Mit der Stadterneuerung hat auch die Abrissbirne und haben die Immobilienhaie und Spekulanten hier Einzug gehalten in das Viertel. Auf der einen Seite ist es die Kreativküche Barcelonas neben dem Born-Viertel. Man hat hier die Galerien, das Zentrum für Zeitgenössische Kultur, das Museum für Zeitgenössische Kunst, von Richard Mayer gebaut - alles ist im Rahmen der olympischen Rundumerneuerung der Stadt gebaut worden und eröffnet worden.
Wir sind unterwegs im Raval, mit Dorothea Massmann, einer freien Journalistin aus Bremen, die schon seit Ende der 80er Jahre in Barcelona lebt. Im Mittelalter galt der Raval als Ort der Kranken, Armen und Ausgegrenzten. Außerhalb des zweiten Stadtmauerrings gelegen bot er all jenen eine Zuflucht, die im Zentrum nicht erwünscht waren: Hier vegetierten Bettler, Geächtete und Vogelfreie.
Die einstige "Vorstadt" - von arabisch: "el-Rawal" - ist eines der wenigen Überbleibsel aus der kurzen Phase der maurischen Herrschaft über Barcelona. Von dieser düsteren Vergangenheit ist allerdings heute wenig zu spüren. Die weiße Fassade des Museums für Zeitgenössische Kunst - kurz: MACBA - strahlt im Sonnenlicht. Zu Ehren der Stadtheiligen Mercé hat das Museum eine Bastel- und Malaktion für den künstlerischen Nachwuchs organisiert. Dutzende von Kindern zeichnen phantasievolle Motive oder bringen Farben aufs Papier. Ein wuseliges Idyll.
Eben warfen wir noch einen Blick in La Central, die beste moderne Buchhandlung der Stadt. Jetzt stehen wir vor einer mit hohen Mauern geschützten Anlage, dem Antic Hospital Santa Creu, erbaut im 15. und 16. Jahrhundert. Das Innere verbirgt einen schönen Kreuzgang, Orangenbäume, einen gekachelten Patio. In diesem ehemaligen Krankenhaus ereignete sich 1926 ein prominenter Todesfall.
"In diesem Hospital ist Gaudí gestorben. Das heißt, der ist ja unter eine Straßenbahn gekommen. Und weil er so alt und abgewrackt gekleidet war - der hat ja seine letzten Jahre quasi wie ein Bettelmönch auf der Bettstatt der Sagrada Familia verbracht - haben die ihn nicht erkannt und haben ihn in dieses öffentliche Hospital gebracht. Und er hat diesen Irrtum auch nicht aufgeklärt. Bis dann nach drei Tagen irgendjemand drauf kam, wer er wirklich war."
In der Bar Sarabanda, nahe dem MACBA, treffen wir Julián. Er ist Frontmann des Musikerkollektivs 08001, einer Band, deren stilistische Ausrichtung man mit dem Terminus Weltmusik wohl halbwegs korrekt wiedergibt.
"Der Raval war immer das Armutsviertel Barcelonas, das Viertel der Ausgegrenzten, mitten im Zentrum. Es war immer auch das Bohème-Viertel, sehr beliebt unter Künstlern, ein Ort der Prostitution, der Drogen - es war der Problembezirk von Barcelona. Ein Teil Barcelonas, den selbst viele Barceloner nicht kannten."
Mit den Olympischen Spielen von 1992 begann ein ehrgeiziges Projekt der Stadtsanierung, das im so genannten Problembezirk Raval nicht nur positive Spuren hinterlässt. Die Wohnungspreise, so berichtet Julián, haben sich in den letzten acht Jahren nahezu verdoppelt. Die Spekulation sei ein großes Problem. Ganze Straßenzüge werden abgerissen, alteingesessene Mieter vertrieben, manchmal mit äußerst rabiaten Methoden.
Gleichzeitig aber strömen immer mehr Migranten in das Viertel, neuerdings vor allem Asiaten. Was dem Viertel en passant einen Spottnamen eingetragen hat: Rawalpindi. Juliáns Gruppe profitiert von dieser ethnischen Vielfalt. Seine Musikerfreunde stammen - unter anderem - aus Marokko, Chile, Indien, Bulgarien, Griechenland und Argentinien.
