Münkler: "Einen gewissen Drive bekam das Ganze noch einmal, als ich im Gespräch mit dem damaligen Kanzleramtschef Steinmeier gesucht habe nach einer griffigen Formel, wie man das, was dann sehr griffig als Hartz I, II, III, IV und als Agenda 2010 benannt worden ist, einpacken kann ... Und wie man weiß, ist mir oder uns beiden da nichts eingefallen, was hinreichend griffig war... und das hab ich immer in hohem Maße ... als eine persönliche Niederlage empfunden. Und insofern hab ich gedacht, jetzt wird's Zeit, dass du dieses Buch schreibst und versuchst anhand des Umgangs der Deutschen mit ihren Mythen dir selber Klarheit zu verschaffen, warum du damals versagt hast."
Mythen, meint Herfried Münkler, Politologieprofessor an der Humboldt-Universität in Berlin, sind wichtig für das Selbstbewusstsein einer Nation. Sie schaffen Orientierung und Zuversicht: Das sind wir und wir werden die gegenwärtigen Herausforderungen bewältigen, weil es damals auch gelungen ist.
"Im Augenblick können wir doch sehen, wie die amerikanischen Bevölkerung mit Obama so etwas wie ihre mythische Verheißung gewählt hat und daraus Kraft schöpft. Ob das in der operativen Bewältigung der Krise auch greift, das werden wir beobachten, aber zunächst einmal ist hier der Rekurs auf den amerikanischen Mythos so etwas wie eine Melancholie, und Depressionsverhinderungsmaschine."
Yes we can", so die Botschaft des amerikanischen Präsidenten. Wenn wir den Idealen unserer Väter treu bleiben. Wenn wir uns daran erinnern, welche Krisen und Gefahren Amerika schon mutig bewältigt hat. Entsprechend stolz sind die Engländer auf ihre Epoche als größte Kolonialmacht der Geschichte. Die Franzosen wiederum hatten den Sturm auf die Bastille - und anschließend die Französische Revolution. - Und was hatten wir - die Deutschen? Heinrich Heine dichtete ironisch:
Das ist der Teutoburger Wald / Den Tacitus beschrieben / das ist der klassische Morast / wo Varus stecken geblieben.
Hier schlug ihn der Cheruskerfürst, / Der Hermann, der edle Recke / Die deutsche Nationalität / Die siegte in diesem Drecke!
Münkler: "Die Deutschen haben keine Revolution, auf die sie sich positiv beziehen können, wie das bei den Engländern und Amerikanern und Franzosen der Fall ist. Es gibt das eigentümliche Bemühen, in der antiimperialen Stoßrichtung gegen Rom und den alten Germanen so etwas zu beschreiben."
In den Wäldern des Teutoburger Waldes soll sie begonnen haben, die deutsche Geschichte. Als vor genau 2000 Jahren Hermann der Cherusker die römischen Legionen des Varus besiegte.
"Zunächst mal ist es ja relativ willkürlich darauf zurückzugreifen, denn so etwas wie Bewusstsein von Deutschheit war bei den Cheruskern nicht gegeben."
Man weiß von der Varusschlacht nur aus römischen Quellen. Und Römer waren es auch, die das Bild des blauäugigen, rotblonden, hünenhaften Germanen prägten. Der römische Geschichtsschreiber Tacitus hob ungefähr 100 nach Christus in seinem Bericht "Germania" die "Sittlichkeit der Hinterwäldler" hervor. Wahrscheinlich hatte er das "schaurige" Land mit seinen Wäldern und Sümpfen nie besucht. Doch weil er die Dekadenz der Römer kritisieren wollte, erschuf er das idealisierte Bild vom unverdorbenen, freiheitsliebenden, tapferen Barbaren, wenn auch mit einem übermäßigen Hang zum Würfelspiel und Bierkonsum. Die Frauen keusch, die Männer treu, hätten sich die Germanen nie mit fremden Stämmen vermischt. In den Rassetheorien des 19. und 20. Jahrhunderts wurde das in die Reinheit des Blutes übersetzt.
