Dienstag, 21. Mai 2024

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Vom Transitland zur Endstation

Sie träumen von einem Neubeginn im Westen, und der Westen beginnt für viele Migranten aus Tschetschenien, Inguschetien und Kasachstan in Polen. Früher war Polen nur eine Station auf dem Weg weiter westwärts, doch das hat sich geändert, seit Polen im Mai 2004 der Europäischen Union beitrat. Nun sind die Menschen gezwungen, an der polnischen Grenze Asyl zu beantragen und in dem Land zu bleiben, in dem sie ihren ersten Asylantrag gestellt haben.

Eine Sendung von Jan Uwe Stahr und Wojtek Mroz, Redakteurin am Mikrofon: Britta Fecke | 22.04.2006
    Denn mit dem EU-Beitritt gilt auch in Polen das so genannte Dublin-II-Abkommen: Es legt fest, dass Asyl immer nur in einem Land beantragt werden kann. Dieses Land ist dann für die Flüchtlinge zuständig und bleibt es selbst wenn sie in einen Drittstaat weiterziehen.

    Die alten EU-Mitgliedsstaaten haben es sich einiges kosten lassen, die "Festung Europa" zu schützen: über 170 Million Euro erhielt Polen aus Brüssel für die Sicherung der östlichen Grenze. Mit den Hilfsgeldern wurden aber auch Aufnahmezentren eingerichtet, Herbergen für die offiziell gemeldeten Flüchtlinge. 16 Aufnahmezentren gibt es inzwischen, die Mehrzahl im Osten des Landes. Etwa 40 Kilometer östlich von Warschau, versteckt in einem Kiefernwald liegt eine ehemalige Kaserne der sowjetischen Armee. Bis zu 400 Asylbewerber können hier untergebracht werden. Im Moment warten im Aufnahmeheim Lienin 250 Menschen auf ihr Anerkennungsverfahren.



    Haus der Hoffnung - Besuch im Aufnahmeheim

    Im Erdgeschoss dröhnt ein Fernseher. Männer hocken davor auf Plastikstühlen. kahl geschorene Kämpfertypen. Dazwischen Kinder, Mütter. Und ein uniformierter Sicherheitsmann. Die meisten unserer Heimbewohner kommen aus dem Kaukasus, sagt die Heimleiterin. Aus Tschetschenien und Inguschetien. Dann begrüßt sie das Paar, das auf der Treppe steht und wartet.
    Es sind Danil und Gira. 38 und 35 Jahre alt. Verheiratet, fünf Kinder. Sie kommen aus Inguschetien. Und sind seit sechs Monaten im Aufnahmeheim Linin. Die beiden lächeln schüchtern. Sie haben sich feingemacht für den Besuch aus Deutschland. Danil, ein drahtiger Waldarbeiter, zupt unsicher an den Manschetten seines frisch gebügelten Hemdes. Gira steht einen Meter hinter ihm, streicht ihre geblümte Bluse glatt. Ihr Kopftuch trägt sie hinten zusammengebunden. Wie es üblich ist, auf den Dörfern im Kaukasus. Danil und Gira wohnen jetzt im Zimmer Nummer 108. Zusammen mit ihren fünf Kindern. Sie bitten uns herein.

    Gira: "Moska schläft hier, Janeta da. Hier schläft unser Sohn Aschab. Und die beiden Kleinen, mein Mann und ich – wir schlafen dahinten"

    Gira zeigt auf sieben Betten. Sie sind mit grauen Filzdecken bezogen. Zwei graue Kleiderschränke aus Metall teilen den großen, etwa sechs mal sechs Meter messenden Raum in zwei Hälften. Das Zimmer ist im freundlichen Hellgelb gestrichen. Penibel aufgeräumt, klinisch rein. Kein einziges Bild an der Wand. Keine Blume, keine Zimmerpflanzen. Auf dem Tisch stehen duftende frische Pfannkuchen mit Fleischfüllung. Und geriebene Möhren.
    Danil: "Bitte nehmen Sie Platz und probieren Sie!"

    Danil rückt zwei Stühle heran.

    "Das sind Bischli, unser Nationalgericht aus Inguschetien."

    Danil und seine Frau sind Moslems, wie die meisten Inguscheten. Sie sprechen Inguschetisch und Russisch. Denn ihr kleines Heimatland gehört zu Russland. Es gibt dort hohe Berge und schöne alte Wälder. Danil lächelt, aber seine hellbraunen Augen sehen traurig aus. Warum sie weggegangen sind? Ich hatte Angst um meine Kinder, sagt Danil. Immer wieder kamen diese bewaffneten, schwarz maskierten Männer über die nahe Grenze zu Tschetschenien.

    "Sie kamen immer in der Nacht. Das waren so ungefähr 15 Männer, die waren immer maskiert und bewaffnet. Sie haben meinen 75jährigen Nachbarn erschossen. Vor den Augen der Kinder. Es war schrecklich. So etwas machen nur diese Sonderkommandos. Das müssen diese Spezialkommandos gewesen sein."

    Spezialeinheiten der russischen Armee, vermutet Danil. Während der Arbeit im Wald sei er von den maskierten Männern zusammengeschlagen worden. Auch die wirtschaftliche Situation wurde immer schlimmer: Das Geld reichte nicht mehr, um die Familie zu ernähren. Und es gab keine medizinische Hilfe für seine älteste Tochter, sie ist neun und leidet an einer fortschreitenden Lähmung. Danil wollte nur noch weg mit seiner Familie. Im letzten Herbst bekamen sie dann endlich die Reisepässe von den Behörden. "Da haben wir unsere Koffer gepackt und sind losgefahren".

