Schaden genommen. Das ärgert die vielen fleißigen Parlamentarier, etwa die baden-württembergische Grüne Heide Rühle:
Also normalerweise arbeitet ein Abgeordneter, der seine Arbeit ernst nimmt, hier siebzig bis achtzig Stunden in der Woche. Wir sind ja nicht nur hier in Brüssel und Straßburg. Wir machen am Wochenende dann die Arbeit zu Hause, in den Wahlkreisen, in der Partei. Also wir haben keinen Feierabend.
Vielen ist klar, dass es in den europäischen Institutionen und auch beim EU-Parlament Grauzonen gibt, dass die Spesenpraxis und die Abgeordnetendiäten unbefriedigend geregelt sind. Trotzdem werfen die Abgeordneten gerade der deutschen Presse vor, durch pauschalisierende und verzerrte Darstellungen den Ruf der Europaabgeordneten nachhaltig beschädigt zu haben. Der Europaabgeordnete Klaus Hänsch:
Was eben einen viel größeren Schaden stiftet, das ist das kampagnenmäßige Vorgehen einiger Presseorgane, das nicht zum Ziel hat, Missstände zu beseitigen, sondern das Europäische Parlament und damit ein demokratisch gewähltes Organ in der Europäischen Union schlichtweg zu diskreditieren.
Gerade bei der Diskussion ums Geld wird deutlich, dass in den europäischen Institutionen immer wieder verschiedene politische Kulturen aufeinander stoßen. Während die Deutschen, aber auch Niederländer aufs Sparen drängen, die Skandinavier möglichst viel Transparenz wollen, ist es in Großbritannien kein Problem, Familienangehörige auf Parlamentskosten zu beschäftigen. Die Spesen sind in Frankreich kein Thema, und in Italien streichen die Europaabgeordneten mit rund elftausend Euro die fettesten Abgeordnetendiäten ein. Diese kulturellen Unterschiede werden sich nun noch verstärken. Mit den zehn neuen Mitgliedern aus Süd- und Osteuropa werden die Differenzen nicht nur beim Geld noch krasser. Das Parlament wächst auf über 700 Abgeordnete an. Alle Redner, alle Dokumente müssen in zwanzig Amtssprachen übersetzt werden. Und auch bei der politischen Arbeit wird sich zunächst etwas verändern. Die Parlamentarier aus den Beitrittsstaaten sind selbstbewusst. Das haben sie in dem einen Jahr gezeigt, das sie bereits vor der Erweiterung als Beobachter im Parlament verbracht haben - wie etwa der erst 29 Jahre alte Zoltan Bagó von der christdemokratischen ungarischen Volkspartei Fidesz. In seinem kleinen Straßburger Parlamentsbüro beschreibt er, warum die Aufnahme Ungarns ein Gewinn für das Europäische Parlament ist:
Das ungarische Volk - ein sehr stolzes Volk mit sehr großer und sehr interessanter Historie. Wir sind energisch. Wir sind ein sehr kreatives Volk, ein sehr innovatives Volk, und wir haben sehr große und sehr starke Traditionen.
Mit den Parlamentariern aus den neuen Mitgliedsländern könnten sich die nationalen Töne in Fraktionen, Ausschüssen oder im Plenum zunächst einmal verstärken. Das Europäische Parlament wird einige Jahre brauchen, um die Bürgervertreter aus Ungarn, Polen, Litauen oder Malta die Kunst des europäischen Kompromisses zu lehren. Doch das ist eine Grunderfahrung durch die auch die Gründungsmitglieder der Europäischen Gemeinschaft damals selbst durchmussten. Parlamentsvizepräsident Ingo Friedrich, seit 25 Jahren in Straßburg und Brüssel dabei, zu seinen ersten Erfahrungen auf dem Parkett des Europäischen Parlaments:
Also ich kann mich noch erinnern, in den ersten Jahren war für uns damals der italienische Stil, zu diskutieren, fast unglaublich. Für einen preußisch schnell redenden Menschen aus Bayern waren italienische Beiträge oft gekennzeichnet vom unglaublichen ständigen Reden um den heißen Brei ohne zum Kern zu kommen. Umgekehrt haben die italienischen Freunde uns oft wie Panzer verstanden, die ohne Rücksichtnahme - zack - sofort in den Kern vorstoßen, ohne irgendwelche höfliche Floskeln da von sich zu geben. Die neuen Kollegen neigen dazu, sehr aus nationaler Sicht zu reden. Ich gehe aber davon aus, dass das ein Lernprozess ist, dass man hier überzeugen eigentlich nur kann, wenn man auch die europäische Dimension mit einbaut und nicht nur auf ein einziges Land rekuperiert.
Dem Europäische Parlament kommt nicht nur gesetzgeberisch, sondern auch bei der Angleichung der politischen Kulturen eine Schlüsselfunktion im zusammenwachsenden Europa zu. Viele lang gehegte Vorurteile gegenüber den europäischen Nachbarn werden schon dadurch aus der Welt geschafft, dass man sich regelmäßig trifft, zusammen arbeitet oder auch feiert. Anders als der hierarchisch strukturierte Beamtenapparat der EU-Kommission und der von nationalen Egoismen dominierte Ministerrat wirkt im EU-Parlament eine wirklich europäische Kraft. Mit jedem Schritt, mit dem das Europäische Parlament weiter ins Zentrum der EU-Politik rückt, wird die jetzige 25er-Gemeinschaft ein Stück europäischer.