Von Anfang an war das Germanische das Gegenbild zum Römischen. Und der Kampf des Hermann gegen die römischen Legionen wurde unzählige Male als Vorbild herangezogen: Luther kämpfte gegen die römische Kirche. Dann wurde das Römische ausgeweitet auf das Romanische. Man kämpfte gegen Napoleon und alles Französische. Und Bismarcks Reichspolitik war gegen den Einfluss der römisch-katholischen Kirche gerichtet. - Allerdings war Hermann ja auch ein Rebell gewesen: antiimperial, anarchisch, eher für Freiheitskämpfe zu gebrauchen als für eine Reichsgründung. Und so verschwand der Cheruskerfürst manchmal im Orkus des Vergessens - und wurde bei Bedarf wieder hervorgeholt.
"Das erklärt auch, warum diese Schlacht im Teutoburger Wald immer mal wieder auftaucht und dann wieder verschwindet ... In dem Augenblick, als es kein deutsches Kaisertum mehr gibt, sich Napoleon die Kaiserkrone aufgesetzt hat, da ist es naheliegend, die Hermannssituation wieder aufzugreifen und Kleist hat das dann auch in dem Stück ‚die Hermannsschlacht' getan ... Das Problem mit Hermann stellt sich eigentlich erst ab 1871 wieder .... In dem Augenblick, wo die Kaiserkrone wieder in Berlin angekommen ist, da muss man den Hermann pazifizieren, dieses unruhige, widerständige Element. Und gewissermaßen tut man das, indem man ihm diese große Säule mit der gewaltigen Figur darauf in der Nähe von Detmold widmet."
Einfach war es auch mit den anderen mythischen Gestalten nicht. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts hatte in Deutschland eine Suche nach Nationalhelden und Nationalmythen eingesetzt, um das Besondere der Deutschen fassbar zu machen. Im Gegenzug übrigens zu den Franzosen, die mit ihrer Revolution von 1789 einen politischen Mythos geschaffen hatten, der seinesgleichen suchte. Vom Nibelungenlied bis zu Goethes Faust, vom Stauferkaiser Barbarossa bis zum Reformator Luther wurden Texte und Personen auf ihre Tauglichkeit zum nationalen Heldengesang getestet. Erfolgsgestalten gab es darunter kaum: Friedrich I. Barbarossa ertrank auf dem Weg nach Jerusalem, womit das Projekt seines Kreuzzugs ebenso scheiterte. Der furchtlose Siegfried fiel einer Intrige zum Opfer. Und Faust ließ sich mit dem Teufel ein. Anders gesagt: Der Deutsche steht mit Tod und Untergang auf Du. Er scheut die Katastrophe nicht, wenn es einem höheren Zweck dient. So dichtete Felix Dahn Mitte des 19. Jahrhunderts, als sich das noch ungeeinte Deutschland durch europäische Mächte bedroht fühlte:
Wir stiegen auf in Kampfgewittern, der Heldentod ist unser Recht: / Die Erde soll im Kern erzittern, / wann fällt ihr tapferstes Geschlecht: / Brach Etzels Haus in Glut zusammen, als er die Nibelungen zwang, / So soll Europa steh'n in Flammen bei der Germanen Untergang.
"Gleichzeitig sind die deutschen Mythen in hohem Maße dadurch bestimmt, dass innere Zerrissenheit, innere Gegensätze ja, der Bruderzwist gleichsam als ein auf der Nation lastender Fluch herausgestellt wird. Das kann man ja auch sehen, wenn man das Nibelungenlied mit seiner breiten Blutspur zu so etwas wie einem Nationalepos zu promovieren."
Und dann kommt das 20. Jahrhundert. Zwei Angriffskriege, ein zweimaliges politisch-militärisches Scheitern, der Völkermord der Nazis. Mit Hermann war man gegen Frankreich gezogen. Der Angriff auf die Sowjetunion trug den Decknamen "Unternehmen Barbarossa". Göring erklärte Stalingrad zu einer Neuauflage des Kampfes in Etzels Halle. Und Hitler forderte am Ende des Krieges Nibelungentreue von seinen Untertanen: nicht kapitulieren sollten sie, sondern mit ihrem Führer in den Tod gehen. Die dämonische, die "faustische" Seite der Deutschen war schreckliche Wirklichkeit geworden. Thomas Mann lässt deshalb Dr. Faustus, den genialen Komponisten, der sich dem Teufel verschrieben hat, zu einem Sinnbild Deutschlands zur Zeit des nationalsozialistischen Schreckens werden. - Die deutschen Mythen sind zertrümmert. Mit ihnen lässt sich buchstäblich kein Staat mehr machen.