    Danil schaut zu Gira herüber, sie nickt Mehrere Tage dauerte die Reise. Über Weißrußland kamen sie schließlich an die polnische Grenze. Dort wurden sie erst einmal von den polnischen Beamten verhört:

    "Sie haben mich gefragt, ob ich nach Deutschland oder Frankreich oder Belgien fahren will. Ich habe geantwortet: Mein Ziel ist Polen. Ich will hier bleiben und will hier leben. Wenn ich aufgenommen werde. Ich will nicht, dass meine Kinder Waisenkinder werden."

    Das war vor einem halben Jahr, im Herbst. Seitdem ist die Familie aus Inguschetien hier. Wartet. Versucht ein geregeltes Alltagsleben zu schaffen. Zumindest für die fünf Kinder. Die älteste Tochter ist neun. Der Kleinste erst zwei. Er hält sich am Rock seiner Mama fest. "Wir wollen uns nicht beschweren, uns geht es gut hier", sagt Gira.

    "Wir stehen morgens um sieben auf, dann frühstücken wir. Die Kinder gehen hier zur Schule. Nach dem Mittagessen gehen wir raus, spazieren. Danach machen die Kinder Hausaufgaben. Dann gibt es Abendbrot, wir gucken noch ein wenig Fernsehen und dann gehen wir ins Bett. Ab und zu spielen wir noch ."
    Es gibt sogar eine eigene Lehrerin im Heim, die den Kindern nach der Schule beim polnisch lernen hilft. Vater Danil kann hin und wieder ein paar Tage arbeiten. Auf einer Baustelle oder in der benachbarten Obstplantage. Egal, was es gibt, er nehme jede Arbeit an.

    Danil: "Wenn ich eine positive Antwort bekomme, dann suche ich eine eigene Wohnung. Es wird noch zwei oder anderthalb Monate dauern, bis ich eine Antwort kriege."
    Jeden Tag fragen uns die Kinder, wie es weitergeht. Es ist eine große Anspannung für die ganze Familie. Der Inguschete steht am Fenster und schaut hinaus. Die Ausländerbehörde in Warschau wird über ihr Schicksal entscheiden.

    "Wenn wir eine Ablehnung bekommen, dann müssen wir zurück nach Hause. Wir kriegen keine Erlaubnis hier länger zu bleiben. Aber wir haben nicht vor dann zurückzufahren. Wenn eine negative Antwort kommt, werden wir versuchen weiter zu fahren - nach Österreich oder nach Deutschland. Auch wenn wir aus Polen weg müssen – wir haben nicht vor Europa zu verlassen."


    Die europäische Geschichte ist auch eine Migrationsgeschichte. Die Gründe der Wanderung ganzer Völker oder einzelner Gruppen sind vielfältig: Flucht und Vertreibung, aber auch wirtschaftliche und soziale Motive ließen den Menschen ein- und auswandern. Die Umsiedlungs- und Verreibungspolitik im Zweiten Weltkrieg beschreibt der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch in seinem Essay "Mein Europa". Es erschien 2004 im Suhrkamp-Verlag.

    Seit der EU-Erweiterung ist die 1300 Kilometer lange Ostgrenze Polens die Außengrenze der EU. Wer sie ohne Visum als Flüchtling überschreiten will, muss seine Daten inklusive der Fingerabdrücke registrieren lassen in einer zentralen Datei der EU, dem so genannten EURODAC-System. So kann schnell ermittelt werden, in welchem Land die Flüchtlinge zuerst Asyl beantragt haben. Dahin geht es zurück.
    In Polen ist die Zahl der Asylanträge seit Beginn der 90ger Jahre stetig gestiegen, im vergangenen Jahr wurden rund 7000 Anträge bearbeitet. Nur sehr wenige Flüchtlinge erhalten eine Anerkennung, das liegt aber auch daran, dass viele Asylsuchende das Ende des Verfahrens in Polen nicht abwarten, sondern weiter westwärts ziehen.

    Abgelehnte Asylbewerber können in Polen den Status der Duldung erlangen. Die Geduldeten erhalten eine Arbeitserlaubnis, aber keine staatliche Unterstützung mehr. Sie dürfen das Land nicht verlassen, aber sie werden auch nicht abgeschoben.

    Die zentrale Behörde, die über das Schicksal der Asylbewerber entscheidet ist das Ausländeramt, kurz URIC. Es befindet sich in einem renovierten Altbau in der Warschauer Innenstadt. Das Büro des stellvertretenden URIC-Chefs ist im vierten Stock:



    Verwaltung des Schicksals - Die polnische Ausländerbehörde

    Jan Wegrzyn steht neben seinem Schreibtisch und telefoniert, wiegt beim Sprechen den kompakten Körper hin und her. Der 42-jährige Jurist trägt einen grauen Anzug und einen grauen Pulli. Sein Schreibtisch ist penibel aufgeräumt. Genauso wie das Amtszimmer. Seit sechs Jahren leitet Jan Wegrzyn die URIC, die zentrale polnische Ausländerbehörde.

    "Ich liebe Action, ich mag keine langweilige Arbeit am Schreibtisch. Und hier an dieser Stelle ist Action."

    Wegrzyn reibt seine Hände in Brusthöhe aneinander, wie jemand, der gleich zupacken will. Zu tun gibt es genug. Die URIC ist nicht nur für die Umsetzung aller EU-Bestimmungen zur Behandlung von Migranten zuständig. Als Leiter der Warschauer Behörde kümmert sich Wegrzyn immer wieder auch um die Schicksale einzelner Flüchtlinge, die in den insgesamt 16 Aufnahmeheimen in ganz Polen untergebracht sind.

