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Vom Wirtschaftswunder vergessen

Die südchinesische Provinz Yünnan bekommt vom chinesischen Wirschaftswunder bislang wenig mit. In den meisten Dörfern herrscht bittere Armut. Nur die Provinz-Hauptstadt Kunming ist sichtbares Beispiel für den Wirtschaftsboom. Zahllose Wanderarbeiter haben die Stadt in den letzten Jahren in rasantem Tempo hochgezogen. Die Hoffnung der Billiglöhner, vom wirtschaftlichen Aufschwung zu profitieren, hat sich aber kaum erfüllt. Renate Eichmeier berichtet.

    Auf den Märkten in Kunming herrscht quirliges Leben. Fliegende Händler bieten Lychees an oder Melonen. In kleinen Straßenküchen gibt es gefüllte Teigtaschen und andere Köstlichkeiten. Kunming ist die Hauptstadt der südchinesischen Provinz Yunnan. Malerisch liegt die Drei-Millionenstadt umgeben von Bergen auf einem Plateau in 2000 Meter Höhe.

    "Ich denke, es passiert jetzt sehr viel in Kunming. Ich bin vor sechs Jahren hierher gekommen. Damals war es hier staubig und schmutzig und rückständig."

    Die Engländerin Hilary Wheadon arbeitet als Lehrerin in Kunming. Von einer Rückständigkeit ist heute nichts mehr zu merken.

    "Nach meiner Ankunft haben sie Kunming komplett verändert, neu konzipiert. Sie haben die Straßen verbreitert und leider viele der alten Häuser abgerissen. Sie haben das Aussehen von Kunming in nur eineinhalb Jahren total verändert. Wir hatten vier Millionen Arbeiter hier. Und als die Arbeit getan war, wurden alle in die Dörfer zurückgeschickt."

    Die Arbeit für den rasanten Aufbau in China leisten in erster Linie Menschen aus ländlichen Gebieten, die sich als billige Wanderarbeiter verdingen. In der Provinz Yunnan leben gut ein Drittel der 48 Millionen Einwohner als Bauern in kaum vorstellbarer Armut. Die meisten der Bauern sind keine Han-Chinesen, sondern gehören ethnischen Minderheiten an: den Bulang, den Dai, den Naxi und vielen anderen.

    "Über viele Jahrzehnte hat man den Minderheiten keine Aufmerksamkeit geschenkt und sie in die Gebirgsgegenden abgedrängt. Hier in Yunnan haben wir 25 ethnische Gruppen, 24 Minderheiten und die Han-Chinesen. Die Minderheiten leben am Existenzminimum in den ärmsten Gebirgsregionen. Sie brauchen Schulbildung, um sich in die moderne Gesellschaft zu integrieren. Wir glauben, dass Bildung das wichtigste ist, was wir ihnen geben können, weil sie dann ihre eigene Wahl haben. Wo es keine Bildung gibt, gibt es keine Wahl. Man bleibt, wo man ist."

    "Schulen für Yunnan" heißt das Projekt, das Hilary Wheadon in Zusammenarbeit mit chinesischen Stellen ins Leben gerufen hat. Mit Spenden aus Europa und Nordamerika finanziert sie den Bau von Schulen in den Dörfern. Und durch Stipendien ermöglicht sie Jugendlichen den Besuch weiterführender Schulen in den Städten. Projekte wie dieses sind möglich, seit vor einigen Jahren plötzlich Interesse an den Minderheiten aufkam.

    "Vor fünf, sechs Jahren kam plötzlich großes Interesse an den Minderheiten auf. Und die Regierung hat gesagt: Wir müssen die Minderheiten erhalten, wir müssen ihre Kulturen erhalten und sicherstellen, dass sie nicht verschwinden. Die Regierung hat erkannt, dass es sich um eine Ware handelt, die man touristisch gut verkaufen kann."
    Mit der touristischen Vermarktung der ethnischen Minderheiten sucht die ländlich geprägte Provinz Yunnan Anschluß an das chinesische Wirtschaftswunder.

    "Ich glaube, die Minderheiten haben sich zwar ihre Eigenheit erhalten und sind noch sehr stark. Aber der Tourismus ändert das. Die echten Trachten sieht man nicht mehr. Das ist wirklich traurig. Denn sie sind viel schöner gewesen. Sie haben sie geändert und sie haben sie bunter gemacht. Das kommt alles von der Regierung in Peking oder von der Provinzregierung. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll."