Archiv


Vom Wahlverein zur Volkspartei

Fünf Jahre bestand die CDU Deutschlands schon in Form von Landesverbänden, als am 20. Oktober 1950 zum ersten Mal die Bundespartei unter Führung des Bundeskanzlers Konrad Adenauer zusammentrat, ganz bewußt nahe der Grenze zur DDR, in der Kaiserstadt Goslar. Die handfeste Politik des Kalten Krieges beherrschte die politische Szene, mehr als die damals schon fast beantwortete Frage, welche geistigen und sozialen Wurzeln die Christdemokraten hatten. Und so sagte der damals schon 74 Jahre alte Adenauer in Goslar kämpferisch in Richtung Moskau und Ost-Berlin:

Peter Quay |
    Fünf Jahre bestand die CDU Deutschlands schon in Form von Landesverbänden, als am 20. Oktober 1950 zum ersten Mal die Bundespartei unter Führung des Bundeskanzlers Konrad Adenauer zusammentrat, ganz bewußt nahe der Grenze zur DDR, in der Kaiserstadt Goslar. Die handfeste Politik des Kalten Krieges beherrschte die politische Szene, mehr als die damals schon fast beantwortete Frage, welche geistigen und sozialen Wurzeln die Christdemokraten hatten. Und so sagte der damals schon 74 Jahre alte Adenauer in Goslar kämpferisch in Richtung Moskau und Ost-Berlin:

    "Deutschland steht unmittelbar der sowjetrussischen Macht gegenüber. Im Falle einer russischen Aggression wären wir das Opfer. Der kalte Krieg wird mit aller Kraft gegen uns geführt. Die fünfte Kolonne steht bei uns überall bereit. Durch eine skrupellose, durch und durch unwahre Agitation sucht man uns, die Verantwortlichen für die Bundesrepublik Deutschland, als Friedensbrecher, als Söldlinge Amerikas hinzustellen."

    Die ersten Schlachten im Bundestag waren zu diesem Zeitpunkt auch ohne die Bundes-CDU schon in Bonn geschlagen worden, etwa das legendäre Scharmützel, als der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher seinen Widersacher Adenauer "Kanzler der Alliierten" nannte:

    Konrad Adenauer: "Sollen wir die ganze Demontage einfach rücksichtslos bis zum Ende gehen lassen? Zu dieser Frage muss die Opposition Stellung nehmen: Ist sie bereit, einen Vertreter in die Hohe Behörde zu schicken oder nicht? Und wenn sie erklärt, nein, dann weiß sie auf Grund der Erklärung, die mir der General Robertson abgegeben hat, dass die Demontage bis zum Ende durchgeführt wird."

    Kurt Schumacher:
    "Der Kanzler der Alliierten."

    "Herr Abgeordneter Dr. Schumacher, für diese Bezeichnung des Bundeskanzlers als Bundeskanzler der Alliierten rufe ich Sie zur Ordnung!"

    Adenauer hatte vor Goslar auch schon für die Zukunft befreiende Worte gesprochen, Worte für die noch nicht wiedergewonnene Souveränität, als er am 23. Mai 1949 das Grundgesetz proklamierte:

    "Das Grundgesetz, das wir beschlossen haben, beruht auf dem freien Willen, auf der freien Entscheidung des deutschen Volkes."

    In Goslar wurde schon von Wiederbewaffnung gesprochen, in welcher Form auch immer, als nationale Truppe oder Teil einer westlichen Allianz. Bei aller Skepsis gegenüber Militär hatten die Fürsprecher der Wiederbewaffnung ein gutes Gewissen, kamen sie doch aus den Reihen der Hitler-Gegner, Christen aus der katholischen und evangelischen Kirche, die das christliche Sittengesetz im Alltag aktivieren wollten, mit dem "C" als erstem Buchstaben im Parteinamen. Sie sprachen sich für eine Partei aus, die alle Konfessionen und sozialen Gruppen zusam-menfaßt, die Klassen und Stände überwinden wollte, eine für jedermann wählbare Volkspartei. Zum Einfluß des "C" auf die Politik meinte 1953 der Kirchenmann Eugen Gerstenmaier, Widerständler und später Bundestagspräsident:

    "Wir hoffen und glauben, dass es Christen, katholische und evangelische Christen, auch in anderen Parteien gibt. Aber das kann uns nicht daran hindern und darf uns nicht davon entbinden, unsere eigene Politik und unseren eigenen Weg bestimmen zu lassen von den Geboten Gottes und von der christlichen Berufung des Menschen und der Welt. Dem Wagnis und dem Irrtum bleibt auch eine Politik ausgesetzt, die sich solchen Maßstäben und Kriterien unterwirft und die darum mit Recht christlich genannt wird. Leider ist es eine nun allmählich notwendig gewordene Feststellung, immer wieder zu sagen, dass die christliche Poli-tik, die wir vertreten, in keinem Sinne Kirchenpolitik ist."

