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Vom Wert des Versprechens
"… und wird auch nicht gebrochen"

Ich werde dir die Treue halten. Ich bin pünktlich zu Hause. Ich werde meinem Volk dienen. Versprechen sind manchmal pathetisch, manchmal banal. Religionen kommen nicht ohne feste Zusagen aus. Auch die Philosophie behauptet Großes: Der Mensch, der Versprechen geben dürfe, sei "der Sinn der Menschheitsgeschichte", sagte Friedrich Nietzsche. Was zählt das Versprechen in flexiblen WhatsApp-Zeiten?

Von Irene Dänzer-Vanotti | 04.05.2016
    Einen "langen Willen" bekunden: das Eheversprechen
    Einen "langen Willen" bekunden: das Eheversprechen (Jens Kalaene / picture alliance / dpa)
    "Ich hole dich um fünf Uhr ab!" - "Ich erzähle es ganz bestimmt nicht weiter!" - "Ich verlasse die Sitzung um acht Uhr!" - "Ich passe auf deine Tochter auf!" - "Ich helfe dir beim Umzug!" - "Ich komme nach der Schule gleich nach Hause!" - "Wir werden die Renten erhöhen!"
    Versprechen. Sie sind nur ein Satz, manchmal nur ein Wort: "Ja!"
    Jedes Versprechen schlägt eine Brücke in die Zukunft vom Moment der Zusage bis zur Zeit der Erfüllung in den nächsten Stunden, Tagen, vielleicht während des ganzen Lebens.
    Jeder Mensch gibt Versprechen, jeder Mensch hört Versprechen, verlässt sich auf Versprechen. Erstaunlicherweise haben sich unter den Philosophen nur Friedrich Nietzsche und Immanuel Kant mit Versprechen beschäftigt. In der Bibel verspricht Gott den Menschen ewige Präsenz und Nähe:
    "Ich will dich nicht verlassen. Sei getrost und unverzagt, denn der Herr, Dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst."
    Das sagt Gott zu Joshua, bevor er das Heilige Land betritt, und auch dem Propheten Jeremia verspricht er Schutz im Angesicht seiner Feinde.
    "Fürchte dich nicht vor ihnen, denn ich bin bei dir und will dich erretten."
    Die eigene Identität stärken
    Gottes Versprechen klingt unabdingbar. Keine Irritation kann es stören. Manche Menschen sehen ihre eigenen Versprechen - vor allem die großen - als Versuch, Gottes Versprechen in Gegenwart und Alltag zu versetzen. So lässt sich das Versprechen deuten, das eine Frau, einer Nachbarin gab:
    "Wenn Sie gestorben sind, werde ich Ihr Grab pflegen!"
    Damit hat sie den Philosophen Gerd Achenbach berührt. Er sah sie in einer Reportage im Fernsehen über eine Frau, die aus der DDR in den Westen gekommen war und dort einsam lebte und einsam starb. Dennoch ruhte sie in einem reich geschmückten Grab. Die Reporter hatten sich auf die Spur dieses seltsamen Zusammenhangs begeben. Gerd Achenbach sagt:
    "Sie erkundigen sich und erfahren von einer anderen Frau, die das pflegt. Und die fragen sie nun: 'Warum halten Sie dieses Grab - und schon seit einigen Jahren - so wunderbar in Ordnung? So liebevoll, mit Blumen, Pflanzen und allem.' Da guckt diese Frau dieses Team vom Fernsehen ganz erstaunt an, als wenn sie die Frage kaum versteht und sagt: 'Das habe ich ihr doch, als sie starb, versprochen.' Und das war die ganze Auskunft: 'Ich habe es ihr versprochen.' Also gibt’s da weiter gar nichts zu überlegen."
    Dank Smartphone lassen sich heute viele Versprechen ganz schnell wieder lösen
    Dank Smartphone lassen sich heute viele Versprechen ganz schnell wieder lösen (picture alliance / dpa / Britta Pedersen)
    Nicht für diese Frau. Dabei könnte sich doch eine kleine Alltagsfeigheit in ihren Geist einschleichen: Mein Versprechen kontrolliert doch niemand! Wer merkt denn schon, ob das Grab gepflegt ist? Eine Person merkt es - und das fasziniert Gerd Achenbach nun wieder:
    "Sie hat der Verstorbenen oder der damals Sterbenden ein Versprechen gegeben, und das hieß für sie selber: Sie hat es sich versprochen. Das heißt: Sie hat sich damit verpflichtet und sie hält sich nun daran. Jetzt kann man auch schon ahnen, warum. Ob das jetzt die Worte richtig gut treffen, weiß ich nicht, aber sagen wir mal so: Sie wird wohl dieses Versprechen halten müssen, um sich selber treu bleiben zu dürfen."