    Wegrzyn eilt ins Nebenzimmer, lässt sich von seiner Sekretärin, den täglichen Lagebericht aushändigen. Dann geht er zurück an seinen Schreibtisch, blättert den Schnellhefter durch.

    Die neuen Zahlen: Gestern haben insgesamt 58 Migranten ihre Anerkennung als Flüchtling beantragt. 48 davon aus Tschetschenien. Fast alles Migranten, die aus anderen EU-Ländern nach Polen zurückgeschickt wurden. Viele versuchen, illegal über die Grenzen in den Westen zu kommen, sagt Wegrzyn und tippt mit dem Zeigefinger auf eine Meldung in dem Lagebericht:

    "Zum Beispiel gestern: In einem Möbelwagen wurden 20 illegale Einwanderer geschnappt. In Gubinek, an der Grenze zu Deutschland. Mit großer Wahrscheinlichkeit Bürger aus Tschetschenien und Dagestan. Diese Migranten hatten schon in Polen einen Asylantrag gestellt."

    Wegrzyn legt den Lagebericht zur Seite. Seit Polens EU-Beitritt gilt für uns das so genannte Dublin-II-Abkommen, erklärt er. Darin ist festgelegt: Zuständig für den Migranten ist das Mitgliedsland, durch das er in die EU eingereist ist. "Und wir liegen nun mal an der Außengrenze", sagt Wegrzyn. "Viele Flüchtlinge aus dem Osten kommen zuerst über unsere Grenze. Auch wenn sie gar nicht hier bleiben wollen."

    "Es gibt auch Konflikte. Die drehen sich immer wieder um die Frage. Warum verjagt uns die EU immer wieder zurück nach Polen? Ich muss diesen Leuten dann erklären: Nicht wir sind die bösen Buben und fahren durch Europa und sagen den Ländern, schickt sie wieder nach Polen zurück. Sondern es ist umgekehrt: Die Union schickt uns die Leute zurück."

    Regelmäßig fährt der Behördenchef hinaus in die Aufnahmeheime, trifft dort auf Menschen, die durch Krieg und Gewalt traumatisiert sind und manchmal unberechenbar reagieren. "Auch darauf bin ich vorbereitet, sagt der Jurist, zieht seine dunklen Augenbrauen nach oben, blickt nachdenklich auf die Europakarte gegenüber an der Wand.

    "Vor einigen Jahren habe ich eine Spezialschulung gemacht. Das ging um Verhalten in Extremsituationen. Das, was ich dort gelernt habe, hilft mir hier in meinem Job."

    "Polen hat sich schon vor dem Beitritt gut auf die neue Rolle als Wächter der EU-Außengrenze vorbereitet", sagt Jan Wegrzyn, macht eine Kopfbewegung in Richtung des blauen Europawimpels, der neben dem rot-weißen polnischen im Regal steht. Viele Millionen Euro hat Brüssel nach Warschau überwiesen - für den Aufbau moderner Grenzschutzanlagen, für die Einrichtung neuer Flüchtlingsheime, für die Ausbildung und Einstellung qualifizierter Fachleute in der Ausländerbehörde. Der große Flüchtlingsstrom, den viele erwartet haben, ist aber ausgeblieben.

    "Vor dem Beitritt konnte man überall lesen: Polen wird von Immigranten überschwemmt werden. Das war aber nicht der Fall. Die meisten haben wir im Jahr 2004 registriert.: 8100 Leute. Im vergangenen Jahr waren es noch 6900. Und in diesem Jahr ist es sehr ruhig."

    Auch die Zahl der illegalen Grenzübertritte ist laut Statistik stark zurückgegangen. Jan Wegrzyn stützt sich mit beiden Händen gegen seine Schreibtischkante, runzelt sie Stirn. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum das Thema Migration in Polen überhaupt kein Thema ist. Nicht in der Öffentlichkeit und auch nicht in der Politik. Dabei muss der polnische Staat noch viel tun, sagt Wegrzyn

    "Das Problem ist: Was sollen die Flüchtlinge tun, wenn sie das Aufnahmeheim verlassen? Sie müssen ihr Leben praktisch von null neu anfangen: Sie sind ja hier nur mit zwei bis drei Koffern angekommen. Sie haben nichts, keine Arbeit, keine Wohnung. Sie können die polnische Sprache nicht. Sie haben schulpflichtige Kinder. Sie brauchen dringend Hilfe bei der Integration. Das sind die Probleme, die die Regierung angehen muss. Denn nach dem EU-Beitritt ist Polen kein Transitland mehr."


    Solange die Asylverfahren bearbeitet werden, haben die Flüchtlinge zumindest ein Dach über dem Kopf, zumeist das eines Aufnahmelagers. Ist das Verfahren abgeschlossen und der Antrag anerkannt oder der Flüchtling geduldet, wird seine Situation in der Regel nicht besser, sondern schlechter: er muss innerhalb von zwei Wochen das Aufnahmenzentrum verlassen, nur wohin? Eine Wohnung können die Migranten, die alles zurückließen, nicht bezahlen und selbst wenn, gibt es vielfach rassistische Ressentiments auf Seiten der Vermieter. Völlig auf sich allein gestellt landen viele Flüchtlinge auf der Straße. Die staatliche Unterstützung beschränkt sich lediglich auf einen kleinen Geldbetrag, maximal 1000 Zwoty, das sind 240 Euro pro Person monatlich. Nach einem Jahr wird auch das gestrichen.

