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Vom Trostwert der Kultur (6): Literatur

Schmitz: Das Theater, die Oper, die Religion, die Bildende Kunst und die Architektur haben wir bereits durchdekliniert nach ihrem Trost- und Glückspotential - was aber bietet die Literatur? Bis in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts hatte der Roman ja noch die Kraft und den Mut die komplizierte Welt mit ihren Zumutungen, die komplexen gesellschaftlichen Verhältnisse und die Situation des Einzelnen darin erzählend beschreiben und verstehen zu wollen. Bis die Sprache dann selbst in Ideologie-Verdacht geriet und das Erzählen selbst erzählend untersucht wurde. Bis etwa ein Peter Handke nach seinen sprachkritischen Anfängen zu Beginn der 70er wieder langsam heimkehrte biografisch und sprachlich und suchend nach der Stunde der wahren Empfindung, des epiphanischen glückhaften Augenblicks. Wie aber steht es heute mit der Glückssuche unter deutschsprachigen Autoren? Das habe ich meinen Kollegen Hubert Winkels aus der Literaturredaktion gefragt.

    Winkels: Schön, dass Sie Peter Handtkes "Langsame Heimkehr" angesprochen haben, da fiel mir nämlich eine berühmte Szene ein, in der er an einem Sonntag die Wandlung in der Heiligen Messe erlebt und die Transsubstantiation feiert als großen Glücksmoment. Dieses Moment eines metaphysisch bezogenen Glücks ist, glaube ich, in der Zeit, die seither vergangen ist, das sind, ich schätze einmal, 25 Jahre inzwischen, noch mal mehrfach säkularisiert worden und ich glaube, wir können in der Regel, wenn wir von Neuer Literatur sprechen, Glück entweder nur noch in Splittern dieses ursprünglichen Moments der Erlösung oder dieses epiphanischen Augenblicks sehen und erkennen oder es ist möglicherweise auch verschwunden und zwar in einem relativ bewussten und konzentrierten Akt des Abbaus von Pathos und überwölbenden Ideen, Vorstellungen und überhaupt fundamentalistischen Anwandlungen das Dasein zu deuten. Die Literatur ist, glaube ich auch, in den letzten Jahren, - ich weiß gar nicht, wo dieser Prozess enden soll, der läuft schon relativ lang -, empirischer geworden. Sie ist materialistischer geworden oder man könnte auch sagen, individualistischer geworden. Das heißt man könnte sagen, man kann von Glück sagen, dass nach Glück nicht mehr gefragt wird, sondern danach, zum Beispiel wenn Sie Pop-Literatur ansprechen, wie man sich orientiert in einem Universum mit sehr vielen Angeboten an Musik, an Diskotheken, an Kleidung, an Statussymbolen, an Karrierechancen und da verfolgen wir in den Romanen zum Beispiel sehr viele Lebenswege, die Entscheidungen treffen müssen zwischen vielen Angeboten und daraus ergeben sich Lebensbahnen, die aber nichts mehr von dem, von der Wiege bis zur Bahre und schon gar nicht von einem Aufschwung zu einem allgemeinen Begriff, der das gesamte Dasein deutet, haben. Ich glaube, möglicherweise ist das auch schon fast wieder ans Ende gekommen, aber das war sicherlich eine Tendenz der letzten Jahre.

    Schmitz: Wenn Sie von Pop-Literatur sprechen, dann bedeutet das nicht, dass diese Pop-Literatur wie die Pop-Kultur ja im Rausch das Hinübergehen, das Hinübertreten in die andere Welt meint?

