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Vom Überleben in der Kulturrevolution

Die großen Revolutionen des 20. Jahrhunderts sind - mit Ausnahme der kubanischen - abgeschlossene Kapitel der Weltgeschichte. Sie forderten Millionen Opfer. Besonders unrühmlich und menschenverachtend war das, was in China als "Kulturrevolution" firmierte. Die internationale Starpianistin Zhu Xiao-Mei hat nun ein Buch darüber geschrieben.

Von Eva Corell |
    Zhu Xiao-Mei ist drei Jahre alt, als sie ihrem Schicksal begegnet. Ihre Eltern sind aus dem Nachkriegs-Schanghai nach Peking geflohen, und in das winzige Hofhaus dort wird der Schatz ihrer Mutter geliefert: ein Klavier. Ein exotisches Möbelstück, das die Familie im kommunistischen China zum gesellschaftlichen Abstieg verdammt. Es gilt als Indiz für die bourgeoise Herkunft der Eltern, auf chinesisch: "chushen buhao", und reicht, um sie als Klassenfeinde abzustempeln. Davon ahnt Xiao-Mei noch nichts:

    Da steht es, im Zimmer meiner Eltern. Es nimmt den ganzen Platz ein, das Zimmer ist so klein. (..) Verängstigt suche ich hinter einem Stuhl Zuflucht. Von den Elfenbeintasten geht ein bleiches Licht aus, es belebt das Halbdunkel des Zimmers. Meine Mutter lässt ihre Hand sekundenlang über die kleinen, gelblichen Tasten gleiten. Aus dem Möbel kommt eine Melodie, die das ganze Zimmer erfüllt. Es spricht! (..) Eine neue Welt öffnet sich mir. (..)
    Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als auf diesem Freund zu spielen, der sich unserer Familie angeschlossen hat.

    Xiao Mei‘s Wunsch geht zwar in Erfüllung, aber erst Jahrzehnte später. Als sie diese CD mit ihrer Lieblings-Musik von Bach einspielte, war sie schon über 40. Schuld ist die "Große Proletarische Kulturrevolution", die das künstlerische Schaffen in China zum Erliegen bringt.
    Lehrer und Schüler werden zur Umerziehung aufs Land geschickt. Musik ist Nebensache, ab sofort gilt nur noch die politische Überzeugung. Mit Billigung von Mao übernehmen 1966 die Roten Garden die Macht an Schulen und Universitäten, auch am Pekinger Musik-Konservatorium, wo man der 17-Jährigen eine große Pianisten-Karriere vorhersagt. Doch nicht nur sie wird vom Opfer zur aktiven Mitwirkenden. Die Musiklehrer werden von ihren Schülern beschimpft, gedemütigt, müssen die Toiletten reinigen. Schnell eskaliert die Gewalt.

    Die Rotgardisten schwingen ihre Gürtel und peitschen auf die am Boden liegenden Lehrer ein. Die Messingschnallen hinterlassen Schrammen, Kratzer, Schnitte ... Ich beobachte die Männer und Frauen von weitem. Die meisten bluten. Ein Geigenlehrer hat eine offene Wunde am Kopf, er ist blutüberströmt. Ich habe Angst, er könnte sterben. Ich habe Angst, und doch schäme ich mich für diese Angst. (..) Die Revolution verlangt, dass wir uns zwischen den Klassen entscheiden. Ich entscheide mich für das Lager der Unterdrückten und gegen die Bourgeois und Kleinbürger. Das Blutvergießen stößt mich ab, doch die Zukunft des neuen China verlangt diesen Preis.

    Zhu Xiao-Meis Autobiografie führt uns zurück zu einem der dunkelsten Kapitel der modernen chinesischen Geschichte. Zehn Jahre tobte die Kulturrevolution, die Mao anzettelte, um seine Gegner in der Kommunistischen Partei zu vernichten, bis zu seinem Tod 1976. Der Preis: geschätzte zehn Millionen Tote und eine verlorene Generation, die man ihrer Zukunft beraubte. Mao scherte das nicht: eine Revolution ist keine Dinnerparty, so ein berühmter Spruch von ihm. Seine Nachfolger wollten den Mythos ihres Staatsgründers nicht zerstören: Mao habe zu 70 Prozent Recht und zu 30 Prozent Unrecht gehabt, heißt bis heute die offizielle politische Formel. Eine Aufarbeitung fand nie statt, Maos Erben fürchteten sich vor jeder Systemkritik, schließlich ist China eine Diktatur geblieben. Abrechnung war nur auf einer persönlichen Ebene erlaubt. So wie sie Zhu Xiao-Mei, inzwischen eine gefeierte Pianistin im französischen Exil und auf den großen Bühnen der Welt zuhause, nach über 40 Jahren vollzieht.

