Dina Netz: Wir wollen nicht auf 60 Jahre zurückblicken, aber der Kulturteil des "Spiegel" hat ja seit Herbst 2005 einen neuen Chef, Matthias Matussek. Wie würden Sie die Veränderungen beschreiben, die der Kulturteil seitdem erlebt?
René Aguigah: Man kann sagen, dass der Kulturteil des "Spiegel" sich in den letzten Jahren so ein bisschen wegbewegt hat von einer besonderen Lust zur Popkultur und zum Zeitgeistigen und hin zu etwas, was man so Debattenkultur nennen könnte. Also der Kulturchef des Spiegel Wolfgang Höbel, der das bis Mitte 2005 gemacht hat, der ist sehr stark geprägt gewesen vom Zeitgeistmagazin Tempo, wo er auch geschrieben hat, und der hat schon die Strömung Popkultur und Zeitgeistiges im Spiegel eingeführt und stark gemacht, und jetzt mit dem Eintritt von Matussek in die Redaktion von Hamburg beim Spiegel gibt es eine Lust, so starke Thesen breitzutreten und an Debatten teilzunehmen. Vielleicht ein, zwei Beispiele: In diesem Sommer hat sich namentlich Matussek sehr engagiert in der so genannten Patriotismusdebatte, also man hat sich gefragt, wie patriotisch Deutschland während, vor und nach der WM wohl gewesen sei. Nebenbei gesagt, hat Herr Matussek damit auch sein eigenes Buch mit dem Titel "Wir Deutschen" auch großgemacht. Aber solche Themen spielen wieder eine Rolle jetzt. Bodo Strauß sagt was zu Multikulturalismus und der Debatte darum oder jetzt im aktuellen Heft gibt es einen Artikel von Leon de Winter über die Zukunft Israels. Also das ist eine Strömung, die sehr stark geworden ist in den letzten Monaten.
Netz: Herr Aguigah, gelingt es denn, solche Debatten auch wirklich loszutreten? Eine Debatte, das würde ja bedeuten, dass die Feuilletons sich um den Spiegel herum auch damit beschäftigen.
Aguigah: Man kann vielleicht zwei Sachen unterscheiden: Zum einen gibt es so latent aktuelle Themen, über die immer mal wieder geredet wird, das eklatanteste Beispiel datiert vom März 2006, der damalige Titel sogar lautete "Wie der Kindermangel eine Gesellschaft von Egoisten schafft, jeder für sich". Das hat halt in die Demografiedebatte eingegriffen, also man hat versucht zu erklären, wie der Zusammenhang ist zwischen Liebe in der Gesellschaft und in den Familien einerseits und andrerseits so was wie Geburtenraten, und was das Verrückte an dieser Sorte von Debatte gewesen ist, ist, dass diese Titelgeschichte nicht zuletzt als Marketinginstrument funktionierte für ein ganz bestimmtes Buch: "Minimum" hießt das Buch, und sein Autor war Frank Schirrmacher.
Netz: Kommen wir von den Debatten zurück auf die tatsächlichen Kulturereignisse, denn natürlich werden im Spiegelkulturteil auch Veranstaltungen, Kulturereignisse abgebildet, und zwar macht der Spiegel das meistens so, dass es Vorberichte zu Ausstellungen oder Theaterstücken gibt, also Berichte über etwas, was noch nicht stattgefunden, noch nicht begonnen hat. Wie beurteilen Sie diese Art der Vorabberichterstattung über Kulturereignisse?
Aguigah: Man muss sagen, dass es ein allgemeiner Trend ist, also jedes Medium möchte möglichst früh berichten über irgendwelche Ereignisse, auch im Feld der Kultur. Ich persönlich finde das nicht so interessant. Ich persönlich bin der Meinung, dass, wenn es ein gutes Buch ist, kann man es auch drei Monate nach dem Erscheinen noch lesen, aber der Spiegel mit seiner Praxis, möglichst früh und auch möglichst zu früh zu sein, schafft natürlich Fakten damit. Vielleicht darf ich da ein Beispiel aus meinem eigenen Ressort geben. Also ich bin in der Zeitschrift "Literaturen" zuständig für Sachbücher, und hat es im letzten Jahr ein Buch gegeben von Necla Kelek, einer Türkin, die über die Problematik von Muslimen in Deutschland vor allen Dingen schreibt. Wenn dort Wochen vor dem Erscheinen dieses Buches im Kulturteil des Spiegel der Innenminister Otto Schily das Buch rezensiert oder der ehemalige Innenminister Schily, dann schafft er natürlich damit eine besonders laute Stimme, die man nicht überhören kann. Vielleicht hätte ich das Buch übersehen oder ich hätte es gerne übersehen, wenn der Spiegel es sehr früh, sehr prominent bespricht, geht das nicht mehr richtig.
