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Vom Streikführer zum Staatspräsidenten

Reinhold Vetter hat eine Walesa-Biografie vorgelegt, in der er dessen Kampf gegen das kommunistische Regime und seine politische Karriere nachzeichnet. Der polnische Arbeiterführer war Pragmatiker durch und durch - das zeigt sein Lieblingssatz: "Ich bin sowohl dafür als auch dagegen".

Von Julian Wyszynski |
    Der Arbeiterführer Lech Walesa war der Held des Sommers 1980. Mit dem Bild der Muttergottes am Revers bewirkte er den Sturz des sowjetischen Systems und wurde weltweit bekannt. Dreißig Jahre später sieht man die Geschichte naturgemäß ein wenig anders. Daher ist es zu begrüßen, dass jetzt aus der Feder eines deutschen Zeitgeschichtlers, der sich zudem diese ganzen drei Jahrzehnte über unmittelbar und intensiv mit Polen beschäftigt hat, eine detaillierte Darstellung der Zusammenhänge vorgelegt wird. Dies umso mehr, als man in Polen selbst in den letzten Jahren nicht gerade zimperlich mit Walesa umgegangen ist.

    Reinhold Vetter, der Autor dieser Biografie, beherrscht die Sprache Polens und kennt das politische Umfeld wie nur wenige. Als Journalist hatte er Gelegenheit, Walesa persönlich kennenzulernen und zu beobachten.

    Das Bild des schnauzbärtigen Elektrikers, schreibt Vetter, der seine Kollegen von der Danziger Leninwerft erfolgreich in den Kampf um unabhängige Gewerkschaften führte, ging durch die internationalen Medien. Aus heutiger Sicht war der berühmte Streik, der den gesamten Ostblock in Unruhe versetzte, die wichtigste Phase im Leben Walesas.
    Dass genau diese Phase den Anfang vom Ende der kommunistisch bestimmten Gesellschaftssysteme in ganz Mittel-Ost-Europa einläutete, ist inzwischen unbestritten. Erfolg hatte der Arbeiterprotest in Polen allerdings vor allem auch deshalb, weil er von führenden Köpfen der regimekritischen Intellektuellen und weiten Teilen der katholischen Kirche unterstützt wurde, von Mazowiecki, Kuron, Michnik, Tischner.

    Alle, sagt Walesa seinerzeit, müssen sich einander anpassen. Die Gewerkschaften an die geschaffenen Möglichkeiten, die Regierung an diese. Aber nur den Klugen auf beiden Seiten wird das gelingen, man kann von vornherein nie sagen, wer gerade einmal nachgeben muss.
    Das klingt vielleicht unspektakulär, aber zeigt sich darin nicht sein Realitätssinn? Schließlich sollte der Arbeiterführer bereits ein Jahrzehnt später, im Dezember 1990, viel mehr erreichen, als er je erwarten konnte: Er wird in freier Wahl zum Staatspräsidenten seines Landes gewählt und damit erster Repräsentant eines unabhängigen Polens in neuerer Zeit.
    Anschaulich schildert Vetter, welchen Weg Walesa beschreitet, vom Verlauf der Streikbewegung über die Doppelherrschaft der Solidarność und der alten Staatspartei PZPR bis zum legendären "Runden Tisch". Manche haben ihn unterschätzt, auch die Brüder Kaczyński, die sich ihm erst anpassten und dann überlegen fühlten. Unter Walesas Präsidentschaft kamen sie rasch in hohe Ämter, verloren diese aber fast ebenso schnell wieder, als sie durch radikales, unduldsames Verhalten hervortraten. Die Präsidentschaft von Walesa? Sie war von Höhen und Tiefen geprägt. Vetter zeigt, wie der Arbeiterpräsident durch seine unkonventionelle Art wiederholt sogar im Ausland, beispielsweise im Kontakt mit Helmut Kohl, Erfolge verbuchen konnte. Bei alledem spielte auch Walesas Fähigkeit zur List eine Rolle. Doch anders als seine politischen Opponenten handelte Walesa stets zielorientiert und nicht ideologisch bestimmt.

    Mehr als zehn Jahre später, im Jahre 2005, als die Brüder Kaczyński die Macht im Staate an sich reißen, bricht eine regelrechte Hexenjagd aus, auch gegen Walesa. Vetter legt dar, welches Machtkalkül dahinter steckt. Er nimmt Walesa nicht grundsätzlich in Schutz, bezeichnet ihn sogar als einen egozentrischen Helden. Doch allen einseitigen Vorwürfen, die versuchen, Walesa als einen alt gedienten Agenten des kommunistischen Sicherheitsdienstes darzustellen, tritt Vetter klar entgegen.

    Für die heutige präzise Bewertung der Kontakte Walesas zum Sicherheitsdienst SB in den frühen siebziger Jahren ist außerdem von großer Bedeutung, dass im April 1982 eine umfangreiche Aktion gestartet wurde, die besonders ihn, aber auch die gesamte Solidarität ein für alle Mal diskreditieren sollte.
    Dazu muss man wissen, dass kurz zuvor, am 13. Dezember 1981, in Polen das Kriegsrecht verhängt wurde, was dem Regime die Möglichkeit gab, in dieser Zeit alle unliebsamen Strukturen zu zerschlagen und sie ihrer Widerstandskraft zu berauben.

    Basis dieser Aktion war das "Bolek" Material, unter diesem Decknamen wurde Walesa beim Geheimdienst geführt, aus den frühen siebziger Jahren, das heute noch teilweise vorhanden ist. Zusätzlich zu diesem Material wurden im Frühjahr 1982 weitere "Dokumente" fabriziert, die quasi Walesas "Agententätigkeit" über das Jahr 1974 hinaus "verlängern" sollten. Für diese Fälschertätigkeit gab es einen regelrechten Aktionsplan der beteiligten SB-Beamten, wie interne Unterlagen beweisen.
    Das auf diese Weise hergestellte Material hat man dann ganz gezielt verschiedenen Kampfgefährten von Walesa zugespielt. Und genau daraus schöpfen die politischen Gegner Walesas bis heute ihre Argumentation. Vetter kann jedoch belegen, dass man schon damals beabsichtigte, ein "öffentliches Gericht" über Walesa zu inszenieren.

    Obwohl das Material auch dem norwegischen Nobel-Preis-Komitee zugespielt wurde, erhielt Walesa im Jahre 1983 diese hohe Auszeichnung.
    Resümee: Vetters Ausarbeitung ist eine Fundgrube an Fakten, die wissenschaftlichen Ansprüchen ebenso gerecht wird wie dem Bedürfnis von Lesern, die sich gezielt über einzelne Aspekte der jüngeren Geschichte Polens übergreifend informieren möchten. Es ist das Porträt eines Mannes mit Ecken und Kanten, der sich trotz seiner Herkunft nicht gängeln lassen wollte aber im Grunde bis heute zukunftsorientiert denkt und handelt.

    Reinhold Vetter: Polens eigensinniger Held. Wie Lech Walesa die Kommunisten überlistete. Erschienen im Berliner Wissenschaftsverlag, 414 Seiten kosten 37 Euro, ISBN 978-3-8305-1767-2.