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Vom Plenarsaal in den Hörsaal

Auch der verlorenen Landtagswahl 2010 ist Ex-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers ein gefragter Mann. Sein Terminkalender ist voll. Neu hinzugekommen ist unter anderem ein Lehrauftrag an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Von Barbara Schmidt-Mattern |
    "Haaallllooo"

    Bonn, vor wenigen Wochen im alten Wasserwerk. Jürgen Rüttgers möchte gerne den letzten – seinen letzten Parteitag als Landesvorsitzender eröffnen – aber die Delegierten schwatzen einfach weiter.

    "Ich hab ja Verständnis für alle, die zwei Stunden gefahren sind und jetzt froh sind, hier zu sein."

    Jeder andere Parteichef wäre beleidigt, aber Rüttgers reißt sich zusammen, ruft zur Tagesordnung auf und verkündet kurz darauf seinen Abschied. 2010 war für ihn ein Annus horribilis. Erst abgewählt, dann abgedankt. All das nagt bis heute an ihm, sagt sein Biograf, der Bonner Politikwissenschaftler Volker Kronenberg:

    "Mein Eindruck ist, dass ihm der Abschied von der Macht sehr schwerfällt. Dass er nicht darauf vorbereitet war, dass so etwas passiert. Dass im Grunde der Sprung vom hohen Podest, von der Gesamtverantwortung für das Land in die Tagespolitik und das klein-klein der Oppositionsarbeit sicherlich eine große Herausforderung für ihn ist."

    In einem Anflug von Offenheit sagt Rüttgers selbst, er brauche weder psychotherapeutische noch theologische Betreuung. Vor dem Mikrofon klingt er freilich weniger beleidigt:

    "Vergangenheit verlässt einen nie. Das ist wie in jedem normalen Leben. Das hat einen geprägt, das hat einen beschäftigt. Das hat einen interessiert. Da gibt’s Sachen, für die man gekämpft hat, die einem wichtig sind. Jetzt haben andere die Verantwortung übernommen."

    Er selbst genießt derweil Einladungen, Empfänge, Vorträge. Sein Terminkalender?

    "Der ist voll!"

    Rüttgers, der im Juni 60 Jahre alt wird, ist nunmehr nur noch einfacher Landtagsabgeordneter. Statt des grandiosen Ausblicks aus der 11. Etage der Düsseldorfer Staatskanzlei hat er jetzt ein Abgeordnetenbüro im sechsten Stock des Landtags. Um hochzukommen, nehme er gerne die Treppe, heißt es. Sportlich-locker schwärmt Rüttgers auch über seine neue Zeit-Souveränität, nur klingt es immer einen Tick zu betont. Ganz offenherzig räumt er hingegen ein, er suche jetzt nach Aufgaben, die ihn neu ausfüllen. Dazu gehört seit dieser Woche eine eigene Vorlesungsreihe an der Universität Bonn.

    "Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Studierenden…"

    Ein überfüllter Hörsaal IX im Hauptgebäude am Bonner Hofgarten. Endlich sind auch die Kamerateams und Fotografen wieder dort, wo Rüttgers ist. Sein Thema an diesem Abend: "Die Herausforderung demokratischer Gesellschaften im 21. Jahrhundert." Die Studenten sind neugierig:

    "Also, ich erwarte eigentlich nicht, dass er uns so viel Neues erzählt, aber ich bin mal gespannt, was er draus macht","

    erzählt Politikstudentin Mareike Schaal. Als Ministerpräsident fand sie Jürgen Rüttgers

    ""nicht so knorke","

    aber diese Zeiten sind ja vorbei. Im Hörsaal möchte der Ministerpräsident a.D. jetzt ein Stück zurückgeben von, Zitat, all dem Schönen, was er in den letzten Jahren habe erfahren dürfen. Die Globalisierung ist sein Thema. Ausgerechnet damit hat Rüttgers keine schönen Erfahrungen gemacht. Den Wahlkampf 2000 verlor er, weil er "Kinder statt Inder" forderte, später Rumänen beschimpfte, und Nokia Staatshilfen überwies, die der Handykonzern dankbar einstrich und dann das Werk in Bochum dichtmachte.

    ""Wir, die Linke Liste, LiLi, stehen dafür ein."

    Ein bisschen Unruhe kommt auf, als die Linke Liste im Hörsaal aufschlägt. Ein Häuflein protestierender Studenten, die all die Patzer und Pannen auf bunten Flugblättern noch einmal aufgelistet haben: Einer der Protestler tritt ans Mikrofon:

    "Entschuldigung, aber ich glaube, so was nennt man Rassismus. Wir sagen: Lehrveranstaltungen über populistische Politiker, nicht von diesen. Dankeschön!"

    Ein bisschen Applaus, doch die meisten Studenten lässt der linke Protest kalt. Ein einsames Plakat ragt später noch aus der letzten Reihe: Rüttgers raus! steht darauf. Den Adressaten ficht das scheinbar nicht an. Jürgen Rüttgers ist kein Meister der Schlagfertigkeit, also sagt er lieber gar nichts, und heftet den Blick stur auf sein Manuskript. Wie soll die Politik denn nun umgehen mit der Globalisierungsangst – fragt Rüttgers die Studenten, und gibt sich selbst die Antwort:

    "Die Ängste entstehen doch nur, wenn ich nicht weiß, was da auf mich zukommt."

    Eine Hand in der Hosentasche des wie immer makellosen Zweiteilers steht Rüttgers ruhig am Pult, doziert über die Finanzkrise, Hartz IV und die Europäische Union und erteilt Ratschläge. Er, der schon zu seiner aktiven politischen Zeit, immer als Theoretiker und Bücherwurm galt, genießt den Rollenwechsel sichtlich. Statt schnelllebiger Interviews, sagt Rüttgers, müsse die Politik auch Weg und Ziel definieren:

    "Früher in den 80er-Jahren gab es dann immer das Deutschlandfunk-Interview mit Graf Lambsdorff, und dann fing alles an zu flattern, dann kamen die Pressestellen, haben dazu Stellung genommen. Irgendwann gegen Mittag stellte sich raus, ob das in die Nachrichten kam oder nicht in die Nachrichten kam. Sie konnten abends das Büro verlassen, und am anderen Tag haben Sie es wieder angefangen."

    Den Studenten gefällt dieser Auftritt – das Echo hinterher ist überwiegend positiv. Das kann man von den Parteifreunden in Düsseldorf nicht gerade behaupten. Die Fraktion ist sauer, seitdem Rüttgers die entscheidende Abstimmung zum Nachtragshaushalt im Dezember wegen eines Vortrags in Rom geschwänzt hat. Auch sonst demonstriert er seine Lustlosigkeit am Abgeordnetendasein. Denkt lieber über eine zweite Promotion nach und hat eine weitere Aufgabe übernommen. Der ehemals selbst ernannte Arbeiterführer Rüttgers gehört jetzt dem Aufsichtsrat einer Dortmunder Investmentfirma an.