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Vom Verhältnis Mensch zu Ding

Der französische Poststrukturalismus ist dafür bekannt, dass er die Grenzen etablierter Wissensdisziplinen überschreitet. In seinem Essay "Wir sind nie modern gewesen" erteilt Bruno Latours der Trennung von Kultur und Natur, von Menschen und Dingen erneut eine Absage. Diese Sichtweise griff auf andere Wissensgebiete über: So fragte sich der amerikanische Bildwissenschaftler William Mitchell im Sinne Latours: Was wollen Bilder? Mitchells auf Deutsch erschienenes Buch mit dem Titel "Das Leben der Bilder" schreibt den Artefakten eine neue Qualität zu.

Rezensiert von Heidemarie Schumacher | 11.05.2009
    Bruno Latour wird seit den 80er-Jahren nicht müde, die Trennung von Natur und Gesellschaft, von Natur- und Kulturwissenschaften infrage zu stellen. In seinem letzten, auf Deutsch erschienenen Essay "Wir sind nie modern gewesen" dehnt er seine Ansichten auf das gesamte Denken der Moderne aus. Bescheiden ist das nicht und vieles in diesem Buch bleibt im Ungefähren und Metaphorischen. Ein Blick auf die Kernthesen allerdings liefert jedoch auch Anregungen und interessante Perspektiven für die gegenwärtige Theoriebildung.
    Latour beharrt – wie schon in seinen früheren Werken – auf der These, dass die Welt der Menschen und die Welt der Dinge nicht voneinander zu trennen sind, immer schon vermischt waren und ihre Trennung geradezu charakteristisch für das Denken der Moderne sei. Ausführlich zitiert er eine wissenschaftshistorische Studie zu Hobbes und Boyle, um zu zeigen, wie sich beide Denker wegen der Bürgerkriege ihrer Zeit sorgten, während der eine den "Leviathan" schrieb, der andere im Labor die Luftpumpe entwickelte, und wie diese beiden Artefakte mit der Politik ihrer Zeit verbunden waren. Politik und Naturwissen waren schon immer verschränkt: Wie bei Archimedes, der mithilfe des Flaschenzugs seinem König verdeutlichen konnte, wie die Kraft eines Einzelnen, geschickt eingesetzt, ein ganzes Schiff bewegen kann.

    Hatte schon Foucault in seinem grundlegenden Werk "Die Ordnung der Dinge" beschreiben können, wie sich im 18. Jahrhundert eine Historizität der Dinge unabhängig von der Menschheitsgeschichte herausbildete, so betont Latour die Vermischung von Ding- und Menschheitsgeschichte. Sie werde im Denken der Moderne, dessen Gestus Latour auch als "Reinigung" bezeichnet, übersehen. Dabei verfährt der Autor in seinem Generalangriff auf die modernen Denker nicht gerade zimperlich: Hobbes, Kant, Hegel, Marx und Habermas sowie die Theoretiker der Postmoderne, die "Pomos", wie er sie nennt, sie alle fallen unter das Verdikt, diese kritische Reinigung vollzogen zu haben, während das Soziale mit der Welt der natürlichen Objekte durch zahlreiche Vernetzungen verbunden sei:
    "Der winzigste Aidsvirus bringt uns vom Geschlecht zum Unbewussten, von dort nach Afrika, zu Zellkulturen, zur DNS, nach San Francisco. Aber Analytiker, Denker, Journalisten und Entscheidungsträger zerschneiden das feine Netz, das der Virus zeichnet. Übrig bleiben nur säuberlich getrennte Schubladen: Wissenschaft, Ökonomie, soziale Vorstellungen, vermischte Nachrichten, Mitleid, Sex. Man braucht bloß irgendeine harmlose Spraydose zu drücken, und schon ist man unterwegs zur Antarktis, ( ... ) zu den Fließbändern in Lyon, zur Chemie der Edelgase und dann vielleicht zur UNO. Doch dieser fragile Faden wird in ebenso viele Teile zerstückelt, wie es reine Fachgebiete gibt."