"Eigentlich ist 1945 tabula rasa mit all den mythischen Erzählungen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts Repräsentanten deutschen Selbstbewussteins geworden sind. Und das ist ein Problem, das bis heute geblieben ist."
Die DDR freilich sah sich nicht beteiligt am fatalen Gang der deutschen Geschichte. "Auferstanden aus Ruinen" entwarf sie sich als "antifaschistisches Bollwerk" und kreierte damit ihren eigenen Mythos. Zwar war das Naziregime durch die Alliierten gestürzt worden und nicht durch die deutsche Arbeiterklasse. Doch die DDR sah das anders: dort hatten sich die Unermüdlichen der ersten Stunde gesammelt, die schon die Keime des Neuen setzten, als der Krieg in den letzten Zügen lag.
"Dieser Mythos verschafft aber auch vielen Bürgern der DDR bald ein gutes Gewissen.... die 17 Mio. in der DDR haben das Bewusstsein, eigentlich immer im Widerstand gewesen zu sein ... und insofern konnte die DDR sich leisten, den Mord an den europäischen Juden überhaupt nicht einzubeziehen in die Referenzialisierung dieser Zeit."
Die Bundesrepublik wiederum verdrängte zunächst einmal die Schuld am Gewesenen. Sie begann - Trümmerbewältigung. Zudem verstand sie sich als politisches Provisorium, das nur bis zu jenem Zeitpunkt bestehen würde, bis alle Deutschen über die politische Ordnung entscheiden könnten. Keine Ära für Helden also! Statt dessen für banale, aber deshalb um so verlockendere Glücksvorstellungen:
"Wenn die Mütter froh die Kinder schwenken, / Wenn die Onkels Neffen Uhren schenken, / Wenn man Wohnung wechselt ohne Schein, / wenn wer's Auto kauft auch selber steuert / wenn man Hausrat, der nicht passt erneuert, wenn man Fleisch hat und lädt Freunde ein ...
"Alles was sich verknüpft mit dem Wirtschaftswunder würde ich als eine große mythische Gründungserzählung der westlichen Bundesrepublik begreifen. Eigentlich im klassischen Sinne staatsfern, repräsentationsarm, aber eine durchaus überzeugende Erklärung, weil im Nachhinein jeder der zu der entsprechenden Alterkohorte gehörte, sagen konnte, er sei dabei gewesen, er habe mitgewirkt an dem Erfolg, der sich dann eingestellt hat usw."
Die Bundesrepublik trat ins "postheroische Zeitalter" ein. Man kämpfte nicht mehr gegen Rom, man fuhr im Sommerurlaub nach Italien. Man strebte nicht nach faustischer Genialität, sondern nach dem ersten eigenen Volkswagen. Und Denkmäler boten sich vor allem als Ausflugsziel an. Die Konsummythen der Bundesrepublik waren banal. Aber sie überzeugten mehr als der "Antifa"-Mythos einer Republik mit realen Versorgungsengpässen und Reiseeinschränkungen. Eine konsumistische Gesellschaft verspricht keine letzten Lösungen, kein Ende der Geschichte, sondern nur - materielle Bedürfnisbefriedigung für möglichst viele. Shop till you drop - als Ideal. Und ist das nicht den großen, aber oft auch blutigen Utopien von einem letzten Sinn des Weltenlaufs vorzuziehen?
"Also Mythen sind gefährlich ... . Aber die daraus gezogene Schlussfolgerung, wenn wir alle diese Mythen beseitigt haben, dann können wir richtig gute und sinnvolle Politik machen, die ist gebunden daran, dass man keine schwierigen Situationen in der Politik zu bewältigen hat. Also in der Weise, dass man ein bedeutungsbegieriges Volk zufrieden stellen kann, indem man ihm einen besseren Konsum verspricht. Aber wenn man das nicht mehr kann, dann muss man auf die Bedeutungen zurückschauen."
