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Vom Verlust der Übersicht

Referate werden heute in der Regel nicht mehr geschrieben, sondern gegoogelt. Das wirft Fragen nach dem Stellenwert der aus dem Netz zu erfahrenden Bildung auf. Die wachsende Abhängigkeit des Wissens vom Internet läuft auf ein ungebildetes Spezialistentum hinaus.

Von Robert Schurz |
    Die Bildung à la Freiherr von Guttenberg tritt ihren Siegeszug an. Damit ist nicht gemeint, dass man benutzte Quellen verschweigt und auf diese Weise fremden Lorbeer einheimst. So verfahren nur ein Guttenberg und ähnliche Charaktere. Nein, die Art und Weise, wie der fränkische Baron seine Doktorarbeit fabriziert hat, ist im Kommen. Er ist dabei in gewisser Weise selbst ein Opfer des Trends geworden, ganze Wissensblöcke zu übernehmen und auf die mühevolle Aneignung derselben zu verzichten. Im Internet liegen eine Unmenge Wissens-Versatzstücke vor und rufen danach, irgendwo eingefügt zu werden, und Guttenberg hat einfach diesen Ruf erhört. Wenn er stattdessen selbst ganze Bücher hätte lesen müssen, um die Wissenssequenzen ausfindig zu machen, welche dem Gedankengang der Arbeit sich einfügen, so hätte sich der Betrug wohl erübrigt.

    Guttenberg verhielt sich wie ein moderner Patient, der sich mündig glaubt und wesentlich den Ärzten Probleme bereitet. Dieser Typ Patient erkundigt sich im Internet über sein Leiden, trägt bisweilen eine Unmenge Wissens-Versatzstücke zusammen und malträtiert damit den ihn behandelnden Arzt. Er erzählt ihm von dieser und jener Studie, von der der Medikus noch nie etwas gehört hat, konfrontiert ihn mit ungewöhnlichen Heilungsverläufen und zweifelt schließlich seine Kompetenz an. Der Arzt erfährt das als Anmaßung: Schließlich hat er ja unter großen Mühen jahrelang studiert, um sich ein umfangreiches Fachwissen anzueignen, und jetzt kommt einer daher, der sich mal zwei Stunden im Netz umgeschaut hat, und will ihm erklären, was Sache ist.

    Dieser Patient, falls er Guttenbergsche Neigungen verspürt, könnte auch zum Hochstapler werden, wie es sie immer wieder gibt. Falsche Ärzte, also solche, die sich ihre Papiere selbst ausgefertigt haben, behandeln Patienten, und wenn man ihnen auf die Schliche kommt, ist die Peinlichkeit groß: Wieso kann man, ohne studiert zu haben, einen Blinddarm operieren? Sicher gab es auch früher falsche Ärzte, aber die mussten sich, um unauffällig zu bleiben, ganze Fachbücher aneignen. Heute scheinen die falschen Ärzte sich damit zufriedenzugeben, kurze Anleitungen im Netz zu lesen und das scheint oftmals zu genügen.

    Eine Revolution ist im Gange: Das ist, seitdem es den Computer und das Internet gibt, nichts Neues. Neu vielleicht ist, dass diese Revolution auch die Bildung, die Wissensformen überhaupt betrifft. In der Philosophie spricht man von Episteme, welchen Begriff der französische Philosoph Michel Foucault, der als einer der Begründer des Strukturalismus gilt, so bestimmt:

    "Die fundamentalen Codes einer Kultur, die ihre Sprache, ihre Wahrnehmungsschemata, ihren Austausch, ihre Techniken, ihre Werte, die Hierarchien ihrer Praktiken beherrschen, fixieren gleich zu Anfang für jeden Menschen die empirischen Ordnungen, mit denen er zu tun haben und in denen er sich wiederfinden wird."