    Im freiwillig gegebenen Versprechen liegt das Geheimnis, sich selbst eine Erlaubnis zu geben, sich treu und damit erkennbar zu sein, eine Identität, einen Charakter entwickelt zu haben.
    "Das Eheversprechen: Ein langer Wille"
    "Zum Versprechen gibt es ein sehr berühmt gewordenes Philosophen-Wort, was sozusagen unbedingt zitiert werden muss", sagte Gerd Achenbach.
    Es stammt von Friedrich Nietzsche und führt in die größtmögliche Vorstellung vom Menschen. Für Nietzsche ist der Mensch, der ein Versprechen geben darf, nichts Geringeres, als -
    "... der Sinn der gesamten Menschheitsgeschichte - ich betone das, er macht's auch so betont - der Sinn der ganzen Menschheitsgeschichte."
    Indem er verspricht, erhebe sich der Mensch über die Vergesslichkeit. Nietzsche schreibt: "Wie muss er dazu selbst vorerst berechenbar, regelmäßig, notwendig geworden sein, um endlich, wie es ein Versprechender tut, für sich als Zukunft gutsagen zu können!"
    Für Friedrich Nietzsche schlägt der Mensch, der ein Versprechen gibt, nicht nur eine Brücke in die Zukunft. Er sieht sich vielmehr bereits in der Zukunft, als Mensch, von dem er selbst weiß, wie er handeln wird. Und deshalb können sich auch andere auf ihn verlassen.
    Der Philosoph und Begründer philosophischer Lebensberatung in der Neuzeit, Gerd Achenbach: "Denn: Wenn jemand ein Versprechen gibt, aber nicht die Gewähr bietet in dem Sinne der eben genannten Frau, sich selber Treue halten zu können, dann hat er zwar ein Versprechen gegeben, aber er hätte es nicht gedurft. Denn er konnte es nicht halten.
    Das Versprechen ist so etwas wie ein langer Wille. Ich will. Zum Beispiel, der berühmteste Fall des Versprechens ist das Ja-Wort vorm Altar."
    Ein Versprechen mit Gottes Hilfe
    Hochzeit von Tabea Wenzel und Charlie Beer. Sie ist Deutsche, arbeitet in der Leitung einer Flüchtlingsunterkunft, er ist Engländer und studiert evangelische Theologie. Ihre Hochzeit soll, komme was wolle, der Beginn eines gemeinsamen Lebens sein.
    "Wenn ich etwas verspreche, dann versuche ich alles, das einzuhalten. Für mich ist es so, dass es viel braucht, dass ich etwas verspreche, denn wenn ich etwas verspreche, dann setze ich alle meine Kraft darein, das einhalten zu können.
    Aber klar, in der Perspektive darauf, ich will mein Leben mit Dir verbringen, war das sicherlich das langfristigste Versprechen, was ich bisher gegeben habe", sagt Tabea Wenzel.
    "In guten wie in schlechten Tagen," - "ob unsere zukünftigen Umstände gut oder schlecht sein werden," - "ob wir reich oder arm sind, krank oder gesund" - "Mit Gottes Hilfe verspreche ich, dich zu lieben, dir zu dienen, dich wertzuschätzen und zu beschützen und dich in den Gaben, die Gott dir gegeben hat, zu unterstützen."
    Tabea Wenzel sagt: "Wir haben es ja vorher geübt und geprobt, aber in dem Moment habe ich das viel bewusster wahrgenommen, als ich das gesprochen habe. Das war für mich tatsächlich so, als ob ich es zum ersten Mal gesagt habe und realisiert habe in dem Moment: das verspreche ich gerade und das sage ich gerade - das hat mich auch noch einmal neu überrascht an der Szene."
    Ein Versprechen geben und es gleichzeitig von dem geliebten Menschen hören - Charlie Beer war beides gleich wichtig. Er sagt: "Das ist richtig schön, dass jemand dich vertraut und dich etwas geben will und das hilft dir selbst mit deinem eigenen Verständnis von deiner Identität, dass jemand anders dich nimmt, wie du bist, aber es ist auch schön, jemand anders von dir selbst etwas zu geben. Diese beiden Teile sind beide genauso wichtig."