Der 9. November 1989, der Tag des Mauerfalls, hätte, meint Heribert Münkler, die Chance für einen neuen, optimistischen Mythos der Deutschen geboten. Erstmals in der Geschichte hatte eine Revolution in Deutschland einen glücklichen Verlauf genommen, hatte das Volk selbst die Geschichte herumgerissen. Die Story, die Bilder, durch die politische Mythen lebendig werden, waren im Überfluss vorhanden: eine planlos wirkende Führung in Ostberlin, das dramatische Zusammentreffen von DDR-Passierwilligen und Grenztruppen vor den Grenzübergängen - und schließlich der Mauertanz junger Berliner, die sich um die Grenzer nicht mehr scherten.
Die Chance, den 9. November zum Staatsfeiertag zu erheben, wurde nicht wahrgenommen - der Tag der Wiedervereinigung wurde auf den 3. Oktober festgelegt. Für Herfried Münkler ist das beispielhaft dafür, dass Deutschland zu einer nahezu "mythenfreien Zone" geworden ist. Hat etwa die "German Angst", die sprichwörtliche Verzagtheit der Deutschen angesichts politischer und gesellschaftlicher Herausforderungen mit dieser Mythenarmut zu tun? Depression statt "yes we can" - weil wir keine historischen Erfolgsgeschichten haben? Über diese Leere, meint Münkler, können auch mediale Hohlphrasen wie "Wir sind Papst" oder "Du bist Deutschland" nicht hinwegtäuschen.
Obwohl - entdecken die Deutschen nicht langsam ihren Nationalstolz neu? Wird nicht mittlerweile auch von liberalen Intellektuellen die Haltung eines "unverkrampften Patriotismus" diskutiert? Die Einschaltquoten der ZDF-Serie "Die Deutschen", die im vergangenen Jahr im ZDF lief, verdeutlichten, dass "wir" uns wieder mit unserer Geschichte beschäftigen. Sollten da nicht auch historische Symbole und Orte neu entdeckt werden?
"Wenn man nicht ganz aufgehen will in Europa, sondern eine spezifische Repräsentation aufrechterhalten will, dann ist man auf mythische Erzählungen angewiesen, die auch so etwas wie Stolz und Selbstbewusstsein generieren, da soll man sich nichts vormachen. Und wenn man dieses Feld politisch nicht bewältigt, überlässt man es Gruppierungen, die sehr unangenehm sind. Man überlässt es den Rechten."
Herfried Münkler: " Die Deutschen und ihre Mythen", Rowohlt Berlin, 19.90 Euro
Mythen, meint Herfried Münkler, Politologieprofessor an der Humboldt-Universität in Berlin, sind wichtig für das Selbstbewusstsein einer Nation. Sie schaffen Orientierung und Zuversicht: Das sind wir und wir werden die gegenwärtigen Herausforderungen bewältigen, weil es damals auch gelungen ist.
"Im Augenblick können wir doch sehen, wie die amerikanischen Bevölkerung mit Obama so etwas wie ihre mythische Verheißung gewählt hat und daraus Kraft schöpft. Ob das in der operativen Bewältigung der Krise auch greift, das werden wir beobachten, aber zunächst einmal ist hier der Rekurs auf den amerikanischen Mythos so etwas wie eine Melancholie, und Depressionsverhinderungsmaschine."
Yes we can", so die Botschaft des amerikanischen Präsidenten. Wenn wir den Idealen unserer Väter treu bleiben. Wenn wir uns daran erinnern, welche Krisen und Gefahren Amerika schon mutig bewältigt hat. Entsprechend stolz sind die Engländer auf ihre Epoche als größte Kolonialmacht der Geschichte. Die Franzosen wiederum hatten den Sturm auf die Bastille - und anschließend die Französische Revolution. - Und was hatten wir - die Deutschen? Heinrich Heine dichtete ironisch:
Das ist der Teutoburger Wald / Den Tacitus beschrieben / das ist der klassische Morast / wo Varus stecken geblieben.
Hier schlug ihn der Cheruskerfürst, / Der Hermann, der edle Recke / Die deutsche Nationalität / Die siegte in diesem Drecke!