    Und diese Ordnungen, diese Wissensformen erleben zurzeit eine Wandlung, die vielleicht stärker ausfällt als alle Wissenstransformationen bisher. Das beginnt schon in der Grundschule. Insbesondere in der sogenannten Sachkunde werden die Kinder angehalten, sich im Internet über gewisse Themen zu informieren, und schon in der gymnasialen Oberstufe werden freie Hausaufgaben laut Umfrage schon deutlich zu mehr als drei Viertel mit Hilfe von Suchmaschinen angefertigt. Der Studierende der Gegenwart ist schließlich ohne Internet kaum vorstellbar.

    Dabei geht es nicht nur um Wissensabfragen bei Sachthemen; auch bei Übersetzungen greifen Schüler und Studenten zunehmend auf die Routinen des Netzes zurück. Allemal werden in Kürze sämtliche akademische Berufe ohne mediale Anbindung an ein global verfügbares Wissen nicht auskommen; vom Rechtsanwalt über den Psychologen, über den Landschaftsarchitekten, über den Hörfunk-Redakteur bis hin zum Pfarrer: Der Einsatz ihrer Kenntnisse wird gestützt, vielleicht auch bestimmt von den Wissensformen, die im Netz vorliegen.

    Dazu gibt es viele Fragen. Zunächst die, wie sich das Wissen im Detail verändert, -welche Kompetenzen und speziellen Fertigkeiten gefördert und welche vernachlässigt werden.

    Auch wird das Selbstkonzept oder Selbstverständnis des mikroelektronisch geprägten Menschen sich durch diese Wissensrevolution verändern. Das "Cogito ergo sum" ist immer davon abhängig, wie gedacht wird, und das hängt wiederum, um mit einem Heideggerschen Begriff zu reden, von der Zuhandenheit des Wissens ab. Wie ich etwas weiß, - das bestimmt auch die Form meines Daseins.

    Angenommen, ein Grundschüler soll etwas über die Nistgewohnheiten des Rotkehlchens schreiben. Also gibt er den Begriff "Der Nestbau des Rotkehlchens" ein, und erhält aktuell etwa 57.000 Einträge. Das ist natürlich eine Herausforderung, besonders für ein Grundschulkind, das darauf angewiesen ist, dass die Information nach Relevanz geordnet ist. Sonst könnte der Grundschüler auf die Idee kommen, sich auf den Eintrag einer Frau Meier zu beziehen, die im Internet über ihren Garten schwärmt und sich über die diversen Vögel auslässt, die dort anzutreffen sind.

    Angesichts der Informationsflut sind also Selektionskompetenzen gefragt. Die aber ergeben sich erst mit zunehmenden Wissen, was wiederum an der zirkulären Struktur des Bildungsprozesses liegt: Je mehr man weiß, desto eher kann man relevante von irrelevanten Informationen unterscheiden.

    Relevanz ist aber relativ: Es wäre auch eine Episteme vorstellbar, in welcher Frau Meiers Blogs über ihren Garten gleichsam das Wesen des Rotkehlchens offenbaren. Zugegeben: Ein solches Wissensuniversum wäre doch sehr konstruiert, aber wesentlich ist, dass eine solche Episteme vorstellbar ist. Das belegt ein berühmtes Beispiel von Foucault, das er zu Beginn seines epochemachenden Buches "Die Ordnung der Dinge" zitiert:

    "Die Tiere gruppieren sich wie folgt: a.) Tiere, die dem Kaiser gehören, b.) einbalsamierte Tiere, c.) gezähmte, d.) Milchschweine, e.) Sirenen, f.) Fabeltiere, g.) herrenlose Hunde, h.) in diese Gruppierung gehörige, i.) die sich wie Tolle gebärden, k.) die mit ganz feinen Pinseln aus Kamelhaar gezeichnet sind, l.) und so weiter, m.) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n.) die von weitem wie eine Fliege aussehen."