Netz: Sie können sich ja inhaltlich besonders über die Literaturberichterstattung des Spiegel ein Bild machen. Wie beurteilen Sie denn darin die Art und Weise, wie im Spiegel mit Literatur umgegangen wird?
Aguigah: Insgesamt, würde ich sagen, sind Rezensionen, Literaturrezensionen oder Sachbuchrezensionen im Spiegel nicht schlechter und nicht besser als in anderen überregionalen Medien auch. Was den Spiegel vielleicht unterscheidet von, sagen wir, dem Literaturteil der FAZ oder so etwas, ist, dass er ja ein Magazin ist und versucht auch das Literarische mit anderen journalistischen Formen, Darstellungsformen anzugehen als jetzt nur der reinen Rezension. Ich habe heute verschlungen eine Geschichte über den Suhrkampverlag, eine Seite über Suhrkamp ohne Inhalt, eine Seite über Suhrkamp ohne Recherche, was eigentlich dem Magazin Spiegel gut anstünde, eine Seite über Suhrkamp ohne These, was einem Kulturteil gut anstünde. Man liest in der Geschichte nichts als die Tatsache, dass der stellvertretende Verlagsleiter Thomas Sparr SMS-Nachrichten bekommen hat aus Hamburg.
Netz: Ist das in irgendeiner Weise typisch für den Kulturteil des Spiegel oder ist das ein Einzelbeispiel?
Aguigah: Es ist insofern typisch, als es im Spiegel im Kulturteil nach meinem Eindruck häufig darum geht, bestimmte Duftmarken zu setzen und weniger substantielle Informationen oder substantiell gedeckte Meinungen zu veröffentlichen.
René Aguigah: Man kann sagen, dass der Kulturteil des "Spiegel" sich in den letzten Jahren so ein bisschen wegbewegt hat von einer besonderen Lust zur Popkultur und zum Zeitgeistigen und hin zu etwas, was man so Debattenkultur nennen könnte. Also der Kulturchef des Spiegel Wolfgang Höbel, der das bis Mitte 2005 gemacht hat, der ist sehr stark geprägt gewesen vom Zeitgeistmagazin Tempo, wo er auch geschrieben hat, und der hat schon die Strömung Popkultur und Zeitgeistiges im Spiegel eingeführt und stark gemacht, und jetzt mit dem Eintritt von Matussek in die Redaktion von Hamburg beim Spiegel gibt es eine Lust, so starke Thesen breitzutreten und an Debatten teilzunehmen. Vielleicht ein, zwei Beispiele: In diesem Sommer hat sich namentlich Matussek sehr engagiert in der so genannten Patriotismusdebatte, also man hat sich gefragt, wie patriotisch Deutschland während, vor und nach der WM wohl gewesen sei. Nebenbei gesagt, hat Herr Matussek damit auch sein eigenes Buch mit dem Titel "Wir Deutschen" auch großgemacht. Aber solche Themen spielen wieder eine Rolle jetzt. Bodo Strauß sagt was zu Multikulturalismus und der Debatte darum oder jetzt im aktuellen Heft gibt es einen Artikel von Leon de Winter über die Zukunft Israels. Also das ist eine Strömung, die sehr stark geworden ist in den letzten Monaten.
Netz: Herr Aguigah, gelingt es denn, solche Debatten auch wirklich loszutreten? Eine Debatte, das würde ja bedeuten, dass die Feuilletons sich um den Spiegel herum auch damit beschäftigen.