    Allerdings erhalten Flüchtlinge mit einem positiven Asylbescheid eine Arbeitserlaubnis, bei einer Arbeitslosenquote in Polen von fast 20 Prozent ist die Chance nicht groß, aber immerhin gibt es eine. Außerdem haben die anerkannten Flüchtlinge Anspruch auf einen Sprachkurs. Den haben die Geduldeten nicht - und das sind weitaus mehr, als die anerkannten Zuwanderer.

    In einer Warschauer Schule probt regelmäßig die Theatergruppe Migrator, die Laien-Schauspieler kommen aus Afrika, dem Kaukasus und Vietnam. Mit ihrer Arbeit wollen sie auch einen Schritt tun, aus der Isolation in die Öffentlichkeit. Verbunden mit der kleinen Hoffnung auf Akzeptanz in der Fremde mit einer anderen Hautfarbe, mit einer anderen Religion.



    Migranten machen Theater - gemeinsam auf der Bühne

    15 Augenpaare richten sich auf den schwarzen Mann mit der weißen Baseball-Kappe: Simon Mol aus Kamerun, Autor und Regisseur des Migrator-Theaters. Mit energischen Schritten durchmisst er das leer geräumte Klassenzimmer, rezitiert englische Textpassagen. Dann sind seine Schauspieler dran, Laien zwischen 16 und 44 Jahren alt aus Togo, Kongo, Nigeria, Liberia, Aserbaidschan, Inguschetien und Vietnam.

    Drei der Mitwirkenden bewegen sich kreisförmig durch den Raum. Lesen ihren Text vom Blatt. Das Stück handelt von der Geschichte Afrikas. Von der Eroberung und Ausbeutung durch fremde Mächte. Von Unterdrückung und Krieg. Und dem Traum von Frieden und Freiheit. Die Texte sind Englisch, Französisch und Polnisch. Die Musik ist afrikanisch.

    Fast alle Mitwirkenden sind jetzt in Bewegung. Nur Einer erstreckt sich mit seinen fast zwei Metern teilnahmslos über ein altes Sofa und gähnt: Mawlat aus Inguschetien. Der 35-jährige soll einen Soldaten spielen. Aber er ist erst später dran. Warum er hier mitmacht? Mawlat streicht sein langes, pechschwarzes Haare aus dem hohlwangigen Gesicht. Er ist blass.

    "Ich mache es, um mein Polnisch zu verbessern. Hier gibt es kein Geld. Aber seitdem ich Theater spiele, spreche ich besser Polnisch."

    Seit einem Jahr sei er in Polen, sagt Mawlat. Seine schwarzen Augen gucken müde und traurig. Der Inguschete reibt seine lange Adlernase. Nein, er möchte nicht erzählen auf welchem Weg er nach Polen gekommen ist. Will keinen verraten. Bis zum Abschluss des Asylverfahrens hat er im Flüchtlingsheim gewohnt. Jetzt hat er immerhin eine Duldung. Das heißt, er darf vorerst in Polen bleiben, aber muss für sich selber sorgen. Deshalb wohnt er jetzt privat. Zur Untermiete.

    "Es ist schwer, eine Wohnung zu finden. Und ich habe Probleme mit dem Geld. Als ich noch im Heim war, habe ich 750 Sloty im Monat bekommen. Jetzt bekomme ich nichts mehr."

    Zu Hause in Inguschetien war er Balletttänzer, sagt Mawlatt. Ein kurzes Lächeln huscht über sein trauriges Adlergesicht. Und nun bringt er Kindern aus Tschetschenien das Tanzen bei, in einem Flüchtlingsheim. Aber Geld gibt es dafür auch nicht. Er ist völlig auf die Hilfe von polnischen Freunden angewiesen.

    "Ich weiß nicht genau wie es weitergehen soll. Aber wenn es so bleibt wie jetzt, fahre ich weiter in eine anderes Land. Die Probleme hier machen mich immer müder. Ich suche Arbeit, aber es gibt nichts."

    Der traurige blasse Riese erhebt sich von dem Sofa. Gleich hat er seinen Auftritt.

    Die Schauspieler tanzen ausgelassen und wild durcheinander. Die Musik kommt aus einem tragbaren Computer der polnischen Studenten. Fast alle Migranten hier haben mit ähnlichen Problemen zu kämpfen. Sie dürfen zwar arbeiten, aber sie finden keine Arbeit. Und keine eigene Wohnung, sagt Dahngbay Zuu aus dem westafrikanischen Liberia. Das helle Licht spiegelt sich auf seiner dunklen Stirn.

    "Kein Einwanderer, kein Flüchtling will hier in Polen bleiben. Die Gesellschaft hier ist geschlossen. Eine völlig geschlossene Gesellschaft. Das ist kein Witz: Ich lebe hier schon seit 20. Und noch immer fragen mich die Leute: Was machst Du hier? Was suchst Du in Polen? Ich sage dann: Ich weiß es auch nicht. Nur Gott weiß es."

    Dahngbay Zuu lacht laut. Er ist mit 44 Jahren der Älteste im Migranten-Theater und spielt einen afrikanischen König. Im wirklichen Leben in Warschau ist er Englischlehrer, unterrichtet auch in Flüchtlingsheimen und hat seit kurzem sogar die polnische Staatsangehörigkeit.

    Die Schlussszene vom Migrator-Bühnenstück: Alles tanzt , Afrika wird frei. Alle sind glücklich und lachen - sogar Mawlat, der dünne, traurige Ballettlehrer aus Inguschetien. Simon Mol, der Autor und Regisseur des Theaterstücke schiebt seine weiße Baseballkappe ins Genick und lächelt zufrieden.