    Was unsere Wissenstradition über Rotkehlchen betrifft, so stehen Lehrbücher zur Verfügung, die einer gewissen Systematik gehorchen: Da gibt es ein Kapitel über Singvögel, über die Familie der Fliegenschnäpper. Dann wird in einem anderen Kapitel systematisch der Nestbau abgehandelt und schließlich auch auf die kulturelle Bedeutung des Rotkehlchens als Tröster der Sterbenden und Ähnliches hingewiesen. Dieses aufbereitete Wissen wird über die entsprechenden Lehrbücher von Generation zu Generation weitergegeben und so entsteht auch eine bestimmte kulturelle Tradition. Wenn nun die Moderne wesentlich durch Traditionsabbruch gekennzeichnet ist, so ist das Internet die Exekutive dieses Bruchs im Bereich des Wissens.

    Im Netz wird die Relevanz des Wissens durch die Platzierung in den Ergebnisseiten der Suchmaschinen definiert und die wiederum wird weitgehend durch die Häufigkeit bestimmt, mit der diese Information abgerufen wird. Es gibt zwar Projekte, die Informationsrelevanz auch auf andere Weise zu indizieren, etwa mit einem Experten-Rating, aber auch solche Verfahren kommen letztlich gegen die Häufigkeit des Informationsabrufs als Relevanzkriterium nicht an. Selbst wenn sämtliche zurate gezogenen Ornithologen die Eintragungen der Frau Meier ganz hinten auf die Relevanzliste setzen würden, so könnte eine konzertierte Aktion der Internetgemeinde doch die Meierschen Blogs hochpuschen.

    Das meint: Wenn Frau Meiers Auslassungen über Rotkehlchen aus irgendeinem Grund populär werden und zig Millionen Mal am Tag aufgerufen würden, so kämen die Verantwortlichen des Internets nicht umhin, diese Information in der Relevanz hochzustufen. Diese Form der Basisdemokratie im Internet hat etwas mit Angebot und Nachfrage zu tun: Das Wissen, das nachgefragt wird, erhält Relevanz-Status.

    Demokratisch ist das Internet-Wissen auch deshalb, weil praktisch jede Minderheit zu Wort kommt, sofern sie sich an bestimmte Rechtsnormen hält. Ein Lehrbuch hingegen ist hochselektiv: Es tradiert einerseits eine bestimmte kulturelle Ordnung und führt andererseits zu einer Systematik, die einer Logik folgt, welche man die abendländische genannt hat. Gemeint ist damit der hierarchische Wissensaufbau, der vom Allgemeinen zum Besonderen fortschreitet.

    Eine solche logisch-systematische Wissensaufbereitung definiert auch die jeweiligen Kontexte der einzelnen Information. Das Wissen über Rotkehlchen ist eingeordnet in das Wissen über Fliegenschnäpper und über Vögel überhaupt. Rotkehlchen-Wissen steht somit im Kontext des ornithologischen Wissens. Diese Wissenskontextualität wird im Internet schwächer: Der User lernt vielmehr die Kunst des kontextlosen Wissens, hinter der mancher Kritiker das Ende der abendländischen Kultur vermutet.

    Theodor W. Adorno hat in einem Essay, der sich Parataxis nennt und sich mit Gedichten des späten Hölderlin beschäftigt, Satz- und Gedankenstrukturen entdeckt, die er parataktisch nennt. Der Grundgedanke Adornos ist der, dass jede hierarchische Ordnung das Moment der Unterdrückung beinhaltet. Eine Sprach- und Wissenstruktur, die auf Reihungen aufbaut, ist gegen diese Unterdrückung gerichtet.

    "Die Anklage gegen die Gewalttat des sich vergottenden Geistes sucht nach einer Sprachform, welche dem Diktat von dessen eigenen synthetisierenden Prinzip entronnen wäre. Hölderlin kennt Formen, die, in erweitertem Sinne, parataktisch heißen dürfen. Das Gereihte ist als Unverbundenes schroff nicht weniger denn gleitend. Vermittlung wird ins Vermittelte selbst verlegt, anstatt zu überbrücken. Hölderlins reihende Technik hat ihre Bedingungen in einer eingewurzelten Verhaltensweise seines Geistes. Es ist die Fügsamkeit."

