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Vom Tal der Issa ins Land Ulro

Der polnische Dichter und Literaturnobelpreisträger Czeslaw Milosz gilt als einer der größten Lyriker der Gegenwart, und dennoch ist er in Deutschland relativ wenig bekannt: In erster Linie liegt es wohl daran, dass lediglich ein kleiner Teil seines umfangreichen lyrischen Werkes ins Deutsche übersetzt ist und dass sein Name deshalb fast nur mit dem Essayband "Verführtes Denken"und dem Roman "Tal der Issa" assoziiert wird.

Von Marta Kijowska | 30.06.2011
    Dabei ist seine Lyrik allein deswegen faszinierend, weil sie all die Kulturen, Religionen und Landschaften reflektiert, mit denen Milosz in seinem langen Leben - in Litauen, Polen, Frankreich und Amerika - in Berührung gekommen ist. Am 30. Juni jährt sich zum 100. Mal sein Geburtstag - ein guter Grund, an den großen Unbekannten zu erinnern.

    Wie erzählt man in wenigen Minuten ein langes und bewegtes Literatenleben, damit alle Verknüpfungen sichtbar werden? Im Falle des polnischen Dichters Czeslaw Milosz scheint dies fast unmöglich. Denn nicht nur, dass sein Leben weit über neunzig Jahre dauerte und sich in vier Ländern und unzähligen Städten abspielte - er war auch eine sehr widersprüchliche Persönlichkeit, deren metaphysisches System besagte: Nichts in der Welt ist eindeutig, alles, was passiert, ist von einer entgegengesetzten, feindlichen Kraft unterminiert. Dennoch war Milosz ein Autor, der stets nach dem Ausgleich, nach dem Verbindenden suchte. Und der seine Erfahrungen, die er als Spiegel der Geschichte verstand, mit dem Leser teilen wollte.

    "Ich glaube, meinem Schicksal haftet eine gewisse Gesetzmäßigkeit an. Damit meine ich, dass sich darin große historische Umwälzungen spiegeln, etwa die Verschiebung der polnischen Grenzen und der Verlust der sogenannten Randgebiete. Ich mag übrigens dieses Wort nicht, denn in der Gegend, aus der ich stamme, pflegten wir den Rest der Welt für ein Randgebiet zu halten. Mit Gesetzmäßigkeit meine ich auch, dass es auffallend viele Schriftsteller gibt, die in dieser Gegend geboren wurden. Und mir scheint, dass die Menschen, die von dort stammen, ein wenig anders konstruiert sind. Sie haben ein anderes Verhältnis zu der Nationalitätenfrage und sind viel toleranter."

    Litauen, sein Geburtsort Szetejnie, Wilna, wo er studierte und einer Dichtergruppe angehörte, die als "Katastrophisten" bezeichnet wurde: An die Schauplätze seiner Jugend kehrte Milosz in seiner Lyrik immer wieder zurück. Und auch der autobiografische Roman "Tal der Issa" war eine poetische Liebeserklärung an die alte Heimat.
    Die Besonderheit des Issatals liegt in der Zahl seiner Teufel. Sie ist größer als anderswo. Es ist möglich, dass morsche Weiden, Mühlen, Ufergesträuch besonders bequem sind für Wesen, die menschlichen Augen nur dann erscheinen, wenn diese es selbst wünschen.

    Bevor Milosz aber den Roman "Tal der Issa" schrieb, gab es in seiner Biografie noch einige wichtige Momente: den Krieg, dessen Grausamkeit ihn für den Rest seines Lebens verfolgen sollte. Die Arbeit als Diplomat in New York, Washington und Paris. Politisches Asyl in Frankreich und das Erscheinen der berühmten Essaysammlung "Verführtes Denken", in der er die Verhaltensmuster der Intellektuellen im totalitären System analysierte. So war "Tal der Issa" nicht nur eine Evokation der eigenen Kindheit, sondern auch eine Art Traktat über den menschlichen Reifeprozess. Vier Jahre später legte Milosz einen Essayband vor, an dem dieser Konflikt noch stärker sichtbar wurde: "Heimatliches Europa" beziehungsweise "West und Östliches Gelände", wie der Titel der deutschen Ausgabe lautet. Es schien, als hätte ihm das Exil die Freude am Schreiben von Gedichten genommen.

    "Ich fing an, Prosa zu schreiben, weil ich in dieser Situation eines Exilanten, in der ich mich auf einmal befand, mit meinen Gedichten niemanden erreicht hätte. Mein Schreiben richtete sich ja an zwei Lesergruppen: an die hypothetischen Leser in Polen und an das westliche Publikum. Meine Hinwendung zur Prosa war also mehr oder weniger eine Notwendigkeit. Das gilt sowohl für die Essays als auch für die Romane. Ich weiß nicht, ob ich diese Bücher geschrieben hätte, wenn ich in Polen geblieben wäre."

    Sein essayistisches Hauptwerk, der Band "Das Land Ulro" von 1977, in dem er kulturhistorische Skizzen mit Einblicken in das eigene Leben verbindet, ist ein weiteres Buch, das Milosz vermutlich in Polen niemals geschrieben hätte. Zu diesem Zeitpunkt lagen aber nicht nur sein Land, sondern auch Europa weit hinter ihm: Im Jahre 1960 war er nach Berkeley gegangen, wo er seitdem Professor für slawische Literaturen war.