    "Ich will dem Publikum auch zeigen, dass Afrika und Polen eine Menge Gemeinsamkeiten in der Geschichte haben,"

    sagt Simon Mol aus Kamerun. Es gehe ihm um die kulturelle Verständigung im Zeitalter der Globalisierung.
    "Globalisierung ist keine theoretische Sache. Wir erleben sie jetzt, ob es uns gefällt oder nicht. Deshalb müssen wir die Geschichte der Anderen verstehen, müssen ihre Kultur verstehen. Es geht um die Verständigung. Die meisten Probleme, vor denen wir stehen, könnten damit viel besser gelöst werden."
    Theater ist ein gutes Instrument für die Verständigung, findet Simon. Viel besser als die Politik. Schon bald, so hofft der Afrikaner, wird das Migranten-Theater in Warschau auf die Bühne kommen.


    Auch Kinder stranden in Polen. Minderjährige, die ohne Eltern oder nahe Verwandte sind. Die meisten kommen aus dem fernen Osten, Afrika oder aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Sie sind allein auf der Flucht vor Krieg und Hunger und auf ihrer Odyssee geht das Grauen weiter: Viele von ihnen wurden nach Angaben von polnischen Psychologen missbraucht und misshandelt.

    Die polnischen Behörden müssten einer "EU-Richtlinie über Mindestnormen" nachkommen und versuchen, die Familienangehörigen des Minderjährigen Flüchtlings zu finden. Doch die Praxis ist eine andere. Nichtregierungsorganisationen werfen den Behörden vor, nicht zu ermitteln, wer und wo die nächsten Verwandten sind, aus Angst diese könnten sich außerhalb der EU aufhalten und einen Anspruch auf eine Familienzusammenführung in Polen geltend machen.

    Bis zum Jahr 2004 sind 90 Prozent der unbegleiteten Kinder und Jugendlichen schon während des Verfahrens wieder verschwunden. Wer bleibt, landet mit Glück in einem der Kinderheime, wie das in Biolenka einem ruhigen Vorort im Norden von Warschau. Hier sollen die Kinder erst mal zur Ruhe kommen, zumindest für eine Weile:



    Allein in der Fremde - Kindermigranten im Waisenhaus

    Alisa ist zurück aus der Schule. Sie und Tatjana sind schon auf ihrem Zimmer. Es liegt am Ende des Flurs im oberen Stock des Kinderheims.

    "Ich bin Alisa. Ich bin 14 Jahre alt und komme aus der Ukraine."

    Selbstbewusst, fast schon ein bisschen erwachsen wirkt das Mädchen mit den braunen Haaren und den dunklen Augen. Alisa trägt einen Pferdeschwanz, ist ein bisschen pummelig und teilt sich das Zimmer mit Tajana. Sie ist erst zwölf, blond und ziemlich mager.

    An einer Wand hängen Poster von Harry Potter und Britney Spears. Gegenüber: Pferdebilder. Im Bücherregal: Stofftiere und allerlei Zeugs aus rosa Plastik. Ein Teenager-Zimmer, wie es wohl in ganz Europa sein könnte. Alisa, die Ältere der beiden, beginnt zu erzählen.

    "In der Ukraine habe sie bei einer 'Ersatzfamilie' gewohnt. Und mit dieser 'Ersatzfamilie' seien sie nach Westen ausgewandert, über mehrere Grenzen. Wie genau, das wisse sie nicht mehr, Nur dass sie zuerst in Polen waren und danach in Tschechien."

    Alisa steht vor ihrem kleinen Schreibtisch, hält beim Erzählen ihren großen Schreibblock an die Brust gedrückt, wie ein Schutzschild. Ihre rechte Hand drückt unablässig auf den Kugelschreiber.

    "Aus Tschechien wurden wir dann ausgewiesen. Und dann kam ich hier in das Kinderheim, zusammen mit meinem Bruder. Und, ja, es gefällt uns hier."

    Alisa blickt herüber zu Tatjana, ihrer zwei Jahre jüngeren Zimmergenossin. Das schlanke blonde Mädchen sitzt auf dem lila-farbenen Sofa und nickt heftig. Es will auch etwas erzählen, aber die Worte wollen einfach nicht kommen. Auch Tatjana ist aus der Ukraine. Und auch sie ist ohne ihre Eltern nach Polen gekommen. Was die beiden heute in der Schule gemacht haben? Alisa antwortet:

    "Wir haben heute Klassenarbeiten geschrieben. Polnisch. Mathematik und Biologie."

    Alisa packt jetzt ihre Schultasche aus. Legt Bücher, Hefte und Schreibstifte ordentlich nebeneinander auf den Tisch. Ihr Lieblingsfach? Geschichte. Und was sie später einmal werden will?

    "Ich möchte gerne Stewardess werden", "

    sagt das Mädchen. Ihre braunen Augen blicken entschlossen. Aber ich weiß nicht, ob ich das schaffe, es ist sehr schwer. Also vielleicht werde ich auch Frisörin. Auch Tatjana weiß schon, was sie später machen möchte:

    Schauspielerin, im Theater, sagt die Zwölfjährige.

    ""Solange bis geklärt ist, ob die Kinder eine Aufenthaltserlaubnis bekommen, bleiben sie bei uns","

    sagt Barbara Gajda, die Leiterin des Waisenheims. Die 48-jährige Erzieherin sitzt in ihrem kleinen, dunklen Büro. Sie muss noch Papierkram erledigen. Immer wieder nimmt das Heim ausländische Kinder auf, die ohne ihre Eltern in Polen aufgegriffen werden. Die meisten kommen aus der Ukraine und aus Tschetschenien. Aber auch ein Junge aus Sri Lanka ist gerade hier, 16 Jahre ist er alt. "Ein sehr intelligentes Kind", sagt Frau Gajda. Wie er es alleine bis nach Europa geschafft hat. Die Sozialpädagogin zuckt mit den Schultern.