    Das Internet basiert auf Reihungen, die in ihrer Unverbundenheit schroff sind und doch auch gleitend, wie das Wort "surfen" nahelegt. Man gleitet von einem Eintrag zum nächsten, und es gibt keine übergeordnete Instanz, die dieses Gleiten steuert. Schließlich erwähnt Adorno noch die Fügsamkeit, also eine Art Schicksalsergebenheit des menschlichen Denkens vor der Fülle ungeordneter Information. Auch das Netz präsentiert eine Form des herrschaftsfreien Wissens, sofern die Blogs von Frau Meier nicht mehr durch Experten unterdrückt sind, sondern dem aufgeklärten Bürger genau so zur Verfügung stehen wie die Einlassungen der akademischen Ornithologie.

    In einer Epoche, in der Menschen noch von alten Wissensordnungen geprägt sind, wird die Informationsvielfalt im Internet nach Mustern selektiert, die sich an den tradierten Wissensstrukturen anlehnen. Das meint: Wir werden das ornithologische Fachwissen höher stufen als die Blogs von Frau Meier und das vielleicht unseren Kindern weitergeben. Aber bereits bei unseren Enkelkindern werden tradierte Wissensformen nur noch selten anzutreffen sein.

    Das hierarchische, geordnete Wissen hat die Funktion, Deduktionen zu ermöglichen. Man lernt zunächst, wie Vögel prinzipiell ihr Nest bauen, - danach folgen die Besonderheiten des Nestbaus bei den Fliegenschnäppern und schließlich wird man sich speziell dem Rotkehlchen zuwenden. Man schreitet also vom Allgemeinen und Abstrakten zum Besonderen und Konkreten.

    Diese Form der Wissensstruktur, die Theorien bevorzugt, wird nun abgelöst werden durch eine pragmatisch orientierte Wissensstruktur. Man muss nichts über Vögel und Fliegenschnäpper wissen, um Informationen über den Nestbau des Rotkehlchens zu erhalten. Der theoretische Überbau ist zu vernachlässigen. Man muss nicht begreifen, warum ein Rotkehlchen diese und jene Technik verwendet, denn es genügt zu wissen, dass es sie verwendet. Auf der anderen Seite bedeutet das für die Wissensselektion, dass sie zunehmend von den Fragestellungen bestimmt wird, wobei die Fragestellungen selber immer präziser werden.

    Aus dieser Form des atheoretischen Wissens folgt dessen Kurzlebigkeit sowohl, was das Individuum als auch, was das kollektive Gedächtnis betrifft. Im Falle des individuellen Wissens ist es ganz einfach: Die Psychologie hat evident zeigen können, dass Information ohne Kontext schlecht behalten werden kann. Umgekehrt ist die Eselsbrücke nichts anderes als der Versuch, eine Information einem Kontext zuzuordnen. Ein Wissen über Rotkehlchen ohne theoretischen Bezug wird vom einzelnen Menschen nicht so gut gespeichert werden können wie Kenntnisse, die aus einem übergeordneten Wissen ableitbar sind.

    Für den Menschen mit seiner zwar sehr großen, aber doch begrenzten Speicherkapazität ist das von evolutionärem Vorteil, wenn er sein Gedächtnis hierarchisch strukturiert; das Netz jedoch, das nahezu unbegrenzte Speichermöglichkeiten hat, braucht diese Hierarchie und damit die Theorie nicht. Das maschinelle Wissen kann durchaus seriell strukturiert sein und der Mensch der Zukunft wird sich dieser Struktur anpassen. Dieses Phänomen lässt sich auch bei den legendären Aufeinandertreffen von Computer und Mensch beim Schachspiel beobachten. Zwar beherrschen die menschlichen Großmeister wie Anand oder Topalow die meisten Schachtheorien, aber der Computer kann auf unendlich viele Spiele und Kombinationen zurückgreifen: Er braucht keine Theorie des nächsten Zugs, um im königlichen Spiel zu gewinnen.