Münkler: "Die Deutschen haben keine Revolution, auf die sie sich positiv beziehen können, wie das bei den Engländern und Amerikanern und Franzosen der Fall ist. Es gibt das eigentümliche Bemühen, in der antiimperialen Stoßrichtung gegen Rom und den alten Germanen so etwas zu beschreiben."
In den Wäldern des Teutoburger Waldes soll sie begonnen haben, die deutsche Geschichte. Als vor genau 2000 Jahren Hermann der Cherusker die römischen Legionen des Varus besiegte.
"Zunächst mal ist es ja relativ willkürlich darauf zurückzugreifen, denn so etwas wie Bewusstsein von Deutschheit war bei den Cheruskern nicht gegeben."
Man weiß von der Varusschlacht nur aus römischen Quellen. Und Römer waren es auch, die das Bild des blauäugigen, rotblonden, hünenhaften Germanen prägten. Der römische Geschichtsschreiber Tacitus hob ungefähr 100 nach Christus in seinem Bericht "Germania" die "Sittlichkeit der Hinterwäldler" hervor. Wahrscheinlich hatte er das "schaurige" Land mit seinen Wäldern und Sümpfen nie besucht. Doch weil er die Dekadenz der Römer kritisieren wollte, erschuf er das idealisierte Bild vom unverdorbenen, freiheitsliebenden, tapferen Barbaren, wenn auch mit einem übermäßigen Hang zum Würfelspiel und Bierkonsum. Die Frauen keusch, die Männer treu, hätten sich die Germanen nie mit fremden Stämmen vermischt. In den Rassetheorien des 19. und 20. Jahrhunderts wurde das in die Reinheit des Blutes übersetzt.
Von Anfang an war das Germanische das Gegenbild zum Römischen. Und der Kampf des Hermann gegen die römischen Legionen wurde unzählige Male als Vorbild herangezogen: Luther kämpfte gegen die römische Kirche. Dann wurde das Römische ausgeweitet auf das Romanische. Man kämpfte gegen Napoleon und alles Französische. Und Bismarcks Reichspolitik war gegen den Einfluss der römisch-katholischen Kirche gerichtet. - Allerdings war Hermann ja auch ein Rebell gewesen: antiimperial, anarchisch, eher für Freiheitskämpfe zu gebrauchen als für eine Reichsgründung. Und so verschwand der Cheruskerfürst manchmal im Orkus des Vergessens - und wurde bei Bedarf wieder hervorgeholt.
"Das erklärt auch, warum diese Schlacht im Teutoburger Wald immer mal wieder auftaucht und dann wieder verschwindet ... In dem Augenblick, als es kein deutsches Kaisertum mehr gibt, sich Napoleon die Kaiserkrone aufgesetzt hat, da ist es naheliegend, die Hermannssituation wieder aufzugreifen und Kleist hat das dann auch in dem Stück ‚die Hermannsschlacht' getan ... Das Problem mit Hermann stellt sich eigentlich erst ab 1871 wieder .... In dem Augenblick, wo die Kaiserkrone wieder in Berlin angekommen ist, da muss man den Hermann pazifizieren, dieses unruhige, widerständige Element. Und gewissermaßen tut man das, indem man ihm diese große Säule mit der gewaltigen Figur darauf in der Nähe von Detmold widmet."
Einfach war es auch mit den anderen mythischen Gestalten nicht. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts hatte in Deutschland eine Suche nach Nationalhelden und Nationalmythen eingesetzt, um das Besondere der Deutschen fassbar zu machen. Im Gegenzug übrigens zu den Franzosen, die mit ihrer Revolution von 1789 einen politischen Mythos geschaffen hatten, der seinesgleichen suchte. Vom Nibelungenlied bis zu Goethes Faust, vom Stauferkaiser Barbarossa bis zum Reformator Luther wurden Texte und Personen auf ihre Tauglichkeit zum nationalen Heldengesang getestet. Erfolgsgestalten gab es darunter kaum: Friedrich I. Barbarossa ertrank auf dem Weg nach Jerusalem, womit das Projekt seines Kreuzzugs ebenso scheiterte. Der furchtlose Siegfried fiel einer Intrige zum Opfer. Und Faust ließ sich mit dem Teufel ein. Anders gesagt: Der Deutsche steht mit Tod und Untergang auf Du. Er scheut die Katastrophe nicht, wenn es einem höheren Zweck dient. So dichtete Felix Dahn Mitte des 19. Jahrhunderts, als sich das noch ungeeinte Deutschland durch europäische Mächte bedroht fühlte:
Wir stiegen auf in Kampfgewittern, der Heldentod ist unser Recht: / Die Erde soll im Kern erzittern, / wann fällt ihr tapferstes Geschlecht: / Brach Etzels Haus in Glut zusammen, als er die Nibelungen zwang, / So soll Europa steh'n in Flammen bei der Germanen Untergang.
