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Vom Unglückstunnel zum Knäckebrot

Chemie. – Immer wieder sorgten Meldungen über Schadstoffe in Lebensmitteln für Beunruhigung unter den Verbrauchern. So fanden sich etwa verbotene Antibiotika in importierten Shrimps oder das Pestizid ''Nitrofen'' wurde selbst in Öko-Getreide nachgewiesen. Doch der jüngste Schock übertraf diese Schreckensmeldungen noch: Eine Substanz namens Acrylamid, sonst nur aus der chemischen Industrie bekannt, fand sich in nicht unerheblicher Menge in zahlreichen, gerne konsumierten Lebensmitteln wie etwa Pommes Frites und Kartoffelchips. Schwedische Forscher waren quasi per Zufall auf die Krebs erregende Chemikalie in der Nahrung gestoßen und fanden heraus, dass wer zu heiß brät, frittiert oder backt, damit auch sein Krebsrisiko erhöht.

    Von Volker Mrasek

    Die schwedischen Medien befassten sich wochenlang mit dem Ereignis im Spätsommer 1997. Beim Bau eines Eisenbahn-Tunnels im Südwesten Schwedens geschah Merkwürdiges. Fische in einer Aquakultur nicht weit entfernt verendeten plötzlich; Kühe auf benachbarten Weiden begannen zu torkeln. Nicht viel später zeigten auch Tunnelarbeiter neurologische Störungen. Was war passiert?

    Beim Bau des Tunnels kam es zu Wassereinbrüchen. Die Wände mussten künstlich abgedichtet werden. Man entschied sich für einen bestimmten Kunststoff als Füll-Material. Seine Einzelbausteine sollten nach dem Einspritzen polymerisieren, sich also verketten und verfestigen. Aber das Ganze ging schief. Der Stoff polymerisierte nicht, und die Einzelbausteine - die Monomere - wurden in die Umwelt freigesetzt. Man fand sie sogar im Grundwasser.

    Hätte es diesen Arbeitsunfall nicht gegeben - die Umweltchemikerin Margareta Törnqvist von der Universität Stockholm wäre wohl nie dem "Giftstoff des Jahres 2002" auf die Spur gekommen, wenn man ihn so nennen will. Bei den freigesetzten Monomeren handelte es sich nämlich unter anderem um Acrylamid. Der Name klingt inzwischen vertraut. Es ist dieselbe Substanz, die im letzten Jahr große Schlagzeilen machte. Denn Törnqvist und andere schwedische Forscher hatten das Krebsgift inzwischen auch in Lebensmitteln gefunden. Vor allem in Kartoffelchips, Pommes Frites und Knäckebrot. Davon wüsste heute wohl niemand, wäre der schwedische Tunnel-Unfall damals nicht näher beleuchtet worden ...

    Wir haben untersucht, wie stark die Arbeiter dem Acrylamid ausgesetzt waren. Der Schadstoff lagert sich am Blutfarbstoff an, und es entstehen sogenannte Hämoglobin-Addukte. Die schaut man sich an. Das haben wir zum Vergleich auch bei einer Kontrollgruppe gemacht. Diese Personen waren nie mit technischem Acrylamid in Kontakt gekommen. Dennoch hatten auch sie Hämoglobin-Addukte im Blut. Und zwar in Konzentrationen, die den Schluss zuließen, daß sie dem Stoff ein Leben lang ausgesetzt waren. Die Frage war: Wo kommt dieses Acrylamid her?

    Das war der Auftakt zu jahrelanger Detektivarbeit. Die Stockholmer Umweltchemiker untersuchten zunächst Wildtiere. Und fanden bei ihnen keine Hinweise auf den Kontakt mit Acrylamid. Anders als der Mensch verzehren Wildtiere ihr Futter nicht frittiert, gegrillt oder gebraten, sondern roh. Könnte der Schlüssel also bei erhitzten Lebensmitteln liegen, fragten sich die Schweden. Was sie zudem wussten und in ihrem Verdacht bestärkte: Acrylamid findet sich auch in Zigarettenrauch. Es entsteht also bei der Verbrennung von Tabak - einem Erhitzungsprozess ...

    Eine unserer Doktorandinnen unternahm dann Versuche an Ratten. Einer Gruppe gab sie normales Tierfutter und einer zweiten frittiertes. Da zeigte sich dann ein großer Unterschied.

    Der Rest des Krimis ist schnell erzählt. Törnqvists Arbeitsgruppe knöpfte sich nun hoch erhitzte Lebensmittel vor, zunächst Hamburger. Die enthielten zwar Acrylamid, aber nur in geringen Spuren. Richtig fündig wurden die Schweden dann in gebratenen Kartoffeln, später auch in anderen pflanzlichen Lebensmitteln. Ihr gemeinsames Merkmal: Sie enthalten Eiweiß und bestimmte Zucker, die bei hohen Temperaturen miteinander reagieren und Acrylamid entstehen lassen. Der ganze wissenschaftliche Aufwand zur Lösung des verzwickten Falles habe sich gelohnt - trotz des ganzen Trubels, der entstanden sei, meint Margareta Törnqvist rückblickend:

    Aus toxikologischer Sicht ist die Entdeckung von Acrylamid in Lebensmitteln eine Sensation. Wir wissen jetzt, dass es so etwas wie ein natürliches Gesundheitsrisiko beim Essen gibt. Es entstehen Giftstoffe, wenn wir pflanzliche Lebensmittel erhitzen. Und zwar in ziemlich großer Menge. Das ist eine neue Risiko-Situation. Und die erfordert auch neue Vorsorge-Strategien.

    Solche Strategien werden bereits mit Hochdruck entwickelt, gerade in Deutschland. Experten raten Verbrauchern, nicht mehr so heiß zu braten, backen oder frittieren. Die Lebensmittelindustrie bemüht sich, ihre Herstellungsprozesse so zu verändern, dass möglichst wenig Acrylamid entsteht. Die Belastung des Verbrauchers mit dem Krebsgift sollte also nach und nach sinken. Ein Verdienst der beharrlichen Forschungsarbeiten in Stockholm.