    In Zukunft wird es also darum gehen, im Netz vorhandenes Wissen aktualisieren zu können und nicht wie bisher darum, das Wissen in latenter Form als Theorie verfügbar zu haben. Das dürfte auch ganz banal dazu führen, dass der Mensch seine Gedächtnisfähigkeiten langsam verliert, denn diese hat er gewissermaßen outgesourced, um hier in der Sprache neuerer Ökonomen zu sprechen. Das beginnt übrigens schon beim Navigationsgerät: Wieso soll sich ein Mensch Stadt– oder Landschaftsstrukturen merken, wenn ihm die Maschine die Arbeit abnimmt, - und endet beim Wissen über Rotkehlchen. Eine Verkümmerung der menschlichen Merkfähigkeit ist vorhersagbar.

    Wissen ist immer auch ein Wissen über etwas, - über die Welt, und die Struktur des Wissens vermittelt ein bestimmtes Bild der Welt. Ein seriell strukturiertes Wissen lässt die Welt letztlich ohne Zusammenhang erscheinen. Die Frage des Faust, die holistisch gestellt ist: Was nämlich die Welt im Innersten zusammenhält, scheint überflüssig, wenn Information über Alles und Jedes beliebig vorhanden ist. Das Bedürfnis, die Kenntnis der Welt aus wenigen Prinzipien herleiten zu können, wird verschwinden.

    Der zukünftige Mensch wird das im Netz vorhandene Wissen jeweils für seine Zwecke aktualisieren und ansonsten ein theorie-unbekümmertes Dasein führen. Damit gleicht er den Wilden, - um hier einen Ausdruck der Aufklärung zu gebrauchen. Die "Wilden" waren für das Abendland, für die europäische Zivilisation jene Völker, die keine Theorie besaßen, die in einer schriftlosen Kultur gefangen und den Mächten der Natur, die sie mit Göttern gleichsetzten, ausgeliefert waren. Noch der berühmte Ethnologe Claude Lévi-Strauss sprach vom "Wilden Denken" als einem Wissensprozess, der der abendländischen Theorie-Tradition vorausgeht. Das vormoderne Denken vergleicht er mit dem Tun eines Bastlers.

    "Der Bastler ist in der Lage, eine große Anzahl verschiedenartigster Arbeiten auszuführen; doch im Unterschied zum Ingenieur macht er seine Arbeiten nicht davon abhängig, ob ihm die Rohstoffe oder Werkzeuge erreichbar sind, die je nach Projekt geplant und beschafft werden müssen: Die Welt seiner Mittel ist begrenzt, und die Regeln seines Spiels bestehen immer darin, jederzeit mit dem, was ihm zu Hand ist, auszukommen."

    Der zukünftige Wilde wird das vorhandene Wissen so nehmen, wie es im Netz präsentiert ist, - er wird wieder ein Jäger und Sammler auf dem Gebiet des Wissens, während die antiquierte Wissensstruktur eher der des Ackerbaus gleicht. Oder: Er wird sich seine Welt aus dem im Netz angebotenen Versatzstücken zusammenbasteln. Interessant ist, dass genau dieser Weltzugang, kurz bevor es das Netz gab, von einigen etwas exaltierten französischen Post-Strukturalisten propagiert wurde. Bekannt wurden Gilles Deleuze und Félix Guattari. Sie sprechen von einem Wurzelnetzwerk, einem Rhizom, das sie so beschreiben:

    "Die kollektiven Aussageverkettungen funktionieren tatsächlich unmittelbar in den maschinellen Verkettungen. In zentrierten oder polyzentrischen Systemen herrschen hierarchische Kommunikation und von vornherein festgelegte Verbindungen; dagegen ist das Rhizom ein nicht zentriertes, nicht hierarchisches und nicht signifikantes System ohne General und Zentralautomat; es ist einzig und allein durch die Zirkulation der Zustände definiert."