"Gleichzeitig sind die deutschen Mythen in hohem Maße dadurch bestimmt, dass innere Zerrissenheit, innere Gegensätze ja, der Bruderzwist gleichsam als ein auf der Nation lastender Fluch herausgestellt wird. Das kann man ja auch sehen, wenn man das Nibelungenlied mit seiner breiten Blutspur zu so etwas wie einem Nationalepos zu promovieren."
Und dann kommt das 20. Jahrhundert. Zwei Angriffskriege, ein zweimaliges politisch-militärisches Scheitern, der Völkermord der Nazis. Mit Hermann war man gegen Frankreich gezogen. Der Angriff auf die Sowjetunion trug den Decknamen "Unternehmen Barbarossa". Göring erklärte Stalingrad zu einer Neuauflage des Kampfes in Etzels Halle. Und Hitler forderte am Ende des Krieges Nibelungentreue von seinen Untertanen: nicht kapitulieren sollten sie, sondern mit ihrem Führer in den Tod gehen. Die dämonische, die "faustische" Seite der Deutschen war schreckliche Wirklichkeit geworden. Thomas Mann lässt deshalb Dr. Faustus, den genialen Komponisten, der sich dem Teufel verschrieben hat, zu einem Sinnbild Deutschlands zur Zeit des nationalsozialistischen Schreckens werden. - Die deutschen Mythen sind zertrümmert. Mit ihnen lässt sich buchstäblich kein Staat mehr machen.
"Eigentlich ist 1945 tabula rasa mit all den mythischen Erzählungen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts Repräsentanten deutschen Selbstbewussteins geworden sind. Und das ist ein Problem, das bis heute geblieben ist."
Die DDR freilich sah sich nicht beteiligt am fatalen Gang der deutschen Geschichte. "Auferstanden aus Ruinen" entwarf sie sich als "antifaschistisches Bollwerk" und kreierte damit ihren eigenen Mythos. Zwar war das Naziregime durch die Alliierten gestürzt worden und nicht durch die deutsche Arbeiterklasse. Doch die DDR sah das anders: dort hatten sich die Unermüdlichen der ersten Stunde gesammelt, die schon die Keime des Neuen setzten, als der Krieg in den letzten Zügen lag.
"Dieser Mythos verschafft aber auch vielen Bürgern der DDR bald ein gutes Gewissen.... die 17 Mio. in der DDR haben das Bewusstsein, eigentlich immer im Widerstand gewesen zu sein ... und insofern konnte die DDR sich leisten, den Mord an den europäischen Juden überhaupt nicht einzubeziehen in die Referenzialisierung dieser Zeit."
Die Bundesrepublik wiederum verdrängte zunächst einmal die Schuld am Gewesenen. Sie begann - Trümmerbewältigung. Zudem verstand sie sich als politisches Provisorium, das nur bis zu jenem Zeitpunkt bestehen würde, bis alle Deutschen über die politische Ordnung entscheiden könnten. Keine Ära für Helden also! Statt dessen für banale, aber deshalb um so verlockendere Glücksvorstellungen:
"Wenn die Mütter froh die Kinder schwenken, / Wenn die Onkels Neffen Uhren schenken, / Wenn man Wohnung wechselt ohne Schein, / wenn wer's Auto kauft auch selber steuert / wenn man Hausrat, der nicht passt erneuert, wenn man Fleisch hat und lädt Freunde ein ...
"Alles was sich verknüpft mit dem Wirtschaftswunder würde ich als eine große mythische Gründungserzählung der westlichen Bundesrepublik begreifen. Eigentlich im klassischen Sinne staatsfern, repräsentationsarm, aber eine durchaus überzeugende Erklärung, weil im Nachhinein jeder der zu der entsprechenden Alterkohorte gehörte, sagen konnte, er sei dabei gewesen, er habe mitgewirkt an dem Erfolg, der sich dann eingestellt hat usw."