    ""Ich kann Ihnen nicht sagen wie die Kinder ihre Flucht organisieren. Aber ich glaube, es gibt nationale Clans, die sich gegenseitig unterstützen. Woher sie das Geld haben, weiß ich nicht, und wie sie über die Grenzen kommen, weiß ich auch nicht. Aber auf jeden Fall schaffen sie es."

    Genauso wie die erwachsenen Migranten werden die Kinder von der Ausländerbehörde zum Interview vorgeladen. Dann muss entschieden werden, ob sie eine Anerkennung als Flüchtling erhalten. Viele Kinder wissen schon ziemlich genau, was sie den Behörden erzählen müssen, sagt Frau Gajda und nickt anerkennend. Fast so stolz wie eine Mutter auf ihre eigenen Kinder:

    "Unsere Welt ist ein globales Dorf geworden. Die Kinder haben heute Zugang zum PC. Per E-Mails werden Infos ausgetauscht. Sie wissen genau, was in der Heimat passiert, und sie können auch vor Gericht sehr gut begründen, warum sie geflohen sind. Das ist ganz anders als früher."

    Bis sie 18 Jahre alt sind, dürfen die Kindermigranten auf jeden Fall bleiben - auch dann, wenn sie von den Behörden keine Flüchtlingsanerkennung bekommen.

    Frau Gadja dreht ihren Kugelschreiber zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. Ihr freundliches Gesicht hat einen besorgten Ausdruck angenommen. "Aber viele der Kinder verschwinden plötzlich wieder", sagt sie.

    "Wenn sie uns verlassen, brechen sie die Kontakte zu uns ab. Aber sie halten oft noch Kontakt zu den anderen Flüchtlingskindern, telefonieren ab und zu. Deshalb wissen wir etwas über ihre Schicksale. Sie gehen weiter zum Beispiel nach Holland oder nach Deutschland. Aber ein Teil der Kinder bleibt auch hier. Einigen konnten wir helfen."

    Alissa und Tatjana, die beiden Mädchen aus der Ukraine werden bleiben, hofft die Leiterin des Kinderheims von Bialolenka.


    In Polen sind rund drei Millionen Menschen ohne Arbeit, das sind rund 20 Prozent. Fünf Millionen leben von der staatlichen Unterstützung. Die Löhne vieler polnischer Arbeiter liegen immer noch weit unter dem deutschen Sozialhilfeniveau, im Dienstleistungssektor wird noch schlechter verdient und das bei einem Mietspiegel, der sich zumindest in Warschau mit dem einer westdeutschen Stadt vergleichen lässt. Allein im letzten Jahr verließen eine Million Polen ihr Land.

    Für viele sind die Bedingungen an der Weichsel dennoch verlockend. Zigtausende vielleicht sogar Hunderttausende Einwanderer - genaue Zahlen gibt es nicht - reisen mit Touristenvisa aus dem südöstlichen Nachbarland ein, um in Polen zu arbeiten. Die Ukrainerinnen und Ukrainer sind billig und begehrt, besonders als Bauhelfer, Putzkraft und Prostituierte. Eine der vielen illegalen Arbeiterinnen ist Tatjana. Sie kommt aus Lvov, dem ehemaligen Lemberg, um in Polen zu putzen.



    Putzen für Polen - ukrainische Schwarzarbeiter

    Es ist 18.30 Uhr. Feierabendverkehr in Warschau. Autos drängen sich auf den breiten Straßen. Neuwagen die meisten. Nur wer kein Auto hat, fährt mit dem Bus. So wie Tatjana aus Lemberg. Die 38-jährige Ukrainerin steht an einer dunklen Haltestelle und wartet. Wind fährt durch ihr blondiertes Haar. Tatjana hat die Schultern hochgezogen, hält die Arme schützen vor dem Bauch. Die schlanke Frau friert in ihrem schicken Anorak und den dünnen Stoffhosen.

    Seit heute morgen um sechs ist sie auf den Beinen. Ein scheues Lächeln huscht über ihr schmales Gesicht. Die großen braunen Augen halten wachsam das Umfeld im Blick. Ihre elegante Lederhandtasche hält Tatjana unter dem rechten Arm geklemmt.

    Über eine Stunde ist sie heute zu ihrer Arbeit gefahren. Morgen früh muss sie in einen anderen Stadtteil. Der ist noch weiter weg von ihrer Wohnung.

    "Am Montag arbeite ich bei einer Familie, Dienstag bei einer andern, Mittwoch wieder bei einer anderen und so weiter."

    Sechs Tage in der Woche fährt die zierliche Ukrainerin in verschiedene Warschauer Privathaushalte - zum Putzen. Das ist ihr Job seit vier Jahren. Ohne Arbeitserlaubnis – schwarz. "Eigentlich bin ich eine Lehrerin", Tatjana schaut hinunter auf ihre neuen Schuhe. Biologie und Pädagogik hat sie in der Ukraine studiert. Außerdem ist sie gelernte Krankenschwester.

    "Ich habe viele Jahre im Krankenhaus gearbeitet. Der Lohn war sehr niedrig. Ich konnte gerade so davon leben. Aber dann wurde meine Mutter krank, sie bekam einen Schlaganfall. Danach brauchte sie viele, teure Medikamente. Damit wir die kaufen konnten, habe ich mir viel Geld geliehen. Aber von meinem Lohn als Krankenschwester konnte ich es nicht zurückzahlen. Dann traf ich eine Studienkollegin, die damals schon in Polen gearbeitet hat. Sie hat mir vorgeschlagen, auch rüber zu kommen. Und so bin ich gekommen."