    Und Konrad Adenauer sagte dazu:

    "Meine Damen und Herren, warum Volkspartei? Weil wir keine Klassenpartei sein wollen, weil wir eine Partei sein wollen und sind für alle Glieder unseres Volkes, für alle Schichten, für die beiden Konfessionen, weil wir doch erkannt haben müssen, namentlich diejenigen, die schon mit Bewusstsein erlebt haben, was diese gottlose Zeit des Nationalsozialismus in der Welt zustande gebracht hat, wie sie alles zerschlagen hat, nachdem sie erst in Deutschland alles zertrümmert hat, dass in solch schwierigen Zeiten nur die Grundsätze, die beiden christlichen Konfessionen gemeinsam sind, den Menschen helfen, auf der richtigen Bahn bleiben."

    In Goslar überwog bereits das Bürgerliche in der CDU-Politik. Diskussionen um Vergesellschaftung von Schlüsselindustrien, worüber im Ahlener Programm 1947 und vorher schon in den Kölner Leitsätzen von 1945 gesprochen wurde, waren längst verstummt, obwohl die Mitglieder über das Wesen der Volkspartei weiterhin heftig diskutierten, wie ein Zitat des späteren CDU-Vorsitzen-den und Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger zeigt:

    "Ich habe durchaus die CDU als Partei des kleinen Mannes empfunden entgegen den Feststellungen von Kurt Schumacher, der sagte: 'Dass die CDU zur Regierung gekommen ist, das wird auf dem Buckel des kleinen Mannes ausgetragen werden.' Ich war überzeugt, dass das nicht der Fall sein würde und glaube, daß die Geschichte das auch bestätigt hat."

    Mitte der 50er Jahre entstand die Bundeswehr. Konrad Adenauer schmiedete an den Plänen für Europa, mit dem Franzosen Robert Schumann, mit dem Italiener Alcide de Gasperi und dem Briten Winston Churchill. Mitte der sechziger Jahre sprach Adenauer den legendären Satz, der als sein Europa-Vermächtnis gilt:

    "Aber es gibt Supermächte, und das ist auf der einen Seite die Sowjetunion, auf der anderen Seite die Vereinigten Staaten. Und, meine Freunde, dahinter steht Rotchina. Das sind die Supermächte, gegen die kein europäischer Staat irgendwie ankommen kann, auch politisch nicht, meine Damen und Herren. Und deswegen, damit wir nicht unter den Reibungen, die sich zwischen den Supermächten ergeben, zerrieben werden, wir Europäer, muss Europa endlich geschaffen werden, meine Freunde!"

    In Goslar war die spätere Programmpartei CDU noch ein besserer Wahlverein, umspannt von einem geistigen Band der Lehren, welche die CDU aus der Weimarer Republik gezogen hatte. Die große Tagespolitik wurde jenseits der Partei in der Regierung gemacht. Die CDU selbst war praktisch Regierungs- und Staatspartei. Die großen Themen wurden allein in der Regierung an-gedacht und angepackt, etwa dynamische Rente oder Lohnfortzahlung als Säulen des Sozialstaates. Ganz vorne in der politischen Front stand die Wirtschaftspolitik Ludwig Erhards, die soziale Marktwirtschaft als Gütezeichen der Bundesrepublik in der ganzen Welt. Als Helmut Kohl 1973 die CDU als Programmpartei einrichtete, sagte er in seiner Antrittsrede über Ludwig Erhard und dessen Vermächtnis:

    "...dass er mit dieser menschlichsten, sozialsten und sicherlich, wie der Erfolg dieses Landes zeigt, erfolgreichsten Grundordnung einer modernen Industriegesellschaft uns sein wichtiges Erbe übertragen hat. Aber auch hier gilt das, was ich vorhin in der Erbfolge Adenauers sagte, dass wir heute, wo manch einer unter dem Vehikel einer missverstandenen wirtschaftspolitischen Entscheidung der Gegenwart das System als solches antasten und umfunktionieren will, dass wir hier aufgerufen sind, das, was vernünftig gewachsen ist, zu verteidigen und das, was weiterentwickelt werden muss, auch in den Ordnungsprinzipien dieser sozialen Marktwirtschaft, tatkräftig weiterzuentwickeln."