"In diesem Viertel respektiert man einander, mitten im Zentrum der Stadt leben sehr viele Migranten miteinander - das gibt es ja sonst in Europa kaum. Meist werden die Zuwanderer an den Stadtrand gedrängt. In Barcelona leben sie mitten im Zentrum. Das ist durchaus auch ein Reichtum, den es zu erhalten gilt. Obwohl ich fürchte, es geht ein bisschen den Bach runter. Das Viertel wird hoffentlich diesen Wandel überleben."
Eines interessiert uns noch: Was bedeutetet die Ziffernfolge 08001?
"Das ist die Postleitzahl des Raval-Viertels. 08 ist Barcelona, 001 ist der Raval."
Südlich des MACBA und des Carrer de l’Hospital verengen sich die Gassen. Dunkle Wohnschächte, abblätternde Fassaden, schmale Austritte vor Fensterscharten. Hier beginnt der "barrio chino", das Chinesenviertel, ein heruntergekommener, zugleich der geheimnisvollste Teil des Raval.
Hinter einer unscheinbaren Holztür in der düsteren Carrer de la Cera 1 hat "El Lokal" eine Heimstatt gefunden. In einer verschachtelten Ladenwohnung türmen sich Berge von Papieren, Zeitschriften. An den Wänden Plakate mit Demo-Aufrufen, Pinboards mit Kurznotizen. "El Lokal" ist seit 20 Jahren der Infoladen und Treffpunkt für die linke und sozial bewegte Szene der Stadt. Inaki, ein Veteran der Bewegung, erzählt:
"Als wir damals hier anfingen, galten wir als Alternative, als Drogenabhängige, als komische Typen. Inzwischen sind wir ein fester Teil der Szene. Hier ziehen Leute hin, weil sie sich nichts Besseres leisten können. Sobald sie mehr verdienen, sind sie auch schon wieder weg. Andere bleiben, obwohl sie sich was anderes leisten können. Hier leben jetzt vor allem die Alten, die Studenten, die Migranten, die Künstler. Um die Zukunft des Viertels wird gestritten, die sozialen Kämpfe sind hart."
Kämpfe, die auch in Inakis zerfurchtem Gesicht Spuren hinterlassen haben. Der kettenrauchende Endfünfziger fühlt sich solidarisch mit den Menschen, die hier tagtäglich um ihre Existenz ringen. Inaki selbst engagiert sich im "Kollektiv zur Unterstützung der zapatistischen Rebellion" im mexikanischen Chiapas. Das Kollektiv hat hier seine Geschäftsstelle, ebenso wie friedensbewegte und libertäre Gruppen.
Auch die Redaktion der Stadtteilzeitung "Masala" trifft sich im "Lokal". Seit langem schon dabei ist die studierte Pädagogin Marta. Die Stadtplaner, so berichtet sie, trieben zwar eine Art sozialhygienische Sanierung des Viertels voran. Dieser Prozesse laufe aber nicht ohne Widersprüche ab.
"Einerseits kommt das Kapital, andererseits sah es eine zeitlang so aus, als ob das gesamte Kleingewerbe hier schließen müsste. Plötzlich öffneten die pakistanischen Supermärkte, die Telefonläden, Internetcafes. Nachdem es zunächst so aussah, als würden die Designerläden sich breit machen, duftet es jetzt eher nach Schawarma und Falafel. Genau dieser Dualismus wird derzeit hier gelebt."
Von den Kommunalpolitikern und den Sprüchen der Tourismusmanager hält Marta nicht viel. Das "Barcelona der Vielfalt, der Farben und des Lichtes" spottet sie. Die Realität im barrio chino, im Ghetto, werde gern ausgeblendet oder verschwiegen. Jeder hätte zwar gern ein Studio, ein Appartement, im Raval - aber im sanierten Teil, möglichst in der Nähe der Kunstmeile am MACBA. Bloß mit den Einheimischen wolle man nicht zu tun haben. Marta nennt diese Haltung "Faszination des Morbiden".
"Es gibt diese Angst. Du kommst hier ängstlich her, hältst alle für Bösewichter, siehst nur Immigranten, keine Einheimischen. Klar gibt es viele Zugereiste, viel Armut, die Häuser sind teilweise in beklagenswertem Zustand, kaum Sonne und Licht. Die Straßen sind schmutzig, weil die Gemeindeverwaltung nicht ausreichend Mittel für die Reinigung abdrückt. Das zieht so runter, hier will man auf keinen Fall wohnen, nein, das gefällt uns nicht. Alles ist schmutzig, weil schließlich auch die Menschen schmutzig sind. Meine Güte! Es gibt irre Vorurteile. Das Viertel wird gefürchtet."