    Deleuze und Guattari wollten mit diesem Programm auf eine Art Anarchie des Wissens hinaus und nicht zufällig verwenden sie immer wieder die Maschinen-Metapher. In ihrem großen Buch "Anti-Ödipus" beschreiben sie seitenweise eine künftige Wunschmaschine, die frappierend dem heute existierenden Internet bis ins Detail ähnelt. Die beiden Theoretiker greifen sogar auf das Stimmengewirr im Telefonnetz zurück, um ihre Vision des zukünftigen Wissenssystems zu beschreiben.

    "Man kann ein Gewirr summender, sich überlagernder Stimmen vernehmen, Stimmen, die sich gegenseitig rufen, sich antworten, die sich überkreuzen und verlieren. Sie schließen sich einem Strom an, der, auf dem Wege grenzenloser Expansion eines Deliriums oder Ausflusses, das gesamte soziale Kommunikationsfeld durchzieht."

    Entmachtet wird dabei der Logos oder die hierarchische Ordnung der Sprache und der Wissenschaften; dafür soll eine Art Basisdemokratie der Theorien entstehen, ein patchwork des Wissens, eine Vernetzung gleichberechtigter Fragmente. Anarchie bedeutet aber auch Machtverzicht, und in der Tat ist derjenige, der durch das Internet gebildet wird, nicht mehr in der Lage, eine Theorie zu beherrschen. Die sprichwörtliche Schicksalsergebenheit der alten Wilden geht über in die Netzergebenheit des neuen Wilden. Man ist dem ausgeliefert, was Suchmaschinen anbieten und muss deren Vorgaben hinnehmen. Man kann dann etwa das Nestbauverhalten des Rotkehlchens nicht mehr hinterfragen, da man die Variationsbreite des Nestbaus bei Fliegenschnäppern nicht kennt. Vielleicht ist es gar nicht so zwingend, dass das Rotkehlchen sein Nest in dieser oder jener Weise baut, - aber diesen Gedanken kann nur der fassen, der Wissen in einem Kontext verankern und von diesem Kontext her etwas infrage stellen kann. Isoliertes Faktenwissen ist ohnmächtig.

    Die Netzergebenheit des zukünftigen Wissens bedeutet auch den endgültigen Siegeszug des Spezialistentums. Wenn heute ein Grundschüler ein Referat schreibt -oder sollte man besser sagen "ein Referat googelt" -, dann nimmt er oft schon den Gestus des Spezialisten an; er wird Dinge von sich geben, die überhaupt nicht seinem Wissensstand entsprechen. Kurz: Er wird von etwas sprechen, was er nicht versteht. Auch der erwachsene Spezialist versteht im weiteren Sinne nicht, was er tut. Selbst ein Flugzeugmechaniker benötigt nur wenige Ausschnitte aus der Grundlagenphysik, um effektiv arbeiten zu können, - wenn er sich über die gängige Strömungslehre hinaus mit Chaos-Theorien beschäftigt, ist das bloß sein löbliches Privatvergnügen.

    Der Spezialist gleicht vielleicht dem, was Lévi-Strauss als Bastler definiert hat; er ist wie ein Seemann, der auf ein Schiff versetzt wird und nur weiß, wie Löcher zu flicken sind, aber nicht, wie das Schiff zu steuern ist. Wenn er nun in stürmische See kommt, dann wird er mit seiner Kenntnis möglicherweise das Schiff retten können, aber er wird nicht in der Lage sein, die Gefahr selber zu umschiffen, denn dazu müsste er ja wissen, wie die Kommandobrücke zu handhaben ist.

    Nun sind die wenigsten Theorien vollständig und die klassischen Konzepte sind allemal bei vorläufigem Wissen angelangt. Es geht aber nicht um das faktische Wissen, sondern um den Anspruch auf vollständiges Begreifen. Das meint: Vielleicht wird sogar jener Matrose, der noch den Anspruch hat, ein Schiff steuern zu wollen, scheitern und dabei dem, der bereits diesen Anspruch fallen gelassen hat, unterlegen sein. Denn letzter arbeitet effektiv, weil er sich auf das Machbare konzentriert, während der traditionelle Seemann noch die Konstruktion des Schiffs zu begreifen versucht, während es sinkt.