    Während also auf der Ebene der gesellschaftlichen Praxis Mischungen zwischen Menschen und Objekten, unter die er auch Tiere und Pflanzen fasst, bestehen, verhalte sich die Moderne dieser Praxis gegenüber asymmetrisch und schaffe zwei getrennte ontologische Zonen: die der Menschen einerseits, die der nicht-menschlichen Wesen andererseits. Latour zitiert Michel Serres, der an einem stummen Ding, dem Stein, der als das Lebloseste überhaupt gilt, zeigen will, wie wenig angebracht es ist, dessen Sein in Natur und Geist zu trennen:

    "Der ganze Islam träumt davon, nach Mekka zu reisen, wo in der Kaaba der schwarze Stein aufbewahrt wird. Mit dem freien Fall wird in der Renaissance die moderne Wissenschaft geboren: Steine fallen. Warum gründete Jesus die christliche Kirche auf einen Mann mit Namen Petrus, das heißt Stein?"

    Ein Stein oder ein anderes Ding kann daher "manchmal Objekt, manchmal soziales Band und manchmal Diskurs" sein und Latour geht davon aus, dass das Gewebe der Welt lediglich durch das "reinigende" Denken in einzelne Bereiche aufgetrennt wurde, während sich unterhalb dieser Organisationsformen des Wissens die Mischwesen oder Quasi-Objekte ausbreiteten. Quasi-Objekte bilden vor allem die Entitäten von Mensch und Technik. Im Zustand der "Übersetzung des einen in das andere", bilden sie ein vernetztes Drittes. Hier wirken Menschen und nichtmenschliche Wesen gegenseitig und gleichberechtigt aufeinander ein und bilden ein "Handlungsprogramm". Latours frühes Beispiel einer Waffe mag verdeutlichen, dass ein Objekt für sich etwas anderes darstellt als in der Hand eines Menschen; umgekehrt ist der bewaffnete Mensch ein anderes Handlungsprogramm als der unbewaffnete. "Wir sind nie modern gewesen" soll dann heißen, die Mischwesen hat es schon immer gegeben, das moderne Denken mit seinen wissenschaftlich sanktionierten Rastern hat Denk- und Frageverbote hinsichtlich ihrer Existenz aufgestellt.

    "Wenn man aber von Embryonen im Reagenzglas, Expertensystemen, digitalen Maschinen, Robotern mit Sensoren, hybridem Mais, Datenbanken, Drogen auf Rezept, Walen mit Funksendern, synthetisierten Genen, Einschaltmessgeräten usf. überschwemmt wird, wenn unsere Tageszeitungen all diese Monstren seitenweise vor uns ausbreiten und wenn diese Chimären sich weder auf der Seite der Objekte noch auf der Seite der Subjekte noch in der Mitte zu Hause fühlen, muss wohl oder übel etwas geschehen"."

    Latours Therapievorschlag für all die unvollständigen, an der "Reinigung" krankenden Modelle der Moderne ist die symmetrische Anthropologie. Mit dem Verweis auf Lévi-Strauss, den Latour, man ahnt es, den "Modernen" zurechnet, lässt er die Anthropologie aus den Tropen zurückkehren in die Metropolen, in unsere Geschichte und unsere Gegenwart:

    ""Nicht bloß die Beduinen oder die Kung vermengen Transistorradios und traditionelle Verhaltensweisen, Plastikeimer und Tierhautschläuche. Von welchem Land ließe sich nicht sagen, dass es ein Land voller 'Gegensätze' ist. Wir sind alle dabei, die Zeiten zu vermengen."

    Zu kritisieren an diesem Essay ist Latours plakativer Umgang mit den genannten Denkern: Im Literaturverzeichnis sucht man vergeblich nach den Namen Foucault und Marx, Autoren, die mit ihrem wissenschaftskritischen Ansatz oder dem Arbeitsbegriff schon vor Latour die Geschichte der Dinge und die Vermittlung von Mensch und Natur thematisiert haben. Es stellt sich darüber hinaus die Frage, wie die Idee des Netzes, bei dem alles mit allem zusammenhängt, in genaue Forschung umzusetzen ist. Latours Verdienst allerdings liegt darin, alte Grenzen einzureißen, ungewohnte Verbindungen zwischen den Phänomenen herzustellen und damit neue Einsichten zu ermöglichen.