Eine Ahnung von dem, was Marta meinen könnte, kommt in der Carrer Sant Ramón auf, der zentralen Gasse des Rotlichtmilieus. Hier machen die Damen des Gewerbes dem Passanten eindeutige Angebote, lungern Zuhälter, Dealer und Voyeure herum. Noch vor kurzem, so berichtet Dorothea Massmann, hätten sich manche Taxifahrer nachts geweigert, diese Zone anzusteuern.
Aber auch das ist vorbei, seit vor einigen Jahren die Stadtplaner unweit von hier einen neuen Boulevard mitten in die dunklen Häuserschluchten fräsen ließen: die Rambla del Raval. Bänke, Cafés, Grün - vom einstigen Sündenpfuhl sind nur noch Spurenelemente zu entdecken. Auch die massige Skulptur von Fernando Botero in Gestalt einer riesigen Katze vermag nicht wirklich zu schrecken. Aber selbst Ortskundige wie unsere Begleiterin Dorothea Massmann erleben hier noch Überraschungen.
"Das gibts doch nicht, das ist doch wirklich. Ich war einfach eine längere Zeit nicht im Raval. Und als ich das letzte Mal in der Casa Leopoldo gegessen habe, stand dieses enorme, runde Hochhaus, das vielleicht nach einem Park-Hochhaus aussehen könnte, hier noch nicht. Ich bin jetzt erst mal sprachlos."
Die Sozialhygieniker des Raval leisten ganze Arbeit. Ein Parkhaus, ein Block mit Eigentumswohnungen, die restliche Baulücke wird demnächst gefüllt mit dem Neubau des Katalanischen Filminstituts.
Zum Abschluss des Spaziergangs ist eine Stärkung überfällig. Wer ein Stück authentisches Barcelona schmecken will, kommt an der "Casa Leopoldo" kaum vorbei. In der Carrer Sant Rafael Nr. 24, am Rande der Rambla del Raval, führt Rosa Gil in dritter Generation das Lokal. Mit modischem kulinarischen Schnickschnack von Michelinsternejägern hat sie nichts am Hut.
Wer in der "Casa Leopoldo" speist, erwartet keine Molekularküche. Er wünscht und bekommt "cocina catalana", vor allem Fisch und Meeresfrüchte: Gegrillten Seeteufel, Hummer auf Muscheln, aber auch Kutteln oder "Fleischklösschen mit sepia und gambas". Wie soll der Fisch auf den Tisch?
"Gegrillt, mit Öl und Zitrone, Petersilie und ein wenig Gemüse. Auf Spitzfindigkeiten lassen wir uns nicht ein. Wir sind deswegen so erfolgreich, weil wir an diesem Standort festhalten: einem Viertel, in dem es immer Prostitution, Drogen, kriminelle Zustände gegeben hat."
1929 als Familienbetrieb von Großvater Leopoldo gegründet, wurde das Haus in den Hungerjahren nach Ende des Bürgerkriegs ein Fluchtpunkt für verfolgte Intellektuelle. Rosas Vater Germán, Ex-Stierkämpfer, schmuggelte von Francos Folter bedrohte arme Teufel nach Südfrankreich. Germán war es auch, der die bis in die 60er Jahre eher rustikale Küche des Hauses verfeinerte.
Tagsüber bewirtete man nach wie vor eher proletarische Kundschaft. Abends kam die Bohème, lasterhaftes Volk, wohlsituierte Herren in Begleitung von Geliebten oder Edelnutten. Stammgast war - bis zu seinem Tod vor vier Jahren - auch der Schriftsteller Manuel Vázquez Montalbán, der auch sein alter ego Pepe Carvalho häufiger in der "Casa Leopoldo" einkehren ließ. Rosa Gil erinnert sich:
"Er war ein Gourmet, und ihm lag die einfache Küche. Oft aß er Kutteln, aber er stand auch auf Fisch, Seebarsch, Krabben. Sein Held Carvalho kocht ständig, schmort irgendwas zusammen. Wenn er mit seinem Gehilfen Biscuter zusammen sind, bereiten sie ganz einfache Gerichte."