    In den 16 Jahren Regierung Kohl stand die Partei fest hinter dem Kanzler. Was seine Parteikonkurrenten anging, führte Kohl ein strenges Regiment. Er ließ erst gar keine Konkurrenz aufkommen. Für die wichtigsten Themen der Tagespolitik wie Wiedervereinigung oder Raketenrüstung hatte der CDU-Vorsitzende volle Unterstützung. Er trug die Verantwortung, wie er sagte, und nahm nicht nur Macht wahr:

    "Meine Freunde, jedermann soll wissen, wir drängen nicht an irgendeine Hintertür der Macht. Die CDU/CSU weiß sich aber stets in der Verantwortung für das Wohl unseres Vaterlandes. Macht ist für uns kein Selbstzweck, sondern Aufgabe, um dem Lande zu dienen."

    Im Umgang mit der Sowjetunion bezog Kohl beherzt Stellung, wobei ihn die Partei konsequent unterstützte. Auf dem Mann-heimer Parteitag im März 1981, der der FDP außenpolitisch Übereinstimmung signalisierte und somit ein Stück des Wechsels in Bonn einleitete, las Kohl, heiser von den pausenlosen Redeeinsätzen, dem sowjetischen Generalsekretär Leonid Breschnew die Leviten:

    "Die konventionelle Überrüstung der Sowjetunion und die massive Aufrüstung im atomaren Mittelstreckenbereich ist durch keine reale Bedrohung des Westens gerechtfertigt. Für uns ist deshalb der Vorschlag Breschnews, jetzt ein Moratorium für die Mittelstreckenraketen zu verhängen, nicht akzeptabel, da er nur dazu dient, sowjetische Überlegenheit zu zementieren."

    Die Partei folgte Kohl so gut wie immer. Er überzeugte durch Wahlergebnisse, auch durch den jahrelangen, schwierigen Versuch, die FDP für die Regierungsbildung auf seine Seite zu holen. Kohl konnte noch so große Schwierigkeiten haben, verlorene Zustimmung gewann er immer wieder bei den Parteitagen zurück. Kritiker meinten, die Partei sei viel zu sehr zugeschnitten auf die Person Kohls. Aber keinem gelang es, dem Dauervorsitzenden die Macht zu entreißen. Vor dem Parteitag in Bremen 1989 versuchte es Heiner Geissler zusammen mit einigen prominenten Mitstreitern wie Rita Süssmuth oder Lothar Späth. Geissler mußte sein Amt als Generalsekretär abgeben, weil er dem Führungsprinzip von Kohl widersprach. Geissler stand auf dem Standpunkt, Kohl solle regieren und dem Generalsekretär die Programmdiskussion, die Weiterentwicklung der Partei überlassen. Nach seiner Entlassung umschrieb Geissler die partei-typische Situation:

    "Ich sehe in dieser Entscheidung ein Signal in die falsche politische Richtung. Ich habe mich immer dafür eingesetzt, dass die christlich-demokratische Union auch in einer Regierungskoalition ihr eigenständiges Profil als Volkspartei der Mitte bewahrt. Und es ist nach dem Willen der Partei auch immer die Aufgabe des Generalsekretärs gewesen, dafür zu sorgen, dass die christlich-demokratische Union eine eigenständige Partei in einer Regierungskoalition bleibt und nicht zu einem Erfüllungs-gehilfen der Regierungsarbeit wird. Ein falsches Signal auch deswegen, weil es unbestritten ist, dass ich mich immer dafür eingesetzt habe und die Auffassung vertreten habe, dass die CDU nur dann eine Chance hat, in Zukunft mehrheitsfähig bleibt, wenn sie modern und aufgeschlossen bleibt für moderne Fragen und ihre Antworten, wieder zum Ansprechpartner wird für junge Menschen, für Arbeitnehmer und Frauen, mehr, als dies in vergangenen Zeiten in den Wahlen zum Ausdruck gekommen ist."