    In der Tat sind Spezialisten mit Detailwissen meist effektiver als Theoretiker mit holistischem Anspruch, aber der Begriff der Effektivität korrespondiert mit einer bestimmten Form der Zivilisation, - mit einer, die auf Produktivitätssteigerung und Wachstum aufgebaut ist. Die Internet-Bildung ist der Siegeszug der Marktwirtschaft gegenüber dem humanistischen Bildungsideal. Und man soll hier nicht vergessen, dass die Weltverbesserung ein originärer humanistischer Auftrag ist. Bildung durch das Netz bedeutet also letztlich den Verzicht auf Verbesserung der Welt im Ganzen und Beschränkung auf das sogenannte Machbare. Dabei nimmt man die Welt, wie sie in den mikroelektronischen Wissensformen repräsentiert ist, als gegeben hin.

    So wird heute ein bewusster Bürger, der gegen eine neue Umgebungsstraße protestiert, sich im Netz schlaumachen über Gesundheitsschäden durch Lärm, über Verteilung von Geräuschen in der Landschaft und über Verkehrsstatistiken, - vielleicht auch noch über Siedlungsgebiete von Erdkröten. In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, - als es noch kein Netz gab, wurde bei derartigen Protesten das Ganze diskutiert: über eine kapitalistische Infrastruktur, die nach dem Bedürfnissen effektiver Warenverteilungswege und nicht nach denen der Menschen zugeschnitten ist. Freilich sind heute Bürgerbewegungen im Schnitt effektiver, aber nur um den Preis, den Bezug zum Ganzen, den theoretischen Anspruch aufgegeben zu haben. Eine Bewertung dieses Sachverhalts fällt hier in der Tat schwer.

    Die Bildung aus dem Internet verändert den Weltzugang, die Weltsicht. Nun aber definiert jener Weltzugang auch ein bestimmtes Selbstkonzept. Das meint: Wir begreifen uns selbst immer nur in Bezug auf die Umwelt, die uns rückmeldet, wer und wie wir sind. Die Art und Weise nun, wie wir die Welt erfassen, bestimmt nun auch mit über unser Selbstbild. Das Internet als Weltzugang erzeugt dabei eine merkwürdigen Dialektik von Macht und Ohnmacht. Das klassisch-humanistische Bildungssubjekt bemächtigt sich der Welt: Je mehr es weiß, je gebildeter es ist, desto eher ist es in der Lage, seine Umwelt zu beherrschen, - die Natur und auch die soziale Umwelt.

    Aus diesem Konzept heraus haben sich sowohl die modernen Naturwissenschaften als Naturbeherrschung und die modernen Sozialwissenschaften als Beherrschung der sozialen Umwelt entwickelt und nicht zuletzt die Psychologie mit der Perspektive der Selbstbeherrschung. Dieses Konzept setzt aber voraus, dass alle Wissensstränge im Bildungssubjekt zusammenlaufen, - darin ihr Zentrum haben. Das ist genau das, worauf Faust hinaus will: Wenn er wüsste, was die Welt im innersten zusammenhält, wäre er der vergöttlichte Mensch, - ein Konzept, das ursprünglich den Auftrag der humanistischen Bildungsidee darstellt.

    Wir wissen, dass Faust scheitert. Mephisto spielt dabei ein wenig die Rolle des Internets, da er dem, der alles wissen will, ermöglicht, beliebig in Zeit und Raum zu reisen, - eine Funktion, die das world wide web zumindest teilweise erfüllt. Faust schafft es trotzdem nicht: Er bleibt in Äußerlichkeiten befangen und am Ende begnügt er sich mit Expertenwissen, mit dem Bau eines Deichs. Er hat gelernt, sich zu bescheiden. Das Netz nun als moderner Mephisto scheint zunächst der Selbstermächtigung des Bildungssubjekts ungeheure Macht zu verleihen; jeder kann alles wissen. Man kann, wenn man will die Geheimnisse des Nestbaus des Rotkehlchens ebenso ergründen wie die Geologie des östlichen Urals.