Inzwischen, so klagt Rosa, verändere das Viertel rasant seinen Charakter. Dabei habe es seine Seele verloren. Die Seele, die es als "barrio chino" hatte. Davon sei nicht mehr viel übrig. Aber montags - nach dem Stierkampf - gibt es da immer noch "criadillas guisadas", geschmorte Stierhoden?
"Nein", winkt Rosa lachend ab, "montags ist geschlossen".
Wir sind unterwegs im Raval, mit Dorothea Massmann, einer freien Journalistin aus Bremen, die schon seit Ende der 80er Jahre in Barcelona lebt. Im Mittelalter galt der Raval als Ort der Kranken, Armen und Ausgegrenzten. Außerhalb des zweiten Stadtmauerrings gelegen bot er all jenen eine Zuflucht, die im Zentrum nicht erwünscht waren: Hier vegetierten Bettler, Geächtete und Vogelfreie.
Die einstige "Vorstadt" - von arabisch: "el-Rawal" - ist eines der wenigen Überbleibsel aus der kurzen Phase der maurischen Herrschaft über Barcelona. Von dieser düsteren Vergangenheit ist allerdings heute wenig zu spüren. Die weiße Fassade des Museums für Zeitgenössische Kunst - kurz: MACBA - strahlt im Sonnenlicht. Zu Ehren der Stadtheiligen Mercé hat das Museum eine Bastel- und Malaktion für den künstlerischen Nachwuchs organisiert. Dutzende von Kindern zeichnen phantasievolle Motive oder bringen Farben aufs Papier. Ein wuseliges Idyll.
Eben warfen wir noch einen Blick in La Central, die beste moderne Buchhandlung der Stadt. Jetzt stehen wir vor einer mit hohen Mauern geschützten Anlage, dem Antic Hospital Santa Creu, erbaut im 15. und 16. Jahrhundert. Das Innere verbirgt einen schönen Kreuzgang, Orangenbäume, einen gekachelten Patio. In diesem ehemaligen Krankenhaus ereignete sich 1926 ein prominenter Todesfall.
"In diesem Hospital ist Gaudí gestorben. Das heißt, der ist ja unter eine Straßenbahn gekommen. Und weil er so alt und abgewrackt gekleidet war - der hat ja seine letzten Jahre quasi wie ein Bettelmönch auf der Bettstatt der Sagrada Familia verbracht - haben die ihn nicht erkannt und haben ihn in dieses öffentliche Hospital gebracht. Und er hat diesen Irrtum auch nicht aufgeklärt. Bis dann nach drei Tagen irgendjemand drauf kam, wer er wirklich war."
In der Bar Sarabanda, nahe dem MACBA, treffen wir Julián. Er ist Frontmann des Musikerkollektivs 08001, einer Band, deren stilistische Ausrichtung man mit dem Terminus Weltmusik wohl halbwegs korrekt wiedergibt.
"Der Raval war immer das Armutsviertel Barcelonas, das Viertel der Ausgegrenzten, mitten im Zentrum. Es war immer auch das Bohème-Viertel, sehr beliebt unter Künstlern, ein Ort der Prostitution, der Drogen - es war der Problembezirk von Barcelona. Ein Teil Barcelonas, den selbst viele Barceloner nicht kannten."
Mit den Olympischen Spielen von 1992 begann ein ehrgeiziges Projekt der Stadtsanierung, das im so genannten Problembezirk Raval nicht nur positive Spuren hinterlässt. Die Wohnungspreise, so berichtet Julián, haben sich in den letzten acht Jahren nahezu verdoppelt. Die Spekulation sei ein großes Problem. Ganze Straßenzüge werden abgerissen, alteingesessene Mieter vertrieben, manchmal mit äußerst rabiaten Methoden.
Gleichzeitig aber strömen immer mehr Migranten in das Viertel, neuerdings vor allem Asiaten. Was dem Viertel en passant einen Spottnamen eingetragen hat: Rawalpindi. Juliáns Gruppe profitiert von dieser ethnischen Vielfalt. Seine Musikerfreunde stammen - unter anderem - aus Marokko, Chile, Indien, Bulgarien, Griechenland und Argentinien.
"In diesem Viertel respektiert man einander, mitten im Zentrum der Stadt leben sehr viele Migranten miteinander - das gibt es ja sonst in Europa kaum. Meist werden die Zuwanderer an den Stadtrand gedrängt. In Barcelona leben sie mitten im Zentrum. Das ist durchaus auch ein Reichtum, den es zu erhalten gilt. Obwohl ich fürchte, es geht ein bisschen den Bach runter. Das Viertel wird hoffentlich diesen Wandel überleben."