    25 Jahre führte Kohl die CDU, und er hätte noch weitergemacht, wenn er nicht im September 1998 als Kanzler abgewählt worden wäre. Sein Nachfolger als Parteivorsitzender, Wolfgang Schäuble, hatte die Partei aber trotz des Wahldebakels schnell wieder im Griff. Dann kam der Herbst 1999 und deckte auf, daß Kohl jahrelang über die Gesetze hinweg Spendengeld dazu benutzt hatte, um sich bei Parteigruppen beliebt zu machen, eine Methode, die heute die Bezeichnung "Das System Kohl" trägt. Die Partei fiel in ein tiefes Loch, nachdem sich vor Bekanntwerden des Finanzskandals sogar die Chance für die CDU/CSU geboten hatte, in mehreren Bundesländern die Regierung zu übernehmen und den Bundesrat für die Union zu majorisieren. Der Skandal um Kohls Finanztechniken brachte auch Schäuble politisch um. Er resignierte, trat vom Parteivorsitz zurück und arbeitete darauf hin, die Nachwuchspolitikerin Angela Merkel als erste Frau auf den Thron des Parteivorsitzenden zu bringen. Am Ende seiner kurzen Vorsitzenden-Laufbahn sagte Schäuble:

    "Die Partei ist keineswegs am Boden, sondern sie lebt. Die Leute wollen sehr offen diskutieren, sie sind sehr engagiert. Sie sind problembewusst, haben sich viele Sorgen gemacht, aber sie sind vom festen Willen getragen, aus dieser Krise heraus die Chance zu nutzen, voranzukommen. Das ist sehr positiv."

    Nach dem Rücktritt Schäubles hatte sich die junge Garde der CDU durchgesetzt, die meinte, alle Politiker der Ära Kohl sollten sich aus Spitzenpositionen zurückziehen. Da war ihnen selbst das politische Ende Wolfgang Schäubles recht. Im April dieses Jahrs wurde Angela Merkel auf dem Parteitag in Essen gewählt. Sie verkündete ihr Programm:

    "Ich will eine CDU, die die Ethik der sozialen Marktwirtschaft unter globalisierten Bedingungen weiterentwickelt. Ich will eine CDU, die es schafft, auch unter diesen Bedingungen Markt und Menschlichkeit zu versöhnen. Ich will eine CDU, die auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes die Menschenwürde zu ihrem Maßstab bei der Bewertung technologischer Risiken macht. Ich will eine CDU, die der Generationengerechtigkeit bei der Weiterentwicklung der sozialen Sicherungssysteme zum Durchbruch verhilft. Ich will eine CDU, die für ein Europa der Bürger eintritt. Ich will eine CDU, die dem einzelnen Bürger Freiräume läßt und die ihm dort, wo der Bürger ihn braucht, einen starken Staat zur Seite stellt. Ich will eine CDU, die die kleinen Einheiten unterstützt, ein Bekenntnis zur Nation, zur Heimat, zur eigenen Identität, das ist die Voraussetzung, sich in der Welt zurechtzufinden. Ich will eine CDU, die für ein Deutschland eintritt, das ein tolerantes Land unter anderen ist, das sich nicht aufspielt und das nicht sein Licht unter den Scheffel stellt. Ich will eine CDU, deren Mitglieder in die Meinungsbildung einbezogen werden, die selbstbewußt sind und diskutieren. Aber ich will auch eine CDU, die nach Debatten und Diskussionen klare Entscheidungen trifft, Mehrheitsentscheidungen akzeptiert und auf dem gemeinsamen Weg vorangeht."

    Weil auch mit Friedrich Merz ein Neuling die Fraktionsführung der CDU/CSU übernommen hatte, lag die CDU-Führung praktisch in der Hand von Anfängern, die im Gegensatz zu Kohl und Schäuble nicht auf lange politische Erfahrung zurückgreifen können. Als wäre die Partei wieder an einem Anfang, hoffen jetzt Mitglieder und Wähler wie damals in Goslar auf eine erfolgreiche Zukunft, diesmal aber gegenüber 1950 aus der Opposition heraus. Die ersten Ereignisse im politischen Alltag haben gezeigt, daß es einen riesigen Unterschied gibt zwischen den Wunschvorstellungen der jungen CDU-Garde und der politischen Realität.