    Aber diese Machtfülle bewirkt das Gegenteil: Das Bildungssubjekt scheint es angesichts der Überfülle des zerstreuten Wissens aufgegeben zu haben, des Ganzen mächtig zu werden, und begnügt sich mit Details. Aus der Perspektive des Humanismus hat es sich selbst entmündigt und sich zum Fachidioten degradiert, -zwar zu einem multiplen Fachidioten, aber eben zu einem, der jeweils nicht über den Tellerrand hinaus blicken kann.

    Steht das klassische Bildungssubjekt noch als Einzelnes der Welt gegenüber, so wird es im Zeitalter des Internet demokratisiert, vielleicht auch kollektiviert. Die Individualität der Bildung wird aufgelöst. Das beginnt mit einer gewissen Entmachtung der Experten, von der Ärzte ein Lied singen können. Vor fünfzig Jahren brauchte ein Mediziner nur mit ein paar Fachausdrücken um sich zu werfen, und der Patient als Laie erstarrte vor Gehorsam und gehorchte. Heute ist der Patient belesen und wirft seinerseits dem Arzt Fachausdrücke und Expertenwissen an den Kopf und entmachtet ihn.

    Ähnlich ergeht es mittlerweile auch Rechtsanwälten und Lehrern - eigentlich allen dienstleistenden Experten. Das Netz erodiert die Eliten in dem Maße, wie das Wissen, das die Eliten konstituiert, im Netz zugänglich ist. Wohlgemerkt: Das Wissen in der Form, wie es im Netz präsent ist. Denn nur solches Wissen lässt sich demokratisieren.

    Der Ernst des humanistischen Bildungsbürgers geht über in den Spaß des Netzbürgers. Das Wissen wird unwesentlich, ein subalterner Bestandteil eines zerstreuten Lebens. Wie man ins Fitness-Studio geht, so wird man eben ab und zu im Netz vorbeischauen, um sich über dieses und jenes schlau zu machen. Wissen wird dann nicht mehr bilden, oder eben nur so bilden, wie man seine Muskeln im Fitness-Studio bildet. Bildung als Veredlung des Menschen hat dann ausgedient.

    Nun wird dieser Prozess von manchen als Abnahme des Bildungsniveaus gedeutet, eine Art Verdummung, die gerade stattfindet oder noch stattfinden wird. Wenn man aber vom Bildungsniveau spricht, so setzt das eine Norm voraus, die wiederum einer bestimmten Episteme, einem bestimmten Bildungsanspruch, entspricht. Die Frage ist wohl, wer ein höheres Niveau für sich beanspruchen kann: Jemand, der fünf Sprachen spricht oder ein moderner User, der perfekt mit den Übersetzungsprogrammen im Netz umgehen kann und damit 100 Sprachen einigermaßen übersetzen kann. Klar aber ist: Legt man den tradierten humanistischen Bildungsanspruch zugrunde, so wird die Wissensvermittlung allemal auf ein amerikanisches College-Niveau sinken, das bekanntlich nicht sehr hoch ist.

    Dafür werden Bildungseliten marginalisiert; allein, - wie das zu bewerten ist, muss offen bleiben, denn viel zur Verbesserung der Welt konnten diese Eliten bisher auch nicht beitragen. Insgesamt wird der Mensch als Bildungsträger und damit Bildung überhaupt für die Gesellschaft weniger wichtig werden; nicht Bildung, sondern die Zugänglichkeit des im Netz repräsentierten Wissens wird die wesentliche Rolle spielen. Wir gehen einer wissensreichen, aber ungebildeten Zukunft entgegen.