Eines interessiert uns noch: Was bedeutetet die Ziffernfolge 08001?
"Das ist die Postleitzahl des Raval-Viertels. 08 ist Barcelona, 001 ist der Raval."
Südlich des MACBA und des Carrer de l’Hospital verengen sich die Gassen. Dunkle Wohnschächte, abblätternde Fassaden, schmale Austritte vor Fensterscharten. Hier beginnt der "barrio chino", das Chinesenviertel, ein heruntergekommener, zugleich der geheimnisvollste Teil des Raval.
Hinter einer unscheinbaren Holztür in der düsteren Carrer de la Cera 1 hat "El Lokal" eine Heimstatt gefunden. In einer verschachtelten Ladenwohnung türmen sich Berge von Papieren, Zeitschriften. An den Wänden Plakate mit Demo-Aufrufen, Pinboards mit Kurznotizen. "El Lokal" ist seit 20 Jahren der Infoladen und Treffpunkt für die linke und sozial bewegte Szene der Stadt. Inaki, ein Veteran der Bewegung, erzählt:
"Als wir damals hier anfingen, galten wir als Alternative, als Drogenabhängige, als komische Typen. Inzwischen sind wir ein fester Teil der Szene. Hier ziehen Leute hin, weil sie sich nichts Besseres leisten können. Sobald sie mehr verdienen, sind sie auch schon wieder weg. Andere bleiben, obwohl sie sich was anderes leisten können. Hier leben jetzt vor allem die Alten, die Studenten, die Migranten, die Künstler. Um die Zukunft des Viertels wird gestritten, die sozialen Kämpfe sind hart."
Kämpfe, die auch in Inakis zerfurchtem Gesicht Spuren hinterlassen haben. Der kettenrauchende Endfünfziger fühlt sich solidarisch mit den Menschen, die hier tagtäglich um ihre Existenz ringen. Inaki selbst engagiert sich im "Kollektiv zur Unterstützung der zapatistischen Rebellion" im mexikanischen Chiapas. Das Kollektiv hat hier seine Geschäftsstelle, ebenso wie friedensbewegte und libertäre Gruppen.
Auch die Redaktion der Stadtteilzeitung "Masala" trifft sich im "Lokal". Seit langem schon dabei ist die studierte Pädagogin Marta. Die Stadtplaner, so berichtet sie, trieben zwar eine Art sozialhygienische Sanierung des Viertels voran. Dieser Prozesse laufe aber nicht ohne Widersprüche ab.
"Einerseits kommt das Kapital, andererseits sah es eine zeitlang so aus, als ob das gesamte Kleingewerbe hier schließen müsste. Plötzlich öffneten die pakistanischen Supermärkte, die Telefonläden, Internetcafes. Nachdem es zunächst so aussah, als würden die Designerläden sich breit machen, duftet es jetzt eher nach Schawarma und Falafel. Genau dieser Dualismus wird derzeit hier gelebt."
Von den Kommunalpolitikern und den Sprüchen der Tourismusmanager hält Marta nicht viel. Das "Barcelona der Vielfalt, der Farben und des Lichtes" spottet sie. Die Realität im barrio chino, im Ghetto, werde gern ausgeblendet oder verschwiegen. Jeder hätte zwar gern ein Studio, ein Appartement, im Raval - aber im sanierten Teil, möglichst in der Nähe der Kunstmeile am MACBA. Bloß mit den Einheimischen wolle man nicht zu tun haben. Marta nennt diese Haltung "Faszination des Morbiden".
"Es gibt diese Angst. Du kommst hier ängstlich her, hältst alle für Bösewichter, siehst nur Immigranten, keine Einheimischen. Klar gibt es viele Zugereiste, viel Armut, die Häuser sind teilweise in beklagenswertem Zustand, kaum Sonne und Licht. Die Straßen sind schmutzig, weil die Gemeindeverwaltung nicht ausreichend Mittel für die Reinigung abdrückt. Das zieht so runter, hier will man auf keinen Fall wohnen, nein, das gefällt uns nicht. Alles ist schmutzig, weil schließlich auch die Menschen schmutzig sind. Meine Güte! Es gibt irre Vorurteile. Das Viertel wird gefürchtet."