    Sein Verhältnis zu Amerika war zunächst sehr kritisch. Erst nach Jahren begann er, die Liberalität Kaliforniens und die europäischen Wurzeln der amerikanischen Literatur zu schätzen. Nach und nach gingen diese Erfahrungen in seine Dichtung ein, und auch seine Grundstimmung veränderte sich allmählich: Sein Pessimismus wich dem Glauben an die Vernunft, und sein Hang zur Kontemplation ging zunehmend mit der Fähigkeit einher, die Schönheit der einfachen Dinge wahrzunehmen.

    So ein glücklicher Tag.
    Früh senkte sich der Nebel, ich arbeitete im Garten.
    Immer wieder blieben Kolibris vor dem blühenden Caprifolium stehen.
    Es gab auf der Erde kein Ding, das ich haben mochte.
    Ich kannte niemanden, der mir beneidenswert schien.
    Was Schlimmes geschehen war, hatte ich vergessen.


    Diesen neuen Tonfall seiner Lyrik wusste sogar das Nobelpreiskomitee in Stockholm zu schätzen. Die Verleihung des Literaturnobelpreises an Milosz im Jahre 1980 begründete es unter anderem damit, seine Dichtung mache uns bewusst, "dass auch das Böse und die Zerstörung Kräfte sind, gegen die es zu kämpfen gilt".

    Der Nobelpreis machte Milosz auf Anhieb international bekannt, in Deutschland allerdings hielt diese Bekanntheit nicht sehr lange an. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass in diesem Jahr weder eine Neuausgabe seiner Dichtung noch ein Buch über ihn erscheinen. Nur der deutsch-polnische Autor Artur Becker wird uns in diesem Herbst eine Sammlung von Essays und Skizzen schenken, in denen er sich immer wieder mit dem Dichter beschäftigt.

    Der Symbolik des ewigen Flusses der Zeit im Sinne Herakleitos ist er in seinen Gedichten nie untreu geworden, und der Fluss Issa aus seinem Kindheitsroman stellt nichts weiter als den universellen kosmischen Strom des Lebens dar.

    Das Land, durch das sich der dunkle Fluss Issa windet, sah Milosz erst nach einem halben Jahrhundert wieder. In den späten Neunzigern kam er nämlich nach Europa zurück. Teilweise zumindest, denn einige Monate im Jahr verbrachte er immer noch in Berkeley. Die restlichen lebte er aber in Krakau, wo er sich schließlich ganz niederließ. In den letzten Jahren wandte er verstärkt den religiösen Fragen zu, dennoch lehnte er bis zum Schluss die Bezeichnung "religiöser Schriftsteller" für sich ab - genauso wie er auch sonst alles tat, um auf keine bestimmte Rolle festgelegt zu werden.

    "Ich glaube, ich bin mein Leben lang vor einer Abstempelung geflüchtet. Nach dem Erscheinen von 'Verführtes Denken' etwa deutete alles darauf hin, dass ich Professor für Politologie oder Soziologie werden würde. Zum Glück weigerte ich mich und wurde stattdessen Professor für Literatur. Oder als man mich zum Nationaldichter stilisieren wollte, versuchte ich um jeden Preis, meine Privatheit zu wahren. Das gilt für mein gesamtes Werk: Ich floh immer wieder davor, in einer Gattung, einer Art zu schreiben oder einer Rolle zu erstarren. Ich würde sagen, es war eine ständige Flucht nach vorn."

    Czeslaw Milosz starb am 14. August 2004 im Alter von 93 Jahren. Nach seinem Tod wurde er in Polen und auch in vielen anderen Ländern als einer der bedeutendsten Dichter der Gegenwart gewürdigt. Er selbst blieb sein Leben lang selbstkritisch, in seiner Nobelpreis-Rede sprach er gar von der Vergeblichkeit seiner dichterischen Mühe. Trotzdem hörte er nicht auf, neue Ausdrucksformen auszuprobieren, wie nicht zuletzt der kleine Band "Hündchen am Wegesrand" zeigt - eine Mischung aus Lyrik und Miniaturprosa. Er bescherte Milosz einen überraschenden Erfolg: 1998 bekam er dafür den renommierten Nike-Preis. Dabei wollte er darin nur ein weiteres Mal über sein Leben nachdenken. Über Gott, über Menschen, die er einst gekannt und geliebt hatte, über den nahenden Tod. Und darüber, wie man sich in Zukunft an ihn erinnern wird.

    Biographien sind wie Schneckenhäuser. Man wird nicht viel über das Wesen erfahren, das einmal darinnen gewohnt hat. Selbst angesichts meines eigenen, eng mit meinem literarischen Werk verbundenen Lebens beschleicht mich das Gefühl, ich hätte eine leere Hülse zurückgelassen.

    Artur Beckers Band "Allerseelen. Essays, Publizistik und Skizzen" wird im Herbst im Weissbooks-Verlag erscheinen. Sein Lyrikband "Ein Kiosk mit elf Millionen Nächten", der eine Auswahl von Milosz' Gedichten enthält, ist 2009 im Stint-Verlag erschienen und kostet 18.90 Euro.