    Als Quasi-Objekte oder Hybride können die sich täglich über unsere Strassen wälzenden Automassen, die Zerstörungsmaschinerien der Waffenarsenale, die Bürokratien oder die uns umgebenden und von uns genutzten Gebäude gelesen werden. Und last but not least die täglich auf uns treffenden Bilderströme.
    So folgt der amerikanische Bildtheoretiker William Mitchell Latours Überlegungen mit seiner Frage "Was wollen Bilder". Der Hintergrund seiner Überlegung stellt die Veränderung der Bilderwelt dar, vor allem die neuen Weisen, Bilder zu erzeugen oder Bilder zu bekämpfen. Dolly, das geklonte Schaf, verkörpert das lebendig gewordene Abziehbild, das Unheimliche des Bildes an sich. In den Bildern des 11. September drücke sich im Angriff gegen die so genannten "Zwillingstürme" eine Art neuer Ikonoklasmus aus: die als Medienspektakel inszenierte Zerstörung einer weltweit wiedererkennbaren Ikone des fortgeschrittenen Kapitalismus.

    Das Buch versammelt eine Reihe von Aufsätzen, die von der Frage ausgehen, was es heißt, "über Bilder zu reden, als wären sie lebendig". Sein Gedankenexperiment führt den Autor dazu, wie Latour Dingen einen Subjektstatus zuzuschreiben: Bilder haben Bedürfnisse, sie wollen gesehen werden, erregen Ärgernis bis hin zu ihrer Schändung und Zerstörung; sie bieten sich als Idol, als Totem oder Fetisch an und können sich epidemisch ausbreiten.
    Indem Bilder ihre Betrachter nicht nur anziehen, sondern auch verletzen, wohnt ihnen eine Dialektik von Begehren und Aggression, von Auftauchen und Verschwinden inne. Bilder leiden jedoch zuerst und vor allem unter einem Mangel und damit entwickeln sie auch ein eigenes Begehren. Der ursprüngliche Mangel des Bildes bestehe, so Mitchell, darin, dass Bilder Betrachter brauchen und dass sie diesen Betrachter erregen, fesseln, an sich binden und zum Objekt machen wollen:

    "Das Begehren des Bildes liegt, kurz gesagt, darin, mit dem Betrachter die Position tauschen zu wollen, ihn zum Erstarren zu bringen oder zu lähmen; es strebt danach, durch etwas, das man den "Medusa-Effekt" nennen könnte, aus dem Betrachter ein Bild für den eigenen Blick zu machen."

    Das Geschlecht der Bilder ist damit – erwartungsgemäß - weiblich, denn auch Frauen wollen, unter dem Regime des männlichen Blicks, diese Macht. Nicht allen Schlüssen in diesem Buch muss man folgen. Lesenswert sind vor allem Mitchells Reflexionen über den Ursprung der Malerei in der Liebe, über den Wunsch, das geliebte Objekt zu fixieren und still zu stellen. Originell sind auch seine Ausführungen über den Zusammenhang von Fossil und Totem als überkommene Formen des Abbildes oder seine Überlegungen zu Fetisch und Idol: "Totems, Fetische und Idole" schreibt er, "sind letztlich Dinge, die andere Dinge wollen, die Dinge verlangen, begehren und fordern." Dinge wie Geld, Blut oder Respekt.
    Das Eigenleben der Dinge hat in unserer Zeit darüber hinaus ein ganz neues Gewicht erhalten: die Fetischisierung der DNS, das Klonen, die Robotik, alles läuft darauf hinaus, künstliches Leben oder lebende Abbilder des Humanen zu schaffen. Für Mitchell ist - in Fortführung von Walter Benjamin - das Bild in die Phase seiner biokybernetischen Reproduzierbarkeit eingetreten: Computertechnik und Reproduktionstechnologie bilden die Basis. Und Mitchell stellt sich am Ende die Frage: "Kriegen wir das Bild zu fassen – oder kriegt es uns?"
    An beide Autoren ist damit aber auch die Frage zu stellen, ob man ernsthaft und ungestraft die Interessen und Machtverhältnisse eskamotieren kann, die das Verhältnis von Menschen und Dingen zentral bestimmen und die letztlich darüber entscheiden, ob sich die Artefakte gegen uns wenden oder zu unserem Wohl entfalten.

    Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Frankfurt / Main 2008. Erschienen im Suhrkamp Verlag: 10 Euro

    William J. T. Mitchell: Das Leben der Bilder. München 2008.
    Erschienen im C.H. Beck Verlag: 16,95 Euro