    Nun verdient Tatjana mit dem Putzen in Polen 80 bis 100 Sloty am Tag, umgerechnet etwa 20 bis 25 Euro. Das ist viel mehr als eine Krankenschwester oder eine Lehrerin in der Ukraine bekommt. "Die Hälfte meines Lohnes ist für die Familie in der Ukraine", sagt Tatjana, für ihre Mutter, ihren Mann und die zwei Kinder. Dafür muss sie hier in sehr sparsam sein. Warschau ist teuer, auch die Wohnungen. Aber Tatjana hat sich arrangiert.
    "Ich wohne privat. Es gibt mehrere Zimmer. In jedem Zimmer wohnen drei Leute. Es gibt ein Bad und eine Küche. Dort, wo ich wohne, sind nur Frauen, die alle so arbeiten wie ich. Es gibt dort keine – Na, Sie wissen schon was ich meine. Keine einzige."

    Viele Frauen aus der Ukraine, die zum Geld verdienen in den Westen kommen, landen in der Prostitution.

    Der Bus ist da. Tatjana steigt ein. Sucht sich einen Stehplatz in der Enge. Nein, sagt sie, sie fühlt sich nicht als Fremde in Polen. "Die Leute sind sehr nett zu uns Ukrainern." Der Westen des Landes, dort wo Tatjana herkommt, gehörte früher zu Polen.

    Alle paar Monate fährt Tatjana rüber ins 400 Kilometer entfernte Lemberg, um ihre Familie zu sehen. um sich ein neues Touristen-Visum für Polen zu besorgen und um nach kurzer Zeit zurückzukehren, nach Warschau. "Ich mag diese pulsierende Großstadt" Die ukrainische Schwarzarbeiterin lächelt, streicht einen Staubfussel von ihrem weißen Anorak. Manchmal geht sie nach der Arbeit ins Kino oder ins Museum. Sonntags trifft sie sich mit anderen Ukrainern in der orthodoxen Kirche und danach zum Kaffee in der Altstadt. Und hin und wieder besucht sie auch den glitzernden Konsumtempel am rechten Ufer der Weichsel, das neue französische Einkaufszentrum "Courfurre". Auch heute Abend steigt sie hier aus.

    Tatjana schlendert durch die gläsern überdachte Einkaufswelt, blickt interessiert in die Schaufenster der edlen Boutiquen und auf die Preise.

    "Es gibt Unterschiede. Bei uns in der Ukraine kleiden sich die Menschen - wie soll ich sagen? – ziemlich aufgetakelt. Also hier in Polen legen die Leute mehr Wert auf praktische und bequeme Sachen. In der Ukraine macht die Leute mit ihren Klamotten viel zu viel Show."

    Tatjana hat sich einen der riesigen Einkaufswagen genommen, schiebt damit langsam durch die langen Warenregale des Edel-Supermarktes. Sie ist gekleidet wie eine Warschauerin. Sie spricht akzentfrei Polnisch. Sie fühlt sich sicher und frei in der polnischen Hauptstadt, obwohl sie hier illegal arbeitet. Aber die Polen haben viel Verständnis für die ukrainischen Schwarzarbeiter.

    "Einige haben mir erzählt, dass sie früher im Westen gearbeitet haben und wie schwer es war. Als es Polen noch schlecht ging, mussten sie weggehen nach Deutschland, nach Holland oder nach Frankreich. Ich hoffe dass es eines Tages auch bei uns in der Ukraine besser wird und wir nicht mehr weggehen müssen."

    Tatjana schiebt den großen Einkaufswagen an die Kasse. Er ist fast leer. Nur zwei Kleinigkeiten hat sie sich gekauft: ein Paket Kaffee und eine Haselnuss-Schokolade, beides Produkte aus ihrer Heimat, der Ukraine. Die zierliche Lehrerin legt die beiden Waren auf das Band, öffnet ihre elegante Lederhandtasche und greift zum Portmonee. Ihre Hände sind rau, vom vielen Putzen.

    Wer als Flüchtling nicht anerkannt wird und auch nicht den Status der Duldung erlangt, wird wieder abgeschoben. Es gibt keine konkreten Zahlen über das Ausmaß der Abschiebung. Im Jahr 2003 zum Beispiel wurden 8300 Menschen ausgewiesen. Aus der amtlichen Statistik geht aber nicht hervor, wie viele davon Flüchtlinge waren. Über 90 Prozent der Ausgewiesenen kamen aus dem östlichen Europa und Asien, allein 30 Prozent aus der Ukraine, was den Verdacht nährt, dass viele der Ausgewiesenen ukrainische Schwarzarbeiter ohne Visum waren. Nach Weißrussland wird nach Behördenangaben niemand abgeschoben, da es wegen der diktatorischen Staatsführung nicht als sicheres Drittland gilt.

    Die Versorgung der Flüchtlinge erfolgt ausschließlich aus polnischen Mitteln, die millionenschweren Beihilfen aus Brüssel dienten lediglich der Verwaltung und Sicherung der Ostgrenze, aber nicht humanitären Zwecken.

    Im ostpolnischen Bialystok hat sich das katholische Hilfswerk Caritas die Betreuung von Migranten zur Aufgabe gemacht. Regelmäßig fährt Priester Horaczy zu den Neuankömmlingen, die am Rande der Stadt wohnen. Zwei Familien leben zurzeit in der Unterkunft der Kirche: Es sind Spätaussiedler aus Kasachstan.