    Tabea Wenzel sagt: "Für mich war an dem Tag tatsächlich mehr, das selber zu geben."
    Wir verpflichten uns heute, einander zu lieben und Gott treu zu dienen, in allen Aufgaben, die er für uns bereithält. Tabea Wenzel sagt: "Das ist eine gute Frage: was bin ich für ein Mensch, dass ich so ein Versprechen geben kann? Klar kann man in dem Moment sagen: mutig, oder verliebt oder idealistisch.
    Aber ich glaube, in dem Fall ist es wirklich ein Versprechen, das ich in Ungewissheit gegeben hab, weil ich eben glaube, dass ein Versprechen nicht situationsabhängig ist und nicht wandelbar ist, im Sinne von, wenn es heute gut läuft, dann kann ich es halten und wenn's morgen nicht passt, dann denke ich noch einmal darüber nach.
    "Größer ist als das, was die menschliche Kraft hervorbringen kann." Das gilt wohl auch für die Priesterweihe
    "Größer ist als das, was die menschliche Kraft hervorbringen kann." Das gilt wohl auch für die Priesterweihe (Marc Herwig / picture alliance / dpa )
    Das ist ja genau der Bestandteil von einem Versprechen, dass man es auf Ungewissheit hin gibt und davon bin ich überzeugt, dass ich dieses Versprechen nur geben kann, weil ich glaube, dass es jemanden gibt, der größer ist als das, was meine menschliche Kraft hervorbringen kann und ich so ein Versprechen eben nur unter der absoluten Voraussetzung geben kann, Gottes Hilfe in mir und an meiner Seite und eben auch in unserer Beziehung zu haben."
    Inneres Orakel
    Die Bibel erzählt nicht allein von Gottes Versprechen an einzelne Menschen wie Joshua oder Jeremia. Sie berichtet von seinem Versprechen an die ganze Menschheit, von seinem Bund. Nach der Sintflut sagt er den Wesen auf der Erde zu:
    "Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht."
    Vor diesem Hintergrund wagen Tabea und Charlie ihr Versprechen zu geben, das ihr weiteres Leben bestimmen soll.
    Sie sind keine Ausnahme. Mehr als die Hälfte, etwa 60 Prozent aller Ehepaare, lassen ihr Eheversprechen ihr Leben lang gelten. Dennoch gilt diese Zusage nicht mehr als einziges Kriterium.
    "Stattdessen beruft man sich auf das innere Orakel", sagt Gerd Achenbach.
    Nietzsche nennt das viel schöner: "Der moderne Mensch ist gebunden an den Pflock des Augenblicks."
    Darüber spricht Gerd Achenbach in seiner Philosophischen Praxis in Bergisch Gladbach mit Klienten: sollen sie einem Versprechen treu bleiben? Oder: Wollen sie nicht doch eher dem Impuls von Wünschen und Sehnsucht folgen? Sich an den Pflock des Augenblicks ketten?
    "Das innere Orakel ist mein jetziges, augenblickliches Empfinden, mein gegenwärtiges Gefühl. Und das wird wichtiger genommen als das, was ich im Vollbewusstsein meiner Verstandeskräfte und meines Willens zugesagt habe."
    "Die Sitzung dauert noch bis zehn. Mindestens. Melde mich wieder. Tschüss Schatz. LG." - "Bleibe noch bei Tobi. Hol' mich später ab." - "Steh' im Stau. LG." - "Kann heute doch nicht auf deine Tochter aufpassen. Total wichtiges meeting. Sorry. LG."
    Das innere Orakel als Kompass hat - zumindest für Alltagsentscheidungen - das ideale technische Hilfsmittel gefunden: die SMS oder Whatsapp, die Text-Nachricht auf dem Handy. Von überallher lässt sich überallhin verkünden, dass man einen Plan geändert hat, Versprechen hin, Versprechen her. Die Wartenden wissen wenigstens Bescheid. Das Gewissen ist beruhigt. Wie tief es still hält, ist wohl von Mensch zu Mensch verschieden.