    Die Kulturrevolution hat mich besudelt, eine Schuldige aus mir gemacht. Irgendwann hatte sie auch jedes Gefühl für sittliche Werte in mir abgetötet. (..) Oft frage ich mich, ob ich Mao Zedong hassen muss für das, was er mir zugefügt hat. Im Grunde hatte er mit seinen Analysen nicht unrecht, , das chinesische Volk musste befreit werden ... Mao hat viele Hoffnungen in uns geweckt, aber er war ein Verbrecher. Er hat Millionen von Menschen physisch und Hunderte Millionen seelisch vernichtet. Dafür hasse ich ihn.

    Warum sie sich damals schuldig gemacht, sich sogar von ihren Eltern distanziert hat, kann sie auch auf fast 300 Buchseiten nicht richtig erklären. Sie habe lange gezögert, ihr Leben zu erzählen, schreibt Zhu. Ihr Ausdrucksmittel sei die Musik. Am eindrucksvollsten ist ihre Geschichte dann, wenn sie ihre Annäherung an die westliche Kultur, Zweifel und Fragen, über ihr Klavierspiel schildert. Für ihr erstes Konzert in ihrer Wahlheimat Paris wählt sie die Goldberg-Variationen, in denen sie wesentliche Elemente der chinesischen Kultur erkennt. Johann Sebastian Bach ist für Zhu Xiao-Mei die "Reinkarnation eines großen chinesischen Weisen":

    Die Fülle der verschiedenen Stimmungen in den Goldberg-Variationen lässt mich an die Philosophie des "goldenen Mittelwegs" denken, in die mich Meister Pan eingeweiht hat. Es geht nicht darum, als Kompromiss zwischen den Extremen einen Mittelweg zu wählen, sondern ein Gleichgewicht zu finden. .. Die Goldberg-Variationen haben die besondere Eigenschaft, alle menschlichen Emotionen und Gefühle anzusprechen. .. In diesem Werk hat Bach das Leben mit seinen unendlichen Facetten in Musik umgesetzt.

    Kein anderes westliches Werk sei so taoistisch, findet die gefeierte Pianistin. Laotse sagt: Wiederkehr ist der Weg des Tao. Auch Zhu Xiao-Mei kehrt am Ende zurück. Nach Peking ins Haus ihrer Eltern, und nach Zhangjiako, wo sie fünf Jahre im Arbeitslager verbrachte. Dort hatte sie es mit Beharrlichkeit und Erfindungsgeist auch geschafft, ihr geliebtes Klavier einzuschmuggeln. Es bleibt die einzige Liebesgeschichte ihres Lebens.

    Da steht er, wie am ersten Tag, mit vergilbten Tasten. Mein treuer, verschwiegener, nachsichtiger Freund, den ich mit einem Kohlezug durch China fahren ließ, dessen Saiten ich notdürftig mit Eisendraht ausgebessert hatte, den ich beinahe gegen ein Flugticket eingetauscht hätte und am Ende mit einem Steinway betrogen habe. Er ist großzügig und mutig - zwei von den drei Vorzügen des idealen Gatten.

    "Narben-Literatur" nennt man in China Geschichten vom Überleben in der Kulturrevolution, und wenn es sich bei Zhu Xiao-Mei nicht um eine bekannte Pianistin handeln würde, wäre es wohl eine von Hunderttausenden geblieben. Ihr fehlt der literarische Charme eines Dai Sijie, auch ein Exil-Literat, der mit seinem Roman über "Balzac und die kleine chinesische Schneiderin" ein liebevoll-poetisches Bild der verlorenen Generation in seiner Heimat zeichnete. Was Zhu Xiao-Meis Musik gelingt, schafft ihr Text nicht: Ihre Leser zu berühren, so stoisch, fast mechanisch erzählt sie ihre Geschichte. Auch der Titel ihrer Sinnsuche "Von Mao zu Bach" ist nicht neu, sondern abgewandelt aus dem Oscar-gekrönten Dokumentarfilm "Von Mao zu Mozart", den der amerikanische Violinist Isaac Stern schon 1981 gedreht hat. Zurück bleibt der Eindruck von einem blassen Mosaiksteinchen in einem Meer weit lohnenswerterer China-Schicksalsgeschichten.

    Zhu Xiao-Mei: Von Mao zu Bach. Wie ich die Kulturrevolution überlebte, Verlag Antje Kunstmann, München 2009, Euro 19.90.