Aguigah: Man kann vielleicht zwei Sachen unterscheiden: Zum einen gibt es so latent aktuelle Themen, über die immer mal wieder geredet wird, das eklatanteste Beispiel datiert vom März 2006, der damalige Titel sogar lautete "Wie der Kindermangel eine Gesellschaft von Egoisten schafft, jeder für sich". Das hat halt in die Demografiedebatte eingegriffen, also man hat versucht zu erklären, wie der Zusammenhang ist zwischen Liebe in der Gesellschaft und in den Familien einerseits und andrerseits so was wie Geburtenraten, und was das Verrückte an dieser Sorte von Debatte gewesen ist, ist, dass diese Titelgeschichte nicht zuletzt als Marketinginstrument funktionierte für ein ganz bestimmtes Buch: "Minimum" hießt das Buch, und sein Autor war Frank Schirrmacher.
Netz: Kommen wir von den Debatten zurück auf die tatsächlichen Kulturereignisse, denn natürlich werden im Spiegelkulturteil auch Veranstaltungen, Kulturereignisse abgebildet, und zwar macht der Spiegel das meistens so, dass es Vorberichte zu Ausstellungen oder Theaterstücken gibt, also Berichte über etwas, was noch nicht stattgefunden, noch nicht begonnen hat. Wie beurteilen Sie diese Art der Vorabberichterstattung über Kulturereignisse?
Aguigah: Man muss sagen, dass es ein allgemeiner Trend ist, also jedes Medium möchte möglichst früh berichten über irgendwelche Ereignisse, auch im Feld der Kultur. Ich persönlich finde das nicht so interessant. Ich persönlich bin der Meinung, dass, wenn es ein gutes Buch ist, kann man es auch drei Monate nach dem Erscheinen noch lesen, aber der Spiegel mit seiner Praxis, möglichst früh und auch möglichst zu früh zu sein, schafft natürlich Fakten damit. Vielleicht darf ich da ein Beispiel aus meinem eigenen Ressort geben. Also ich bin in der Zeitschrift "Literaturen" zuständig für Sachbücher, und hat es im letzten Jahr ein Buch gegeben von Necla Kelek, einer Türkin, die über die Problematik von Muslimen in Deutschland vor allen Dingen schreibt. Wenn dort Wochen vor dem Erscheinen dieses Buches im Kulturteil des Spiegel der Innenminister Otto Schily das Buch rezensiert oder der ehemalige Innenminister Schily, dann schafft er natürlich damit eine besonders laute Stimme, die man nicht überhören kann. Vielleicht hätte ich das Buch übersehen oder ich hätte es gerne übersehen, wenn der Spiegel es sehr früh, sehr prominent bespricht, geht das nicht mehr richtig.
Netz: Sie können sich ja inhaltlich besonders über die Literaturberichterstattung des Spiegel ein Bild machen. Wie beurteilen Sie denn darin die Art und Weise, wie im Spiegel mit Literatur umgegangen wird?
Aguigah: Insgesamt, würde ich sagen, sind Rezensionen, Literaturrezensionen oder Sachbuchrezensionen im Spiegel nicht schlechter und nicht besser als in anderen überregionalen Medien auch. Was den Spiegel vielleicht unterscheidet von, sagen wir, dem Literaturteil der FAZ oder so etwas, ist, dass er ja ein Magazin ist und versucht auch das Literarische mit anderen journalistischen Formen, Darstellungsformen anzugehen als jetzt nur der reinen Rezension. Ich habe heute verschlungen eine Geschichte über den Suhrkampverlag, eine Seite über Suhrkamp ohne Inhalt, eine Seite über Suhrkamp ohne Recherche, was eigentlich dem Magazin Spiegel gut anstünde, eine Seite über Suhrkamp ohne These, was einem Kulturteil gut anstünde. Man liest in der Geschichte nichts als die Tatsache, dass der stellvertretende Verlagsleiter Thomas Sparr SMS-Nachrichten bekommen hat aus Hamburg.
Netz: Ist das in irgendeiner Weise typisch für den Kulturteil des Spiegel oder ist das ein Einzelbeispiel?
Aguigah: Es ist insofern typisch, als es im Spiegel im Kulturteil nach meinem Eindruck häufig darum geht, bestimmte Duftmarken zu setzen und weniger substantielle Informationen oder substantiell gedeckte Meinungen zu veröffentlichen.