    Willkommen in der alten Heimat - Spätaussiedler aus Kasachstan

    Neben dem Holzhaus steht eine Scheune. Vor dem Gehöft wachsen Obstbäume. Priester Horaczy zeigt auf den Grillplatz neben der Kinderschaukel. "Für die Familien", sagt er und lächelt milde. Dann schreitet der schwergewichtige Gottesmann Richtung Wohnhaus. Es ist frisch gestrichen in Gelb und Weiß, den Farben des Papstes. Neben der Haustür: mehrere Paar Schuhe, ordentlich in einer Reihe. Zwei Familien aus Kasachstan hat die katholische Caritas hier untergebracht.

    Priester Horaczy zieht seine dunkelblaue Schlägermütze vom blondgelockten Haupt, klopft an einer hölzernen Wohnungstür. Hier wohnen die Malinowskis. Das Ehepaar Malinowski ist hoch erfreut über den Besuch des Priesters. Der ihnen in Polen einen so schönen Empfang bereitet hat. Die Familie aus dem mittelasiatischen Kasachstan kann ihr neues Glück in Europa noch immer nicht fassen: die netten Leute, das schöne Haus, die wunderbare Wohnung.

    "Wir sind wirklich erst vor kurzem angekommen. Wir wohnen erst eine Woche in dieser Wohnung. Das alles hier haben wir von der Caritas bekommen. Nochmals vielen, vielen Dank!"

    Mutter Luba zeigt auf die moderne Einbauküche. Vater Josef deutet auf die offene Tür zum Nachbarraum: Ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer. Auf dem Sofa sitzen Tochter Tanja und Sohn Dschenja, 11 und 19 Jahre alt. Auch sie lächeln zufrieden. Vier Tage lang war die Familie mit dem Zug unterwegs. 5000 Kilometer von bei Pietropawlowsk bis nach Bialystok.

    "Wir haben nur die Sachen mitgenommen, die für uns wertvoll sind. Das Meiste haben wir verkauft. Wir brauchten das Geld für die Fahrkarten. Ich zum Beispiel habe ein Bild mitgenommen, das ich vor langer Zeit von meiner Mutter bekommen habe."

    Vater Malinowski deutet auf ein altes Gemälde, das jetzt neben dem Wohnzimmerschrank hängt. Es zeigt Jesus. Josef Malinowski ist 43 Jahre alt, trägt Jeans und T-Shirt, wirkt sportlich und voller Tatendrang. In Kasachstan war ich ein Verwaltungsangestellter, sagt er. Warum sie dort weggezogen sind?

    "Ich finde, Kasachen sollen in Kasachstan wohnen. Weißrussen in Weißrussland Ukrainer in der Ukraine. Und wir Polen in Polen."

    Wenn Josef Malinowski spricht, blitzen seine vergoldeten Eckzähne im Mund. Wirtschaftlich sei es in Kasachstan jetzt zwar auch ganz gut geworden. Man könne alles kaufen in den Geschäften. "Aber", sagt Malinowski, "wir fühlen uns als Polen. Und darum geht es."

    Die Eltern von Josef Malinowski waren im Zweiten Weltkrieg von den Sowjets aus Ostpolen in die kasachische Steppe verschleppt worden. Wie Zehntausende andere auch. Aber nach dem Krieg blieben sie dort wohnen. Nun ist ihr Sohn Josef zurückgekehrt, ist froh, dass er jetzt Polnisch sprechen kann, statt Russisch wie in Kasachstan. Auch die Kinder lernen jetzt endlich fleißig Polnisch, sagt Malinowski. Und Luba seine Frau, die aus einer deutschstämmigen Familie stammt, aber bisher nur Russisch spricht.

    Luba lacht. Dann zieht die kleine kräftige Frau ein Adressbuch aus der Küchenschublade, klappt es auf: sie Anschriften ihrer beiden Schwestern. Sie sind schon vor sieben Jahren aus Kasachstan weggezogen. Nach Deutschland. Ob sie auch lieber nach Deutschland gegangen wäre anstatt nach Polen? Luba schüttelt den Kopf.

    "Von Anfang an haben wir gesagt: Wir fahren nach Polen Ich bin seine Frau, ich liebe ihn, wir haben gemeinsame Kinder. Also sind wir nach Polen gefahren."

    Wowa, der älteste Sohn der Nachbarfamilie, ist herübergekommen, will nur kurz etwas für Priester Horaczy abgeben. Wowas Familie kommt aus dem gleichen Dorf wie die Malinowskis.

    Die meisten dort sind schon weggegangen, sagt Wowa. Viele nach Polen und nach Deutschland Die Schule wurde geschlossen. Es sind vielleicht noch 160 Leute übriggeblieben. Es gibt dort praktisch nichts mehr zu tun.

    Hier in Polen ist es viel einfacher nach der Schule eine Arbeit zu finden, findet Wowa. Er geht jetzt in Bialystok auf die Fachoberschule für Technik. Und seine Eltern haben sehr schnell eine Arbeitsstelle gefunden, mithilfe der Caritas. Josef und Luba Malinowski nicken zustimmend.

    ""Die Caritas hat versprochen, bei den Behörden und bei der Arbeitssuche zu helfen. Wir haben ein Riesenglück","

    sagt Vater Malinowski. Seine Tochter ist bereits auf der neuen Schule angemeldet. Der Sohn bekommt einen Studienplatz an der Technischen Universität von Bialystok. Josef und Luba Malinowski blicken dankbar herüber zu Priester Horaczy. Der Gottesmann steht vor dem Jesusbild und lächelt. Für die Aussiedler aus Kasachstan erscheint Polen wie ein Paradies.