    Und dann ist auch zu sagen: Niemand hält alle seine Versprechen, weder die kleineren noch die ganz großen. Das Versprechen ist das Standbein des Lebens - aber man steht nur gut, wenn man auch ein Spielbein hat. Ohne etwas auszuprobieren, was nicht auf lange Zeit festliegt, bildet sich keine Persönlichkeit. Wie es die Sängerin Annett Louisan besingt:
    "Eine feste Beziehung ist ein sicherer kleiner Hafen aber andere Menschen wollen doch auch mal mit einem schlafen."
    Den Augenblick verschenken, keine Brücke in die Zukunft bauen. Denn da, wo deren Pfeiler stehen, wartet der zuverlässige - und manchmal lästige - Hüter. Gerd Achenbach: "Das Gewissen ist der Hüter des Versprechens. Man könnte sagen, das Gewissen, diese innere Stimme - die übrigens schon der alte Römer Seneca die Stimme Gottes in uns genannt hat - also, diese Stimme könnte man auch nennen den Wächter unserer Versprechen."
    Alles im Fluss
    "Für mich geht diesem Versprechen ja eine innere Entscheidung voraus. Das war für mich ein langer und auch sehr mühsamer Weg."
    Bis Klaus Werner Stangier sich entschied, katholischer Priester zu werden. Das Versprechen, das ihm dabei abverlangt wurde, hat mehrere Elemente. Sein Leben lang sexuell enthaltsam zu bleiben, nicht zu heiraten - das zu versprechen, konnte sich der 25-jährige Klaus Werner zunächst nicht vorstellen, rang sich aber dazu durch. Dass er dagegen die Aufgaben eines Priesters erfüllen würde, war als Versprechen schon in ihm angelegt. Dies auch öffentlich zu bekunden, war für ihn selbstverständlich:
    "Ich war voller Idealismus. Priestersein hatte für mich immer etwas zu tun damit, Menschen und mich selbst zu begleiten in ihren Fragen nach Gott und auf dem Weg mitzugehen, wenn diese Frage eine Rolle spielt."
    Nach und nach gelangte Klaus Werner Stangier aber zu einem neuen Weltbild: Im Leben ist alles Fluss, alles wandelt sich. Ein Versprechen setzt eine Markierung in diesen Fluss - aber diese Markierung kann vom Strom mitgerissen werden. Besonders stark empfand Stangier das, als er seine Seele erforschte, sich in Therapien begab und den buddhistischen Weg des Zen, der Achtsamkeit, entdeckte. Jetzt nahm er seine Empfindungen ernster und sah auch in ihnen Gottes Wirken. Deshalb hielt er es nach einem längeren Prozess für angemessen, das Versprechen, das er als junger Mann gegeben hatte, zu lösen. Der Zölibat schien ihm zudem sinnloser denn je.
    "Ein zentrales Thema war für mich die Beziehung zur Frau, zu meiner Sexualität, wo ich immer wieder die Erfahrung gemacht habe, wie ansprechbar ich bin, wie lebendig ich war als junger Mann. Da ist das auf den Punkt hinaus gelaufen, wo ich vor der Entscheidung stand, lebe ich jetzt nach außen eine Fassade, die ich innerlich nicht fülle, oder ziehe ich da eine Konsequenz und mache deutlich, wie ich leben möchte."
    Das innere Orakel des jungen Priesters Klaus Werner Stangier wehrte sich aber auch dagegen, dass er von seinen seelischen und sogar spirituellen Erfahrungen in der Kirche nicht predigen konnte.
    "Wo ich zunehmend merkte, das ist nicht mehr meine Welt."
    Er verdiente sein Geld als Lehrer. Bis er sein Versprechen, Priester zu sein, gelöst hat, durchlebte er mehrere Phasen: Hoffnung, Trauer, Besserwissen, Übermut und Wut.
    Ein Versprechen verantwortungsvoll zu lösen braucht, sagt Klaus Werner Stangier, ähnlich viel Aufmerksamkeit, wie es zu geben. Dazu gehört auch, bewusst zu verzichten.
    "Der Preis, den ich gezahlt habe, ist, dass ich Formen des Zusammenseins mit Menschen, die ich sehr geschätzt habe, Kranke zu besuchen oder Sterbende zu begleiten, Kinder zu taufen, bei der Trauung zu assistieren, Eucharistie zu feiern, zu predigen, all diese Formen habe ich sehr geschätzt und schätze ich immer noch und darauf zu verzichten, sehe ich auch als Preis, den ich zahle dafür, dass ich mich auf eigene Füße gestellt habe. Von daher ist das Thema nicht zu Ende."