    Winkels: Nein, es gibt unter diesem Label alles, wenn wir einen Autor nehmen wie Reinald Götz, der ja wirklich versucht hat , in der Diskothek, beim Musikhören, - Rave heißt das Buch, das dafür typisch ist -, das Glück im Rausch zu erfahren und das hat dann einen Zusammenfall aller Kategorien und Wirklichkeiten zur Grundlage, die man fast wieder religiös deuten kann. Dagegen stehen völlig andere Konzepte, nehmen wir eines wie Stuckrad-Barre, für den genau das gilt, was ich eben gesagt habe, dass wir die Welt sozusagen sehr realisieren in Markennamen und Auswahlen treffen und wissen, was ist in und was ist out, wo bewegen wir uns, was ist cool, was ist uncool. Aber man sieht, man kommt mit so einem Label gar nicht weit, weil ein, mit ihm häufig in Zusammenhang genannter Autor wie Christian Kracht Bücher schreibt ganz anderen Zuschnitts, die schon wieder Erlösungsenergien freisetzen. In seinem letzten Buch 1989 halt diese berühmte Wanderung der Pilger um einen tibetanischen Berg und anschließend die Erlösung in einem Gefangenenlager in China, wo der Mensch wirklich sozusagen ans Ende seiner leiblichen Existenz kommt und damit einen Aufschwung erfährt. Man könnte schon aus den wenigen Beispielen, die wir jetzt in den drei, vier Minuten aufgezählt haben, feststellen, dass es eigentlich alles gibt. Und wenn es Metaphysik unter anderem gibt, dann ist es keine Metaphysik mehr, jedenfalls nicht in dem Sinne einer überwölbenden oder verbindlichen Hintergrundsituation für das Schreiben heute. Und da kann man sich fragen, ist das eigentlich ein glücklicher Zustand, in dem die Literatur ist, in dem sie so viele parzellierte Angebote macht, völlig verschiedener Art, oder bewegen wir uns auf irgendeine Frage hin und wissen es noch nicht?

    Schmitz: Nun gibt es junge Autorinnen, vor allem Zoë Jenny mit dem "Blütenstaubzimmer" oder Maike Wetzel mit ihrem jüngsten Erzählband "Lange Tage" oder etwa Judith Hermann mit ihren zwei Erzählbänden, in der die Atmosphäre ja immer sehr schwebend ist. Könnte man das auch unter einem Glücksaspekt subsumieren?

    Winkels: Ich denke, das sind, - solche Texte sind ja oft kurze Texte auch oft Kurzgeschichten -, schon eine Reaktion auf die Überbeanspruchung durch tragisch aufgezäumte Lebensgeschichten. Dieses große, fast opernmäßige Wir-steuern-auf-einen-Konflikt-zu, dieser Konflikt, also in der Bibel zum Beispiel, dieser Konflikt hat repräsentative Dimensionen und ja über Katastrophen entwickelt sich sozusagen ein ganzes Universum und gegen diese Energie, alles sagen zu wollen im Roman, ist die kleine Form in den letzten Jahren sehr stark geworden. Und dieses Alles-Ablehnen spiegelt sich auch in der kleinen Trauer gegenüber der großen Tragik oder im kleinen Glücksaufschwung, ein Blick, eine Musik, ja es macht Klick und das ist der glückliche Moment ganz am Rande. Und dieses Kleine im Glück und dieses Kleine in der Trauer hat auch den Grund darin, dass man von den ganz großen Tragödien und den ganz großen metaphysischen Aufschwüngen sich sozusagen wegbewegen, aufs Kleine hin bewegen will.

    Schmitz: Das heißt das Glück beim Lesen zu finden, könnte auch etwas sein, was die Literatur allgemein verspricht, also nicht unbedingt Inhalte sondern die Tatsache, dass man liest macht schon glücklich?

    Winkels: Ja, ein stilles Glück beim Lesen, das Gegenglück Geist in der Versenkung in Bücher, ist ein Mythos, der nur unter bestimmten Bedingungen, glaube ich, aufrecht erhalten werden kann. Im Vergleich zu anderen Künsten und Medien, namentlich der Musik, aber auch dem Kino, hat Literatur natürlich nicht dieses Glücksmoment als Euphorisierungsmoment, man müsste eigentlich vor Weihnachten Glück von Freude absondern und etwas genauer definieren. Glück hat immer schon etwas Epiphanisches, etwas Wegreißendes, etwas Überwältigendes, anders als die Freude. Und diese Form von Glück teilt sich über Literatur sehr viel schwerer mit als über die anderen genannten Medien und Künste. Dafür ist die Distanzierungsleistung von der Umwelt, in der man täglich lebt, auch von sich selbst, die die Literatur bewusst ermöglicht, sehr viel höher. Das ist sozusagen: der Preis ist keine Ekstase, aber in einer schönen schwebenden Distanz zu sich selber sein zu dürfen, vielleicht leben zu dürfen, mit und in dem Buch. Und dieses Versprechen muss quasi immer neu ausbalanciert werden. Dass man auf Literatur abfährt, ist nicht selbstverständlich, dass man auf Musik abfährt, um diesen Ausdruck zu verwenden, ist klar. Also Literatur muss sich quasi immer wieder den Raum selber erobern, in dem sie Wirksamkeit entfaltet, finde ich, anders als die Musik, die das eigentlich per Medium von alleine schon kann.