Eine Ahnung von dem, was Marta meinen könnte, kommt in der Carrer Sant Ramón auf, der zentralen Gasse des Rotlichtmilieus. Hier machen die Damen des Gewerbes dem Passanten eindeutige Angebote, lungern Zuhälter, Dealer und Voyeure herum. Noch vor kurzem, so berichtet Dorothea Massmann, hätten sich manche Taxifahrer nachts geweigert, diese Zone anzusteuern.
Aber auch das ist vorbei, seit vor einigen Jahren die Stadtplaner unweit von hier einen neuen Boulevard mitten in die dunklen Häuserschluchten fräsen ließen: die Rambla del Raval. Bänke, Cafés, Grün - vom einstigen Sündenpfuhl sind nur noch Spurenelemente zu entdecken. Auch die massige Skulptur von Fernando Botero in Gestalt einer riesigen Katze vermag nicht wirklich zu schrecken. Aber selbst Ortskundige wie unsere Begleiterin Dorothea Massmann erleben hier noch Überraschungen.
"Das gibts doch nicht, das ist doch wirklich. Ich war einfach eine längere Zeit nicht im Raval. Und als ich das letzte Mal in der Casa Leopoldo gegessen habe, stand dieses enorme, runde Hochhaus, das vielleicht nach einem Park-Hochhaus aussehen könnte, hier noch nicht. Ich bin jetzt erst mal sprachlos."
Die Sozialhygieniker des Raval leisten ganze Arbeit. Ein Parkhaus, ein Block mit Eigentumswohnungen, die restliche Baulücke wird demnächst gefüllt mit dem Neubau des Katalanischen Filminstituts.
Zum Abschluss des Spaziergangs ist eine Stärkung überfällig. Wer ein Stück authentisches Barcelona schmecken will, kommt an der "Casa Leopoldo" kaum vorbei. In der Carrer Sant Rafael Nr. 24, am Rande der Rambla del Raval, führt Rosa Gil in dritter Generation das Lokal. Mit modischem kulinarischen Schnickschnack von Michelinsternejägern hat sie nichts am Hut.
Wer in der "Casa Leopoldo" speist, erwartet keine Molekularküche. Er wünscht und bekommt "cocina catalana", vor allem Fisch und Meeresfrüchte: Gegrillten Seeteufel, Hummer auf Muscheln, aber auch Kutteln oder "Fleischklösschen mit sepia und gambas". Wie soll der Fisch auf den Tisch?
"Gegrillt, mit Öl und Zitrone, Petersilie und ein wenig Gemüse. Auf Spitzfindigkeiten lassen wir uns nicht ein. Wir sind deswegen so erfolgreich, weil wir an diesem Standort festhalten: einem Viertel, in dem es immer Prostitution, Drogen, kriminelle Zustände gegeben hat."
1929 als Familienbetrieb von Großvater Leopoldo gegründet, wurde das Haus in den Hungerjahren nach Ende des Bürgerkriegs ein Fluchtpunkt für verfolgte Intellektuelle. Rosas Vater Germán, Ex-Stierkämpfer, schmuggelte von Francos Folter bedrohte arme Teufel nach Südfrankreich. Germán war es auch, der die bis in die 60er Jahre eher rustikale Küche des Hauses verfeinerte.
Tagsüber bewirtete man nach wie vor eher proletarische Kundschaft. Abends kam die Bohème, lasterhaftes Volk, wohlsituierte Herren in Begleitung von Geliebten oder Edelnutten. Stammgast war - bis zu seinem Tod vor vier Jahren - auch der Schriftsteller Manuel Vázquez Montalbán, der auch sein alter ego Pepe Carvalho häufiger in der "Casa Leopoldo" einkehren ließ. Rosa Gil erinnert sich:
"Er war ein Gourmet, und ihm lag die einfache Küche. Oft aß er Kutteln, aber er stand auch auf Fisch, Seebarsch, Krabben. Sein Held Carvalho kocht ständig, schmort irgendwas zusammen. Wenn er mit seinem Gehilfen Biscuter zusammen sind, bereiten sie ganz einfache Gerichte."
Inzwischen, so klagt Rosa, verändere das Viertel rasant seinen Charakter. Dabei habe es seine Seele verloren. Die Seele, die es als "barrio chino" hatte. Davon sei nicht mehr viel übrig. Aber montags - nach dem Stierkampf - gibt es da immer noch "criadillas guisadas", geschmorte Stierhoden?
"Nein", winkt Rosa lachend ab, "montags ist geschlossen".