    Zumal er den persönlichsten Teil des Versprechens nie verraten hat. Stangier blieb und bleibt seiner Aufgabe treu, Menschen in ihren Erfahrungen mit Gottes Wirken zu begleiten.
    "Ich sehe mich als Teil einer Bewegung, die viel größer ist als mein persönliches Schicksal, wo es darum geht, für ein neu sich entwickelndes religiöses Bewusstsein eine Form und eine Sprache zu finden. Ich sehe meinen Weg nach dem Bruch des Versprechens als einen Beitrag zu dieser Suche."
    Verlässlichkeit - in der Öffentlichkeit wie im Privaten
    Es gibt eine ganz schlichte Regel für Versprechen: "Verspreche nur das, was du auch glaubst halten zu können."
    "Plötzlich wird aus einem Wahlprogramm ein gebrochenes Versprechen"
    "Plötzlich wird aus einem Wahlprogramm ein gebrochenes Versprechen" (Fredrik Von Erichsen / picture alliance / dpa)
    Für Versprechen an die Öffentlichkeit scheint das nicht immer zu gelten. Die Versprechen der Politik wirken mal leichtfertig, mal berechnend, mal schlicht falsch.
    "Und aus diesem Dilemma kommt man in der Politik schlecht heraus." Renate Schmidt war Bundesministerin, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, ist evangelisch und eines ihrer Versprechen, den Amtseid, gab sie sehr bewusst: "Auch vor Gott."
    Heute ist sie Politik-Pensionärin und blickt auf ihre Versprechen zurück.
    Man vertritt etwas und sagt, wenn alle Umstände günstig sind, dann werden wir das und das machen. Nun sind aber die Umstände nicht immer günstig, und dann wird plötzlich aus einem Wahlprogramm ein gebrochenes Versprechen.
    Und dann helfe auch der Öffentlichkeit gegenüber, das, was bei allen Versprechen gilt: "Und an dieser Stelle ist dann auch für mich der Punkt, wo man sich selber prüfen kann: Kann ich das, was hier aktuell geschieht, jemandem erklären, ohne dabei rot zu werden oder ins Stottern zu kommen? Das ist für mich immer so die Prüfung auf Wahrhaftigkeit. Wenn ich das jemandem so erklären kann, wird dieser Mensch es verstehen, und wird mir das abnehmen. Wenn ich's aber nicht mehr erklären kann: sowas darf eigentlich nicht passieren."
    Den Maßstab dafür setzt die letzte innere Instanz. Renate Schmidt sagt: "Ich glaube, das höchstpersönliche Gewissen, das ist immer das Ausschlaggebende."
    Aber selbst Renate Schmidt, die viele öffentliche Ämter bekleidete, findet offenbar das Ringen um Wahrhaftigkeit in der Öffentlichkeit noch einfacher als Verlässlichkeit im persönlichen Kreis.
    Ein gebrochenes Versprechen verfolgt Renate Schmidt noch nach Jahren. Als ihre drei Kinder noch kleiner waren und ihr erster Mann noch lebte, hatte sie leichtfertig den Termin ihres Familientages für eine Parteisitzung vergeben.
    "Ich vergesse nie, wie mich dann mein Mann angeschaut hat, und dann hat er gesagt: 'Also, weißt du was: Wenn dir der Ortsverein Kleinkleckersdorf wichtiger ist als deine Kinder und deine Familie, dann brauchst du eigentlich hier gar nicht mehr aufzukreuzen.' Und da hat er Recht gehabt: Das hab ich nie mehr gemacht."
    Das Versprechen: der lange Wille. Der Strahl, den jeder Mensch immer wieder in die ungewisse Zukunft sendet und sich selbst damit erkennbar macht. Gebrochene Versprechen können noch jahrelang quälen. Vielleicht weil Verlässlichkeit einen Menschen erkennbar macht als einen Menschen, der mit sich selbst zufrieden ist. Das jedenfalls fand ein anderer Philosoph: Immanuel Kant, wie Gerd Achenbach sagt:
    "Von einem Menschen sagen, er sei ein Charakter, heißt schon so viel wie ihn loben. Denn: Es ist ein Mensch, bei dem wir angesichts dessen, was uns gewärtig ist, wissen, was wir von ihm zu erwarten haben. Und sehen Sie, was darin steckt: das Versprechen."