Die Bundesrepublik trat ins "postheroische Zeitalter" ein. Man kämpfte nicht mehr gegen Rom, man fuhr im Sommerurlaub nach Italien. Man strebte nicht nach faustischer Genialität, sondern nach dem ersten eigenen Volkswagen. Und Denkmäler boten sich vor allem als Ausflugsziel an. Die Konsummythen der Bundesrepublik waren banal. Aber sie überzeugten mehr als der "Antifa"-Mythos einer Republik mit realen Versorgungsengpässen und Reiseeinschränkungen. Eine konsumistische Gesellschaft verspricht keine letzten Lösungen, kein Ende der Geschichte, sondern nur - materielle Bedürfnisbefriedigung für möglichst viele. Shop till you drop - als Ideal. Und ist das nicht den großen, aber oft auch blutigen Utopien von einem letzten Sinn des Weltenlaufs vorzuziehen?
"Also Mythen sind gefährlich ... . Aber die daraus gezogene Schlussfolgerung, wenn wir alle diese Mythen beseitigt haben, dann können wir richtig gute und sinnvolle Politik machen, die ist gebunden daran, dass man keine schwierigen Situationen in der Politik zu bewältigen hat. Also in der Weise, dass man ein bedeutungsbegieriges Volk zufrieden stellen kann, indem man ihm einen besseren Konsum verspricht. Aber wenn man das nicht mehr kann, dann muss man auf die Bedeutungen zurückschauen."
Der 9. November 1989, der Tag des Mauerfalls, hätte, meint Heribert Münkler, die Chance für einen neuen, optimistischen Mythos der Deutschen geboten. Erstmals in der Geschichte hatte eine Revolution in Deutschland einen glücklichen Verlauf genommen, hatte das Volk selbst die Geschichte herumgerissen. Die Story, die Bilder, durch die politische Mythen lebendig werden, waren im Überfluss vorhanden: eine planlos wirkende Führung in Ostberlin, das dramatische Zusammentreffen von DDR-Passierwilligen und Grenztruppen vor den Grenzübergängen - und schließlich der Mauertanz junger Berliner, die sich um die Grenzer nicht mehr scherten.
Die Chance, den 9. November zum Staatsfeiertag zu erheben, wurde nicht wahrgenommen - der Tag der Wiedervereinigung wurde auf den 3. Oktober festgelegt. Für Herfried Münkler ist das beispielhaft dafür, dass Deutschland zu einer nahezu "mythenfreien Zone" geworden ist. Hat etwa die "German Angst", die sprichwörtliche Verzagtheit der Deutschen angesichts politischer und gesellschaftlicher Herausforderungen mit dieser Mythenarmut zu tun? Depression statt "yes we can" - weil wir keine historischen Erfolgsgeschichten haben? Über diese Leere, meint Münkler, können auch mediale Hohlphrasen wie "Wir sind Papst" oder "Du bist Deutschland" nicht hinwegtäuschen.
Obwohl - entdecken die Deutschen nicht langsam ihren Nationalstolz neu? Wird nicht mittlerweile auch von liberalen Intellektuellen die Haltung eines "unverkrampften Patriotismus" diskutiert? Die Einschaltquoten der ZDF-Serie "Die Deutschen", die im vergangenen Jahr im ZDF lief, verdeutlichten, dass "wir" uns wieder mit unserer Geschichte beschäftigen. Sollten da nicht auch historische Symbole und Orte neu entdeckt werden?
"Wenn man nicht ganz aufgehen will in Europa, sondern eine spezifische Repräsentation aufrechterhalten will, dann ist man auf mythische Erzählungen angewiesen, die auch so etwas wie Stolz und Selbstbewusstsein generieren, da soll man sich nichts vormachen. Und wenn man dieses Feld politisch nicht bewältigt, überlässt man es Gruppierungen, die sehr unangenehm sind. Man überlässt es den Rechten."
Herfried Münkler: " Die Deutschen und ihre Mythen", Rowohlt Berlin, 19.90 Euro